Ich bedaure nichts

Ich bedaure nichts

Werner Herzog im Gespräch
Werner Herzog/Boulevard der Stars

Nachdem Papas Kino (mit Heimat, Schlager, Karl May und Edgar Wallace) tot war, hatte eine Gruppe junger, heute prominenter, Filmemacher den Neuen Deutschen Film hervorgebracht, der sich als Autorenfilm sowohl vom nach-kriegsdeutschen Provinzialismus als auch von der Hollywood-Industrie absetzte. Werner Herzog gehörte zu diesem Kreis und ist bekannt für seine intensive und spektakuläre Bildsprache. Marli Feldvoß hat auf der Berlinale 2010 mit ihm gesprochen und Bemerkungen zum dokumentarischen Charakter seiner Arbeiten angefügt. Und wir gratulieren ihm zum 80. Geburtstag.

Ich liebe es, in der wirklichen Welt zu drehen

Werner Herzog, 1991 | © Foto: Privat
Marli Feldvoß: Herr Herzog, Sie sind ein großer Filmregisseur, aber kein Kinogänger. Wie geht das zusammen?

Werner Herzog: Das war schon immer so. Ich sehe weniger Filme als ein durchschnittlicher Kinogänger. Maximal vier pro Jahr. Wissen Sie, ich habe vor meinem elften Lebensjahr keinen Film gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas wie Kino gibt, bis ein Wanderkino bei unserer Klippschule in den Bergen vorbeikam. Das sieht noch drastischer aus, wenn es um Oper geht. Ich inszeniere ja hin und wieder Opern, aber ich bin kein Operngänger. Überhaupt nicht.

Wie erleben Sie Ihren zweiten Karriereschub in Amerika?

Ich habe nie eine Karriere gehabt.

Was sonst?

Ich habe ein Leben, keine Karriere. In meiner Definition lernt man für eine Karriere, fängt dann an, die Leiter emporzusteigen, entscheidet über die nächsten Karriere-Schritte. Das habe ich nie gemacht. Ich kenne viele Filmemacher, die einen Film beenden und dann sofort die Bestsellerliste studieren, was sich für einen Film eignen würde. Sie treffen Entscheidungen. Ich habe das nie gemacht. Die Filme sind mir immer irgendwie zugeflogen. Während ich hier sitze, zerren schon wieder acht oder neun Filme an mir. Sie kommen wie Diebe in der Nacht. Ich wache morgens um drei auf, weil ich Geräusche höre. Gehe in die Küche und finde da 5, 6, 7 Diebe vor, ungeladen, eine wahre Invasion. Sie sind hinter dem Whiskey im Eisschrank her.

Aber gab es in Amerika nicht mehr Angebote oder Zufälle dieser Art als in Deutschland?

Es war immer gleich. Immer zu viele Projekte. Letztes Jahr habe ich drei Filme gedreht. Es hätten aber auch gut vierzehn sein können, wenn ich so schnell arbeiten und sie so schnell finanzieren könnte. Egal wo. Letztes Jahr drehte ich einen in der Antarktis, einen in Südäthiopien, zwei in Amerika, davon einen in Peru, und einen in Zentralasien. Amerika, der Mond oder der Weltraum – ich habe ja auch an den Rändern der Andromeda Nebula gefilmt.

Aber warum sind Sie dann vor fünfzehn Jahren nach Amerika gegangen?

Ich habe in Amerika geheiratet. Das ist der einzige Grund, warum ich dort gelandet bin. Meine Frau ist Russin, Lena Pisetskaia, eine Fotografin. Ich habe jetzt eine russische Familie (lacht). Meine Frau hatte noch einen sowjetischen Pass, und weil sie mit diesem nicht reisen konnte, wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. Dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft annimmt, wollte ich nicht, sie auch nicht. Es reicht, wenn einer in der Familie Deutsch ist. Und ich kann kein Amerikaner werden, weil ich kulturell zu sehr Bayer bin, um Amerikaner zu werden.

Ihr bayerisches Herz, was ist das?

Es ist wie es ist. Das müssen Sie schon selbst herausfinden. Sehe ich preußisch aus?

Sie haben gesagt, dass man sie in Deutschland vergessen habe.

Nein, das habe ich nicht gesagt. Merkwürdig, dass die Leute hier sagen: Er kehrt zurück. Ich kehre nicht zurück. Ich habe in den letzten fünfzehn Jahren 20 Filme gedreht, fast nichts davon wurde in Deutschland gezeigt. Ich habe die Arena nicht verlassen, aber die Augen der Zuschauer waren in eine andere Richtung gelenkt. Sie haben mich aus dem Blickfeld verloren. Das ist in Ordnung. Das stört mich nicht. Viele Leute hier dachten, dass ich gar keine Filme mehr drehe. Sehr merkwürdig.

