Ich habe gelernt, glücklich zu sein

Ich habe gelernt, glücklich zu sein

Der Filmregisseur Chen Kaige im Gespräch
Wu Ji

Der Film funktioniert, wenn er gut ist, sagt Chen Kaige, nicht, wenn er bedient, was man gerne sehen will. 2005 kam sein Film „Wu Ji – The Promise" (deutsch: Wu Ji – Die Reiter der Winde) heraus, der bis dahin teuerste chinesische Film. Marli Feldvoß traf den Regisseur auf der Berlinale 2006, wo der Film vorgestellt wurde.

Chen Kaige im Gespräch mit Marli Feldvoß über seinen Film „Wu Ji. The Promise“

Marli Feldvoß: Herr Chen, „Wu Ji. The Promise“ ist mit 35 Millionen Dollar ihr bisher größtes und teuerstes Filmprojekt. War das so geplant?

Chen Kaige: Ja, wir wussten von vornherein, dass es ein ganz großer Film werden wird. Wir haben nicht einmal das Budget überzogen. Wir sahen es nicht als ein chinesisches, sondern als ein asiatisches Projekt, das Darsteller aus Japan und Korea einbezieht. Ich bin nicht politisch, aber für mich ist es wichtig, Talente aus verschiedenen asiatischen Ländern zusammenbringen. Wenn die Politiker sich streiten, können wir zumindest auf kulturellem Gebiet zeigen, dass wir uns eine friedvolle Zukunft wünschen.

Es handelt sich ja um eine chinesisch-amerikanische Koproduktion, an der auch der chinesische Staat beteiligt ist. Wie funktioniert so etwas?

Wenn das Drehbuch akzeptiert wird, kann man einfach loslegen. Geld ist bei uns nicht das Problem. Es ist ganz anders als im Westen, wo manche Regisseure zwei Jahre brauchen, um Geld aufzutreiben.

Das mag für einen Chen Kaige gelten.

Ja, da haben Sie Recht. (Lacht) Aber es gibt genug Geld in China, solange die Geldgeber Vertrauen in den Regisseur und in sein Projekt haben.

„Wu Ji. The Promise” ist ein Fantasyfilm, ein Märchen, das in ferne Zeiten verlegt ist. Was hat Sie daran gereizt?

Es ist ein „Film meines Herzens“, wie alle meine Filme. Nur „Killing Me Softly“ macht eine Ausnahme, da habe ich nicht auf mein inneres Gefühl gehört, und prompt bekam ich schlechte Kritiken. „Wu Ji“ ist zwar wie ein Märchen verpackt – aber dahinter verbirgt sich etwas ganz anderes. Es reflektiert die sozialen Veränderungen in der heutigen chinesischen Gesellschaft. Ich denke dabei an die Sklaven am Anfang des Films. Freiheit kann einem Menschen weder gegeben noch verliehen werden. Freiheit kann nur aus dem Herzen kommen. Der General hat nur seinen Ruhm und Erfolg im Kopf, während der Sklave nicht einmal weiß, dass er wie ein Mensch aufrecht gehen kann, er ist wie ein Tier. Von diesen beiden Figuren bin ich beim Schreiben ausgegangen. Aber ich musste auch an die kommerzielle Seite denken. Die Chinesen wollen heute große chinesische Filme sehen, nicht nur große Filme aus Hollywood. Ein marktbewusster Chinese sagt sich heute: einen kleinen Film kann ich später auf DVD sehen. Dafür brauche ich nicht ins Kino zu gehen. Heute kriegt man die Leute nur mit großen Filmen ins Kino. Das ist vielleicht falsch, aber es ist die Wirklichkeit.

Heißt das, dass Sie Ihren Film als Gesellschaftskritik sehen?

Ich kann nur auf der kulturellen Ebene sprechen. Ich kann und will keine Kritik üben. Ich bin kein Dissident.

Gefallen Ihnen eigentlich Martial Arts Filme?

Martial Arts ist ein Teil der traditionellen chinesischen Kultur, deshalb sind so viele Regisseure daran interessiert. In „Wu Ji“ ist der Action-Teil eigentlich nur dazu da, die Figuren zu entwicklen. Die Art und Weise, wie sie kämpfen, zeigt auch, wer sie sind. Vielleicht drehe ich eines Tages einen reinen Martial Arts Film, wenn ich eine gute Geschichte dafür finde. Ich bin wie ein neugieriger kleiner Junge, ich glaube nicht an den persönlichen Stil. Dafür ändern sich die Dinge viel zu schnell. Wer hätte gedacht, dass einer wie ich, der aufs Land verschickt, dann Soldat wurde, wieder zurück in Peking Filmstudent und Regisseur werden würde. Es muss so etwas wie Schicksal geben.

Geht Ihnen das immer noch nach, die Kulturrevolution?

