Karawanserei des erschreckenden Wohlklangs

Die Dirigentin Joana Mallwitz begeistert in Berlin mit einer außergewöhnlichen Mischung aus musikalischer Präzision und ansteckender Lebenslust. Ihre Interpretation von Ravels Bolero verwandelte einen vermeintlichen Konzert-Klassiker in ein packendes Erlebnis, das den Saal bis ins Mark erschütterte. Ein Abend, der zeigte, wie sehr Mallwitz das Publikum in ihren Bann zieht. Alban Nikolai Herbst war vor Ort.
Seit ich den klassischen Musikbetrieb kenne, ist mir noch kein Star begegnet, der nicht nur verehrt, keine Starin, die nicht nur bewundert, nein, sondern – und von einer ganzen Stadt! – geliebt wird. So, von quasi → ihrem Antritt an, Joana Mallwitz, und diese Liebe nimmt noch zu von Konzert zu Konzert. Ich selbst, der solchen Hypes eigentlich höchst skeptisch gegenübersteht, schrieb ja von → „Mallwitzzauber“. Zwar ist Berlin an großen Dirigenten wahrlich nicht arm, doch niemandem bislang wie dieser Dirigentin, nicht einmal Simon Rattle, ist es gelungen, die Lust am Musizieren derart aufs Publikum zu übertragen. Wohl, weil es ihr ums Musizieren allein letztlich nicht geht. Was sich von ihr auf uns überträgt, ist die, vorsichtig ausgedrückt, pure Lebenslust. So unterdessen mein Eindruck. Nur er erklärt, weshalb bei der Einführung in einen Konzertabend, von Mallwitz freilich selbst gestaltet, der große Saal des Hauses bis auf den letzten Stuhl belegt war, das Parkett jedenfalls – an die siebenhundert Plätze!
Allerdings hat dies auch einen Haken. Denn solcher Lebenslust ist es nicht wirklich wichtig, ob die eigentliche Botschaft einer Musik das pure Grauen ist. Das ist sie, wie ich nunmehr weiß, auch beim Bolero von Ravel, eigentlich längst einem Schlager, den ich – noch eigentlicher – eigentlich längst abgehakt hatte, so daß er mich bis zu diesem Konzert nicht mehr die Bohne interessiert hat. Um so mehr ließ mich das Stück in Mallwitz’ Interpretation am Ende erzittern – und zwar dreifach fiebriger, weil die Musiker zugleich, jede Solistin für sich, jeder Solist, nicht nur die Klangschönheiten ihrer Instrumente herzberückend Laut werden ließen … – nein, zugleich verliehen sie ihnen – es war eine Art Bauchtanz des Klangs – jenen orientalischen Zauber, den Schlangenbeschwörer, scheint es, heraufblasen können, auch wenn es der alte → Ka selbst ist, der sein Opfer hypnotisiert.
Da stört es auch nicht, sondern erlöst uns sogar jäh, daß sich der Posaunist einmal kurz verspielt: Die Karawane, die wir von fern herannahen hören, die näher kommt und näher … ist plötzlich in voller Entsetzlichkeit da, bei und um und über uns, da die Süße der Musik aufschreiend in das Grauen umschlägt, von dem ich eben sprach. Was Adorno Mahlers Sechster attestierte – die Musik selbst werde katastrophisch –, trifft auf Ravels Bolero, nicht anders als auf sein berühmtes „La Valse“, nämlich ebenso zu.
Das habe ich bis zu diesem Konzert nicht einmal geahnt, geschweige denn gewußt. Dabei: Wie oft habe ich den Bolero in meinem Leben schon gehört? Zwanzigmal, dreißig-, vierzig- fünfzigmal? Als junger Mann jedenfalls dauernd. Doch jetzt zum wirklich ersten Mal.