Sie reden die ganze Zeit über deutsche Kultur. Was ist mit „The Bad Lieutenant“, einem typisch amerikanischen B-picture.

Falsch! Es ist ein amerikanisches A-picture! Aber ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Er ist so anarchisch und vollgestopft mit Leben. Und wenn man gar nichts über den Film weiß, denkt man: das muss ein Ire oder ein Bayer gewesen sein, der den Film gedreht hat.

Wie sind Sie auf Nicolas Cage als Hauptdarsteller gekommen?

Ich habe in den letzten Jahrzehnten seine Filme gesehen und habe ihn im Auge behalten. Und er hat – ohne das zu wissen – meine Filme im Auge behalten. Aber es kam uns nie in den Sinn, dass wir einen Film zusammen drehen könnten. Dann aber versuchten wir beide in der gleichen Woche, unsere Telefonnummern herauszufinden. Er hatte meine zuerst gefunden und rief mich von Australien an. In weniger als 60 Sekunden waren wir im Geschäft. Keine Übertreibung! In einem Film sind 60 Sekunden ziemlich lang, man kann mindestens fünf, sechs Sätze sagen. Nach zwei Sätzen waren wir schon einig.

Es hat sie immer gereizt, in der wilden Natur, in wilden Landschaften zu drehen. War New Orleans auch so eine Gegend?

Ich finde immer meine Locations. Darin bin ich gut. Es muss nicht immer die wilde Natur sein. New Orleans ist zwar ein urbanes Terrain, doch eine Stadt, die zerstört wurde. Ich liebe es, in der wirklichen Welt zu drehen. Ich funktioniere nicht gut in der Künstlichkeit einer Studiosituation.

Dafür gab es In New Orleans Alligatoren und Iguanas.

Die Iguanas standen nicht im Drehbuch. Ich vergebe gern wichtige Rollen an Tiere. Das gefällt mir. Heute redet jeder über sie, bevor er noch über den Film redet.

Was ist Ihre denkwürdigste Erinnerung als Filmemacher?

Ach wissen Sie, ich bin in dem Geschäft, seit ich 19 war. Mein erster Film lief hier vor vierzig Jahren im Wettbewerb, und ich habe vielleicht sechzig Filme gedreht.

Und „Fitzcaraldo“?

Nur einer von 60. Alles ist erinnerungswert. Ich hatte ein wildes Leben bei dieser Arbeit. Ich kann höchstens über denkwürdige Momente als Zuschauer sprechen.

Sie haben, wie in „Fata Morgana“, sogar Wunder gefilmt.

Das war ein schwieriger Film. Er geriet außer Kontrolle, weil der Kameramann und ich sehr krank wurden und in einem afrikanischen Gefängnis endeten. Es gibt Situationen, wo man nur noch das belichtete Material retten, und wo man nur noch schnell ins nächste Krankenhaus gehen muss.

Was ist Ihre mutigste Tat, die Sie vollbracht haben. Bedauern Sie etwas?

Ich bedauere nichts. Ich war nie ängstlich, aber mutig? Ich beurteile mich nicht gern. Ich schaue nicht gern zurück. Heute abend muss ich meinen Film „Lebenszeichen“ einführen, der vor 42 Jahren einen Silbernen Bären gewonnen hat. Ich habe Filmfootage aus der Zeit gesehen. Der Film wurde 1967 gedreht und 1968 hier gezeigt. Ich sehe wie ein Schulbub aus. Das war mein großes Problem. Ich war immer der Jüngste meines Vaters, der Jüngste auf dem Set, der Jüngste in meiner Generation, der Filme machte. Sehr seltsam für mich das Zurückschauen. Ich schließe lieber schnell die Tür und sehe zu, dass ich das nächste Projekt ausbrüte.

Normalität und Wahnsinn, auf dieser Gratwanderung bewegen sich doch viele Ihrer Filme?

Ich persönlich wäre vorsichtig, über Wahnsinn zu reden. Ich wüsste nicht, welche meiner Figuren man verrückt nennen könnte. Nicht einmal Bokassa. Mein Film „Echos aus einem düsteren Reich“ ist dem Wahnsinn am nächsten.

Obsessiv?

Nein, nicht wirklich. Denken Sie an „Fitzcarraldo“. Ein Schiff über einen Berg zu tragen und die Oper in den Dschungel zu bringen – das ist das natürlichste Ding, das ein erwachsener Mann wenigstens einmal in seinem Leben tun sollte.

Wie stehen Sie zu Ihren deutschen Kollegen in Hollywood?