Wenn einem so etwas passiert, wenn man noch jung ist, wird man es nicht so schnell wieder los. Ich war damals vierzehn. Aber ich meine das nicht so ernst. Ich habe inzwischen gelernt, glücklich zu sein.

Wie das?

Ich habe vom Buddhismus gelernt. Das ist keine Religion, bei der man jeden Tag beten muss. Der Buddhismus lehrt dich, wie du glücklich sein kannst, wie du weise wirst. Das ist die Kunst des Lebens. Ich glaube das wirklich. Als Filmemacher hat man so viele Probleme zu lösen, es ist ein langer Marsch vom Dreh bis zur Postproduktion. Man braucht dazu eine starke Persönlichkeit, um den vielen Verführungen zu widerstehen. Ich bin mittlerweile sehr ruhig geworden. Es ist nicht mehr so wichtig, was um mich herum passiert. Alles ist Leere.

Bleiben Sie jetzt lieber zu Hause und drehen chinesische Filme?

Ja. Ich brauche heute sehr gute Gründe, um ein Projekt im Ausland zu realisieren. Nur wenn mich die Geschichte wirklich mitreisst. Sonst nicht.

In der Presse wird gern über Ihr Verhältnis zu Zhang Yimou berichtet. Sie waren Schulkameraden, dann war er ihr Kameramann, dann wurden Sie Konkurrenten. Stimmt das überhaupt?

Ich glaube, wir wollen uns beide lieber als Freunde sehen. Auch wenn wir nicht mehr zusammen arbeiten. Aber jeder in China behauptet, wir könnten uns nicht ausstehen, würden uns schaden, aber das stimmt nicht. Wir sind verschieden, aber wir sind auch ähnlich. Wir haben heute die gleichen Probleme und die lauten: Wie können wir mit den Beschränkungen und Tabus überleben? Eine Antwort darauf ist der Kostümfilm. Da ist man auf der sicheren Seite. Ich meine keine Allegorie, sondern ich meine, dass man auch mit den Mitteln eines Fantasyfilms die Wirklichkeit zeigen kann. Aber es ist sicher besser, etwas direkt auszudrücken. Dann muss sich das Publikum beim Interpretieren nicht so anstrengen.

„Wu Jj. The Promise“ wurde für das westliche Publikum gekürzt, angeblich, weil die Zuschauer sonst Verständnisprobleme hätten. Stimmt das?

Ich kann dazu nichts Genaues sagen, wir haben ein Gentlemanagreement. Die Amerikaner wollen eben lieber etwas Einfacheres, Kürzeres – das ist auch eine Art von Zensur im Westen. Es ist einfach so, dass manche Leute den Film lieber als Actionfilm gesehen hätten, der Rest war ihnen nicht so wichtig.

Haben Sie von den Diskussionen zu „Memoirs of a Geisha“ gehört? Es ging dabei um die Verwestlichung asiatischer Kultur.

Ich wollte immer die wahre Schönheit chinesischer oder asiatischer Kultur zeigen. Ich möchte dem Zuschauer keine Bilder vorgaukeln, die sie gerne sehen möchten. Ich halte es für wichtig, das wirkliche Gesicht chinesischer Kultur zu zeigen. Ich habe schon früher einmal gesagt: Sie mögen meine Filme aus den falschen Gründen. Aber es stimmt, dass manche asiatische Regisseure genau wissen, was man im Westen gerne sehen will. Sie wissen es und machen es auch so. Ich finde das falsch. Man hilft angeblich dem westlichen Publikum, eine fremde Kultur besser zu verstehen, aber man führt sie eigentlich in die Irre. Mir ist es egal, wenn die Leute behaupten, dass sie meinen Film nicht zu 100% verstehen. Dem chinesischen Publikum geht es umgekehrt ganz genauso. Aber der Film funktioniert, wenn er gut ist. In China gab es eine Umfrage, ob wir zur Eröffnung der Olympischen Spiele lieber das traditionelle oder das moderne China zeigen sollten. Die Antwort von den Westlern war besonders interessant, denn sie lautete: Wir sollten unser wahres Gesicht zeigen, es nicht hinter einer Maske verstecken. Man darf eben nicht alles kommerzialisieren – das sollte man nicht vergessen.
 
