FSK ab 16 Jahre – Die Ersten und die Letzten
In der Oper „Die ersten Menschen“ ist die Geschichte vom Ursprung der Menschheit umgeschrieben worden. Eva, Adam, Kain und Abel sind nicht die ersten, sondern die letzten Menschen. Verzweifelt suchen sie nach erfüllter Sexualität und dem Sinn des Lebens. Und zwar in einer Weise, die das Werk auf dem Verbots-Index mindestens in Utah, USA, landen lassen dürfte. Das vermutet Andrea Richter nach der Premiere in Frankfurt. Hier wird der Besuch ab 16 Jahren empfohlen, ebenfalls eine Premiere. Bei seiner Dernière als Generalmusikdirektor des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters bewies Sebastian Weigle, dass sein Dirigat nicht auf irgendeinen Index gehört.
Die Handlung ist in der Tat harter Tobak. Chawa (Eva) und Adahm (Adam) sind seit langem ein Paar. Sie haben zwei Söhne in der Pubertät, Kajin (Kain) und Chabel (Abel). Chawa sehnt sich noch immer nach körperlicher Nähe mit Adahm. Er findet ihr Anliegen nur lästig, sieht den Sinn des Lebens nach erfolgter Fortpflanzung in der Arbeit und dem Erhalt der Kernfamilie. Kajin, typisch Teenager, kämpft mit dem ihm bis dato unbekannten heftigen sexuellen Trieb, ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, hasst die Arbeit, streift lieber in der Wildnis herum oder schläft und ist oft aggressiv. Umso mehr, als es kein anderes weibliches Wesen gibt, außer seiner Mutter Chawa, die er mangels Alternative begehrt. Sein Bruder Chabel hingegen sublimiert seine Begierden mit dem Glauben an einen allmächtigen Geist, den er Gott nennt. Damit wird Gott zu einer Erfindung des Menschen! Seine Eltern steigen gern auf diesen Glauben ein, Kajin hält das für Quatsch. Die uralte Diskussion um die Existenz eines Gottes wird mit aller Heftigkeit geführt. Bis es Kajin reicht und er aus der Enge der elterlichen Wohnung flieht. Chawa würde gern sublimieren, schafft es aber nicht. Genauso wenig wie Chabel auf Dauer. Langsam bahnt sich die Liebe ihren Weg und endet im Inzest. Kajin, noch immer auf der Suche nach einer Frau, erwischt die beiden in flagranti und erschlägt seinen Bruder aus Eifersucht. Als er begreift, was er getan hat, bringt er sich selbst um.
Regisseur Tobias Kratzer rollt dieses familiäre Kammerspiel mit großem Orchester zunächst in einer normal spießig anmutenden Wohnküche mit besonders vielen Vorräten auf. Dort züchtet Adahm in Pflanzkisten mit UV-Lampen Gemüse. Es ist hell, und durch die Fenster ist eine schöne Landschaft zu sehen. Dass etwas ganz und gar nicht stimmt, wird spätestens in dem Moment klar, als Chabel in einem Schutzanzug mit Gasmaske eine Leiter herabkletternd auftaucht: Die Familie lebt autark in einem unterirdischen Bunker, den sie sich wohnlich eingerichtet hat, inklusive Fake-Fenster mit Ausblick. Sie sind sogenannte Prepper, Menschen, die sich für eine Katastrophe präparieren und so aufs Überleben hoffen. Davon gibt es inzwischen angesichts von Kriegen, dramatischen Klimaveränderungen, Pandemien und sonstiger existenzieller Bedrohungen immer mehr. In diesem zeitgemäßen Setting gelingt es Kratzer, die Konfliktlinien, aber auch komischen Momente der ganz auf sich reduzierten Familie scharf und glaubwürdig nachzuzeichnen, insbesondere die sexuellen Nöte von Chawa und ihren Söhnen. Dass sie keine überdrehten Angst-Neurotiker sind, zeigt sich im 2. Akt. In der völlig verbrannten, dystopisch dunklen Oberwelt à la E.T.A. Hoffmann, durch die ein einsamer (lebendiger!) Hund streunt, drängt die metaphorisch von Ganzkörper-Schutzanzügen unterdrückte Begierde so sehr zum Ausbruch, dass sie in Masturbation vor Pornoheften aus dem Handschuhfach eines ausgebrannten Volvos, Inzest auf seinem Rücksitz, dem Mord von Kajin an Chabel und dem Selbstmord von Kajin endet. Er verblutet grausam, nachdem er sich in fürchterlicher Prozedur seinen Penis abgeschnitten, den kleinen, hellen Wurm aus dem Schutzanzug gefischt und auf den verkohlten Boden geworfen hat. Drastischer geht es nicht! Chawa und Adahm scheinen allein auf der Welt zu sein. Das Ende der Menschheit? Zum Glück gibt es mehr Prepper, als wir denken! Kratzer wird 2025 die Intendanz der Hamburgischen Staatsoper übernehmen.