Das ist interessant. Roland Emmerich und Wolfgang Petersen hatten schon früh einen Traum, dass sie große Hollywoodfilme drehen wollten. Sie haben ihre Kultur verlassen und haben die Hollywoodmainstream-Kultur angenommen. Man kann nicht mit einem Fuß in Hollywood stehen und mit dem andern in Deutschland. Sie wollten das so. Und es geht ihnen sehr gut. Ich gratuliere Ihnen. Mir gefällt das, Menschen zu sehen, die ihre Träume erfüllen. Ob das etwas mit meinem eigenen Traum zu tun hat, ist unwichtig. Es ist nicht mein Traum, ich habe niemals meine Kultur verlassen.
 
 
 
 

Das Gespräch mit Werner Herzog wurde auf der Berlinale 2010 geführt und ist am 27. Februar 2010 im Kölner Stadtanzeiger erschienen.
 
 

Werner Herzog und der Dokumentarfilm

 
Wäre da nicht ein Auftrag gewesen, der Werner Herzog dazu verdammte, sich in seinem Fernsehfilm selbst vor die Kamera zu stellen und zu berichten, hätte sich dieser Filmemacher womöglich darauf beschränkt, die nicht enden wollenden majestätischen Skiflüge des Walter Steiner ins Bild zu rücken. Immer wieder beeindruckt die große Stille um die schmale Gestalt des Schweizer Holzschnitzers, der kerzengerade wie ein Pfeil durch die Lüfte schwirrt, der sich, wie er erzählt, jedes Mal von neuem anschickt, seine Angst zu überwinden und gerade darin seine größte Lust und Ekstase erfährt. Die Begegnung mit dem Skiflieger, der 1974 alle Rekorde brach, obwohl er stets eine oder zwei Luken tiefer als seine Konkurrenten an der Schanze antrat, waren für den Künstler Werner Herzog, der selbst einmal Skispringer werden wollte, wie eine Offenbarung. Sein Film „Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ lieferte für die ersten beschwerlichen Reisen Herzogs in die südliche Sahara („Fata Morgana“) oder in die Anden Perus („Aguirre, der Zorn Gottes“) so etwas wie ein Manifest und stand noch am Anfang all jener kräftezehrenden Filmarbeiten, die Herzog glaubte, „existenziell“ oder auch „zu Fuß“ durchstehen zu müssen. Man braucht Werner Herzog nur zuzuhören, etwa in dem außergewöhnlichen Essayfilm „Bis ans Ende – und dann noch weiter“ von Peter Buchka (1988), um diesem bescheiden auftretenden und unbeirrbaren Poeten des Kinos auf die Schliche zu kommen.

Dennoch steht dieser Werner Herzog auch hinter seinem Eroberer Aguirre, wenn dieser großspurig behauptet: „Ich bin der Zorn Gottes, die Erde, über die ich gehe, sieht mich und bebt.“ Herzog selbst gehört zu jenen „heroischen Figuren“, Menschen, die ihre Rahmen sprengen, die scheitern müssen, die dadurch das Leben existenzwürdig machen, weil sie es nicht so hinnehmen, wie es ist. Er zeige deshalb, wie er sagt, keine Verrückten, sondern Menschen, die radikal ihre Menschenwürde ausleben, die sich in den Dienst einer höheren Wahrheit, einer „ekstatischen Wahrheit“ stellen.

Herzogs Worte von damals gelten noch heute, auch wenn er seine Wohnstatt schon lange in ein allerdings ziemlich bescheidenes Häuschen in den Bergen von Los Angeles verlegt hat und die welken Blätter aus dem kleinen Swimmingpool fischt.

Herzog filmt heute mit Produzenten wie der BBC oder France 2. Bei uns war es nach seinem letzten großen Spielfilm über den Sklavenhändler Cobra Verde (1987) immer stiller um ihn geworden, doch als Herzog sich Mitte der Neunziger nach Amerika absetzte, fand er dort via Fernsehen und DVD im Handumdrehn ein neues, letztlich dankbareres Publikum. Werner Herzog ist von der hiesigen Skandal- zur echten Kultfigur aufgestiegen und durfte als solche – nach seinem Festivalauftritt 2009 in Venedig mit gleich zwei Spielfilmen („Bad Lieutenant“ und „“My Son, My Son, What Have Ye Done“) auch wieder nach Deutschland zurückkehren, um im Februar 2010 als Berlinale-Präsident aufzutreten. Ausführliche Retrospektiven ehrten ihn in den vorangehenden Jahren bereits in Paris und Turin, immerhin auch in München.

Es ist nie zu spät, diesen erklärten Außenseiter im Filmgeschäft, der nie eine Filmschule besuchte und intuitiv seine Ästhetik gefunden hat, zu entdecken.
 

Marli Feldvoß

Letzte Änderung: 07.09.2022  |  Erstellt am: 05.09.2022

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