Kasperle-Theater auf großer Bühne

Kasperle-Theater auf großer Bühne

„Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ in Frankfurt
Szenenfoto aus „Der diskrete Charme der Bourgeoisie

Endlich wieder Theater. Richtiges Theater, auf der großen Bühne des Schauspiels Frankfurt, mit vielen Zuschauern. Man kann sich mit dem „diskreten Charme der Bourgeoisie“ gut unterhalten, es gibt viel zu sehen und wenig Grund zum Ärgern. Denn die zwei Stunden, ohne Pause, gehen schnell vorbei. Was bleibt: Das sind Fragen, stellt Martin Lüdke fest.

Claudia Bauer bringt den „diskreten Charme der Bourgeoisie“ nach Frankfurt

Eine fast perfekte, flotte Inszenierung. Aber eine Farce. Nur eine Farce? Jedenfalls prächtig inszeniert. Eine Truppe affig herausgeputzter Akteure, die noch in Faschingslaune ein bisschen Radau machen, auch wenn sie nie zu ihrem Ziel, zum Essen kommen. Dafür kommt ein ganzes Haus, und zwar buchstäblich, auf der Drehbühne, in Bewegung. Claudia Bauer hat Buñuels sprichwörtlich berühmten Film mit Witz und Wucht, ja, wie man sagen sollte, mutig, eher übermütig auf die Bühne gebracht. Andreas Auerbach, der Bühnenbildner, hat dafür einen genau passenden Raum, genauer gesagt, ein ganzes Haus, auf der Drehbühne gezaubert. Das Haus öffnet sich nach vorn und nach hinten und klappt schließlich auch zur Seite auf. Das Trüppchen Bürger, die sich als „Kochgruppe“ zur Zubereitung und dem sich anschließendem Verzehr des Gekochten treffen wollen, spielt ein Stück, in dem es nicht viel zu spielen gibt. Es bleibt, und das wiederholt, wie einst bei Buñuel, bei der Absicht zum Essen. Man trifft sich – und läuft ins Leere. Man hatte einst, vor exakt fünfzig Jahren, Buñuels Film sogar mit einem coitus interruptus verglichen. Was insofern problematisch war, als die Unterbrechung bereits das Vorspiel beendete.

Einst der berühmte Film. Durchaus eine Parabel auf das Ende einer Gesellschaftsformation. Jetzt das Stück auf der Bühne.
Getreu der Hegelschen Einsicht, dass sich alle weltgeschichtlichen Ereignisse zweimal ereignen. Marx ergänzte Hegel treffend: „einmal als Tragödie, einmal als Farce“.

Die Tragödie haben wir hinter uns. Sie betraf die bürgerliche Gesellschaft, die längst zu Grabe getragen wurde. Jetzt sehen wir die Farce, die allerdings, was die Verantwortlichen der Frankfurter Inszenierung nicht einmal ahnen konnten, zur Tragödie ausschlagen könnte. Doch die diversen Gespräche über „Gin“ und „Gurken“ sind nicht mit Putin und dessen Krieg in der Ukraine gegenzurechnen.

Am Tag, an dem de Gaulle starb, im November 1970, beendete Luis Buñuel einst die Dreharbeiten an seinem Film, der dann zwei Jahre später in die Kinos kam. Nach Abschluss der Arbeit, so Bunuels Absicht, wollte er sich mit seinem Team aber noch um den Titel kümmern. Dass dafür „Nieder mit Lenin oder Die Jungfrau in den Pferdestall“ vorgesehen war, nimmt dem schließlich akzeptierten Vorschlag „Der Charme der Bourgeoisie“, auf Wunsch des Drehbuchschreibers Mathieu Carrière noch um das Adjektiv „diskret“ ergänzt, einiges von seiner geschichtsphilosophischen Wucht. Und dennoch war und ist der Film Buñuels ein ebenso lust- wie kraftvoller Abgesang auf eine einst herrschende Klasse, die heute ersichtlich nicht mehr so recht zu Potte kommt. Buñuels eigener, noch surrealistisch inspirierter Deutungsversuch zeigt nur, dass auch nicht alle Zeitgenossen des Pariser Mai ’68, ebenso wenig wie die Beteiligten schon damals genauer wussten, was die Stunde geschlagen hat. Eine Epoche wurde zu Grabe getragen. Die Trauer hielt sich in Grenzen.

