Iannis Xenakis: Das elektroakustische Werk

PLATTE DER WOCHE #1

In dieser locker geführten Reihe wird Musik auf Tonträgern vorgestellt, die absoluten Referenzcharakter hat. Wir widmen uns Platten, die jenseits der Trends Bestand haben und durch ihre einzigartige klangliche, technische, interpretative und/oder politische Dimension Einfluss auf die musikalische Landschaft nahmen. Bewusst wird hier der Fetisch des Allerneusten ignoriert, stattdessen auf Gebliebenes geschaut – und das, was bleiben sollte, und zwar über alle Genres der Musik hinweg. Wir laden Schreibende dazu ein, sich an der Reihe zur klanglichen Zeitlosigkeit zu beteiligen.

Der in Rumänien geborene, französische Komponist Iannis Xenakis (1922–2001) war einer der Revolutionäre der Neuen Musik, in seiner Fokussierung auf elektronische Musik Karlheinz Stockhausen vergleichbar, der wiederum für die Gruppe Kraftwerk ein entscheidender Impulsgeber war. Nur ging Xenakis andere Wege, die ihm vornehmlich die Mathematik wies, doch auch die Architektur (eine Zeitlang war er Assistent Le Corbusiers). Da er die Akustik selbst vor allem mathematisch empfand, orientierte sein Kompositionsstil sich überaus stark an der Stochastik, also an dem, was wir als zufällig erleben – etwa mögliche Gesetzmäßigkeiten von Wasserbewegung und anderem Chaos. Entsprechend organisierte er seine Musikstücke – bisweilen, etwa das berühmte »Persepolis«, bis zu über einer Stunde lang.

Was Ihnen möglicherweise sehr theoretisch und verkopft vorkommt, erweist sich in der Aufnahme, die ich vorstellen möchte, als geradezu akustischer Thriller. Klanggefesselt sitzen wir da und können nur noch lauschen, auch wenn wir manchmal geradezu erschrecken, vielleicht sogar uns fürchten. Es prasselt, rauscht, rast aus den Lautsprechern – die allerdings, um das Geschehen zu erfassen, hervorragend sein sollten. Ersatzhalber empfehlen sich Kopfhörer – und sowieso, weil es lohnt, Xenakis elektroakustische Musiken sehr laut zu hören. Andernfalls könnte es sein, daß Ihre Nachbarn die Feuerwehr rufen.

Das kleine, 2006 von Thomas Herbst gegründete Berliner Label »Karlrecords« hat zum hundertsten Geburtstag des Komponisten, 2022, → eine Box mit fünf CDs herausgebracht, die ihresgleichen wahrlich sucht. Für Connaisseurs gibt es eine Vinyl-Version, die bei einer entsprechenden Musikanlage die CDs noch toppen dürfte – auch wenn das nach dem Höreindruck der CDs unmöglich zu sein scheint. Ich meinerseits empfinde für elektronische Musik digitale Tonträger ohnedies als »passender«.

Neben »Persepolis« sind insgesamt aus Xenakis’ Früh- bis Spätwerk seine wichtigsten und nachdrücklichsten Werke enthalten, neben dem genannten, in der Tat »ungeheuren« Persepolis von 1972 das längst legendäre, dramatisch sogar noch stärkere »la légende d’eer« sowie die »voyage absolu des unari vers andromède«. Vom ersten Moment an werden Sie verspüren, daß Sie sich hinsetzen sollten, die Augen schließen und nichts anderes tun als zu lauschen. Es ist gewiß, daß Sie irgendwann abheben werden – vorausgesetzt, Sie erledigen nicht noch was anderes beim Lauschen ›nebenbei‹. Oder Sie, wenn Sie die Intensität nicht ertragen, springen auf, um zu fliehen.

An dieser, der Intensität, hat Karlrecords’ Tontechnik maßstabsetzend Anteil, sie scheint mir uneinholbar zu sein und als geradezu Kampfansage an die praktikablen Kompressionsprogramme mp3, mp4 und wie diese Musik-Kastrationsunternehmen sonst noch heißen mögen. Persepolis, das Zentrum der mächtigen antiken Perser, konnte eben nur ein Alexander der Große zerschlagen; daß es zerschlagen wurde, allerdings, bekommen wir zu hören – und daß es jetzt geschieht, noch im Moment unseres Hörens wieder und wieder und wieder. In »Légende d’eer« wiederum gibt es sogar summend selbstvergessene Frauen, dann noch vor sich hinsingende Männer … oder wir hören, Track 2, einen Beat, der den Techno um Jahrzehnte vorausnimmt – was zu den gleichsam prophetischen, weniger freilich kompositorischen Stärken dieser Kompositionen gehört. Zumal, sind es denn Frauenstimmen oder bilden wir sie uns ein? Gerad auch insofern sind die massiven Klang- und Geräuschsensationen der elektroakustischen Musik des Iannis Xenakis Lehrstücke über Realität und zugleich ein Moment ihrer unheimlich spürbaren Zeitlosigkeit.