 

Das Interview wurde 2006 auf der Berlinale geführt. Erstveröffentlichung in Kölner Stadtanzeiger am 16. Mai 2006

Letzte Änderung: 08.08.2022  |  Erstellt am: 07.08.2022

Chen Kaige

ANMERKUNGEN ZU
CHEN KAIGE (geb. 1952 in Peking)

Die Zeit, als wir mit großen Erwartungen auf den nächsten chinesischen Film gewartet haben, ist lange vorbei. Das Jahr 1993 war besonders ergiebig. Allein auf dem Internationalen Forum des Jungen Films in Berlin liefen sechs neue Filme aus China, darunter drei von Frauen. Drei Monate später wurde Chen Kaige mit seinem Film „Lebewohl meine Konkubine“ in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt (ex aequo mit Jane Campions „Piano“). Symbolträchtig stellt Chen die ganze Pracht der Peking-Oper auf die Bühne, nicht um ihre Renaissance einzuläuten, denn sie ist im inzwischen auch in China angebrochenen Medienzeitalter nur noch ein Relikt, sondern um an das 5.000 Jahre alte Erbe einer Kulturlandschaft zu erinnern. In den Jahren der Kulturrevolution war Jian Qing, Ehefrau von Mao Zedong und ehemalige Schauspielerin, als „leitende Bannerträgerin Kunst“ zur „einzigen Regisseurin in ganz China aufgestiegen. Ihre Regieanweisung: Der Held sollte stets „nah, groß und hell“ sein, die Feinde „fern, klein und dunkel“. Der Kommunismus à la Viererbande war 1977 zu Ende, 1978 wurden die Universitäten für alle geöffnet, die 5. Regiegeneration brachte die „Neue Welle“ mit Namen wie Zhang Yimou, Tian Zhuangzhuang und eben auch Chen Kaige und andere hervor. Sie haben nie eine ausgesprochene Politik verfolgt, verstehen sich jedoch als Vertreter einer Gegenkultur, setzen die subjektive gegen die quasi objektive Sichtweise des sozialistischen Realismus, bevorzugen die Ambiguität, die implizite vor der expliziten Botschaft, verzichten oft ganz auf eine narrative Erzählstruktur. Neun Jahre später führte die „Kampagne gegen die bürgerliche Liberalisierung“ zu neuen Spannungen im Kulturleben, die anschließende Wirtschaftsreform führte marktwirtschaftliche Prinzipien ein und stellte den künstlerisch wertvollen, aber im Inland erfolglosen chinesischen Film kalt.

„Wie überleben wir die Tage im wirklichen Leben mit wirklichen Menschen?“ lautet die zentrale Frage in „Lebewohl meine Konkubine“. Sie wird einem Schauspieler in den Mund gelegt, der sich die Opernbühne als Unterschlupf vor der gnadenlosen Realzeit ausgesucht hat, lange vor der Gründung der Volksrepublik China und vor der Tabula rasa der Kulturrevolution.

Ich habe Chen Kaige im Jahr 1993 schon einmal in Venedig getroffen. Mein Eindruck: „Chen Kaige ist ein Idealist, ein Grübler, ein Skeptiker mit einem aufflackernden Temperament, das Gegenbild des immer lächelnden Chinesen. Im Gespräch korrigiert er mich einmal, als ich nachlässig einen „westlichen Standpunkt“ einnehme und besteht auf der Formulierung „persönlicher Standpunkt“. Er ist hartnäckig, steuert geradewegs auf Reibungspunkte zu, die etwas Leben in das dunkelverhangene Hotelzimmer am Lido bringen. Chen Kaige ist Jurymitglied der Filmfestspiele und absolviert, obwohl gesundheitlich angeschlagen, noch sein Interviewprogramm, einen Arbeits-Marathon. Chen kennt seine Pflichten als Cannes-Sieger, aber er kennt nicht immer seine Grenzen. Das macht ihn anstrengend, aber sympathisch.

Der heute Einundvierzigjährige muskulöse große Mann strahlt Körperkraft aus. Er stammt aus einer Künstlerfamilie, schon sein Vater, ebenfalls Filmregisseur, hat viele Filme über die Peking Oper gedreht. Er war auch an „Lebewohl meine Konkubine“ beteiligt.

Chens Lebenslauf ist stellvertretend für viele. Mit 14 war er aktiver Rotgardist in Peking und denunzierte seinen Vater, dann folgte die Landverschickung, drei Jahre Schwerstarbeit auf einer Gummi-Plantage in Yunnan im Südwesten Chinas, dann kam die Armee, er war bis 1975 an der vietnamesischen Grenze stationiert. Seine Kameraden von damals liefern ihm heute die Erzählvorlagen für seine Filme. Seine Autobiografie über die Zeit bei den Roten Garden wurde in Japan ein Bestseller. Heute lebt Chen in New York und in Peking. Chen ist von einer hartnäckigen Geduld. Er weiß, daß man in China langfristig keine wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben kann, ohne auch eine kulturelle Entwicklung zuzulassen. Sein Erfolgsfilm in Hongkong, Amerika und zuletzt in Europa, war bis zum Herbst in Venedig nur einmal in Shanghai gelaufen. Das Thema ist für Chen verständlicherweise ein Reizthema. „Ich bin schließlich der Regisseur. Ich bin der Vater des Films. Dieser Film ist mein Kind. Wenn sie ihn zeigen wollen, zeigen sie ihn. Wenn nicht, bin ich machtlos.“

Marli Feldvoß
Auszüge aus einem Porträt in „Journal Frankfurt“ 25/93

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