Dass Buñuel die verschiedenen Möglichkeiten der Wahrnehmung durcheinander wirbelt, Traum und Realität, Wunsch und Wirklichkeit zunehmend konsequenter miteinander vermischt, das ändert nichts an diesem Befund. Denn, um die Sache zuzuspitzen, auch der Surrealismus ist schließlich ein Realismus.

Szenenfoto | © Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Frankfurt

Und nun? Gute fünfzig Jahre später. Die Autoren PeterLicht und SE Struck haben diesen Stoff, fast im wörtlichen Sinne, wieder ausgegraben und zu einer Farce verarbeitet. Das Buñuelsche Drehbuch war nirgends mehr auffindbar. Deshalb wurden die Dialoge mühsam transkribiert und anschließend von den beiden Autoren Licht & Struck ergänzt, erweitert und an den vielen aktuellen Anspielungen abzulesen, in unsere Gegenwart transportiert.
Warum? Eine gute Frage.
Zugegeben, es stehen heute viele sogenannte Kochgruppen um den Herd. Essen steht nämlich, mehr denn je, hoch im Kurs. Doch die Freizeitköche, die da Zwiebeln schneiden und Kartoffeln schälen, sind die Erben genau der ehemaligen Kleinbürger, die damals Austern aßen und Angst hatten vor dem Roten Dany und seiner Revolte. Zur Zeit leiden sie noch keine Not, auch wenn sie über die Benzinpreise stöhnen.
Das heißt: die Aktualisierung der Buñuelschen Vorlage zielt ins Leere. Sie findet keine Adressaten.

Corona ist eine Naturkatastrophe, vergleichbar der, heute kaum noch erinnerten, Spanischen Grippe, an der übrigens mehr Menschen starben als an den Folgen des Ersten Weltkriegs. Eben eine Naturkatastrophe, Schicksal. Basta. Abhaken!
Von Putins Krieg war zu Beginn der Proben zu dieser Inszenierung wahrlich noch NICHTS zu ahnen. Wie sehr dieser Krieg auch unser Weltbild verändern wird, ist zur Zeit NUR zu ahnen.

Gesellschaftliche Entwicklungen hingegen, wie sie im „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ in eindringlichen Bildern vorgeführt werden, haben allenfalls für deren Opfer einen schicksalhaften Charakter. Die traditionellen Kategorien greifen nicht mehr. Die zuweilen kiffende, teils miteinander vögelnde Kochgruppe, hängt gesellschaftlich in der Luft. Clownesk bekleidet machen sie Klamauk und kommen doch nie zu dem Ziel, das sie vermeintlich erstreben. Mal kommen die einen zu früh, mal gibt es, durch eine Terror-Abwehr-Übung, eine Unterbrechung. Nur der Pizza-Bote kommt zur rechten Zeit, verreckt allerdings, so angezogen, wie er seinem Einkommen entsprechend gekleidet ist, nämlich splitterfasernackt, auf der Treppe zum Hintereingang, was für die Kochgruppe naturgemäß die Frage aufwirft, ob die Pizza trotzdem noch essbar geblieben ist.

Kurzum: die Inszenierung ist schon bemerkenswert. Sie arbeitet gezielt mit allen technischen Mitteln. Das Geschehen im Haus wird von Video-Kameras aufgenommen und auf die Fassade des Hauses projiziert. Die Drehbühne bleibt fortwährend in Bewegung. Eine imposantes Spektakel läuft da vor unseren Augen ab.
Nur:
Das Resultat bleibt bescheiden. Mit Samuel Beckett („Godot“) gesagt:
Wladimir: „So ist die Zeit vergangen.“ Estragon: „Sie wäre sowieso vergangen.“ Wladimir: „Ja. Aber langsamer.“

Szenenfoto | © Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Frankfurt

Letzte Änderung: 16.03.2022  |  Erstellt am: 15.03.2022

Szenenfoto  | © Foto: Birgit Hupfeld/Schauspiel Frankfurt

Der diskrete Charme der Bourgeoisie
Nach Luis Buñuel

Regie: Claudia Bauer
Bühne: Andreas Auerbach
Kostüme: Verena Rust

Nächste Vorstellungen: 21., 28. März

Schauspiel Frankfurt

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