Es war der Höhepunkt des Abends. Vielleicht hätte Mallwitz das Stück ans Ende setzen sollen – oder den zweiten Höhepunkt, nämlich → Anna Merediths dem Bolero durchaus verwandten „Nautilus“ von 2011, hier in der zehn Jahre später entstandenen Orchestrierung aufgeführt, in deren zweitem Drittel ich deutlich eine Anspielung aufs → „Dies Irae“ zu vernehmen meinte – auch sie alles andere als eine, sagen wir, „gemütliche“ Musik – eher sogar eine, für das großenteils doch „bürgerliche“ Konzerthauspublikum, Zumutung. Mallwitz’ Größe besteht auch darin, daß sie selbst dafür noch bejubelt wird. Was sie mit … ich weiß nicht, ob „Kompromissen“ das richtige Wort ist … entgilt. Vielleicht aber empfindet diese Frau das Musikantische einer Komposition tatsächlich metaphysischer Tiefe gleich, vorausgesetzt freilich Perfektion der Faktur. Dann wäre mir der Wert verständlich, den Mallwitz auf → Bryce Dessners Klavierkonzert legt. Zwar gar keine Frage, daß hier jemand sein Metier beherrscht; es gibt berückende Soundscapes in dem Stück, drin hätte ich gerne länger verweilt – würde nicht alles immer wieder mit mir schwer erträglicher Streichercreme verschmiert, einer, die hätte Hans Zimmer angerührt haben können. Viel Genie bei wenig Geschmack, um es auf eine Formel zu bringen. (Viel Geschmack bei wenig Genie ist freilich auch nicht besser.) Aber es ging ja auch gar nicht um Weltschmerzensschwere, sondern um die musikantische Lust. Darin haben alle gebadet, die Musikerinnen und Musiker, die Solopianistin (rasend schön agil: → Alice Sara Ott), das Publikum. Allein Beethoven, als Schlußlicht, hatte das Nachsehen.

Nicht aus kompositorischen Gründen, bewahre! Diese Erste ist durchaus frisch, jugendlich und, ja, auch das, rebellisch. Nur daß wir nicht mehr hören können wie um 1800. Unsere Erfahrungen von Klängen haben sich grundsätzlich verändert, wir kommen mit völlig anderen Lautstärken und vor allem Dynamiken nicht nur klar, nein, brauchen sie – indessen, umgekehrt, der dreißigjährige Beethoven, unseren Hörerfahrungen ausgesetzt, in Ohnmacht gefallen wäre oder sogar per Herzinfarkt tot umgekippt. Man muß sich das einfach klarmachen. Genau deshalb, vor allem im Vergleich mit den Steigerungen Ravels und Merediths, schmierte diese Sinfonie einfach ab, kam blaß und überkommen daher – und nicht, weil Mallwitz nachlässig oder uninspiriert gearbeitet hätte. Es hätte irgendeines Kniffs bedurft, vielleicht sogar einer roh übertreibenden Exaltiertheit (auch → Norringtons Aufrauhungen der Achtzigerjahre wären heute kein Schock mehr), um den zumindest dynamischen Ausgleich herzustellen; möglicherweise wäre auch das Tempo noch etwas anzuziehen gewesen, ich weiß es nicht. Vielleicht aber hätte das Stück einfach nur an den Anfang statt ans Ende des Abends gehört, und wir hätten dann die anderen Stücke um noch eine Dimension verstärkter wahrgenommen – und eben auch ihre Schrecken. Und in die eigentlich großen Kompositionen – Ravels „Bolero“ und Merediths „Nautilus“ – wäre Dessners Klavierkonzert einfach nur eingefaßt gewesen, als → Swarovsky-Preziose, wenn Sie so wollen. Dann, in der Tat, hätten wir alle die Botschaft vernommen. Nur wär’ uns, auf der Freitreppe nachher, der Sekt nicht ganz so unbeschwert die Kehlen hinuntergeprickelt. Schließlich war’s solch ein herrlicher Spätsommerabend.
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ANH, Berlin
September 2025
Letzte Änderung: 10.09.2025 | Erstellt am: 10.09.2025
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