Die vier Solisten (Sopran Ambur Braid als Chawa, Bass Andreas Bauer Kanabas als Adahm, Tenor Ian Koziara als Chabel und Bariton Iain MacNeil als Kajin) müssen sich nicht nur stimmlich gegenüber wagner-, respektive straussmäßigen großen, wuchtigen und rauschhaften Orchesterklängen behaupten, sondern auch auf zarte, berührende Liebes-, Sternenschau- und Erinnerungspassagen blitzschnell umschalten, sowohl sängerisch als auch schauspielerisch. Es ist ihnen ausnahmslos vortrefflich gelungen.
Das gleichnamige Theaterstück von Otto Borngräber, das er selbst als „erotisches Mysterium“ bezeichnete, bekam 1908 in Bayern Aufführungsverbot wegen angeblich allzu drastischer Wortwahl rund um die Themen Religion, Sex und Inzest. Themen, mit denen sich Künstler damals aufgrund der großen Aufmerksamkeit für die Forschungen Sigmund Freuds häufig beschäftigten. Der Stoff interessierte den jungen, in München lebenden Komponisten Rudi Stephan für seine erste und kriegsbedingt einzig gebliebene Oper. Um diese Themata kreisen auch schon Richard Wagners Die Walküre und Tannhäuser oder Richard Strauss’ Salome, sodass er das Opernpublikum daran gewöhnt wähnen durfte. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Wagners Göttergestalten entspringen keiner konkreten Religion, die Protagonisten tragen meist erfundene Namen. Nicht so in Stephans/Borngräbers Oper, denn hier geht es um die Veränderung der Ursprungsgeschichte der Menschheit, die in den Schriften von Juden- und Christentum sowie dem Islam niedergelegt ist. Die Protagonisten sind immer Adam (Adahm, Adam), Eva (Chawa, Hawwa), Kain ( Kajin, Qabil) und Abel (Chabel, Habil). Die Opernhandlung weicht von der ursprünglichen Erzählung skandalträchtig und geradezu blasphemisch ab.
Die machtvolle Komposition ist zwischen Spätromantik und dem Übergang zur Moderne anzusiedeln. Deutlich immer wieder hörbar, der Einfluss von Richard Strauss’ beiden Erfolgsopern Salome (1905) und Elektra (1909), die Stephan fasziniert haben müssen. Die für 1915 geplante Uraufführung von Die ersten Menschen platzte wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges. Als es 1920 dann endlich so weit war, hatte eine Gewehrkugel den erst 28-Jährigen auf dem Schlachtfeld in der heutigen Ukraine bereits 1915 getötet. Traurig und schade, von ihm wäre sicherlich noch viel Hörenswertes gekommen!
Letzte Änderung: 04.07.2023 | Erstellt am: 04.07.2023
Die ersten Menschen
Oper in zwei Aufzügen
Musik: Rudi Stephan (1887–1915)
Text: Otto Borngräber
Uraufführung 1920, Opernhaus, Frankfurt am Main
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Inszenierung: Tobias Kratzer
Mitwirkende:
Andreas Bauer Kanabas
Ambur Braid
Iain MacNeil
Ian Koziara
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Vorstellungen: 6., 9., 12., 15., 17., 20. Juli 2023 (Bitte auf unterschiedliche Vorstellungsbeginne achten!)
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