Es gibt kein Recht auf blinden Gehorsam
Der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof hat für seinen Film "Doch das Böse gibt es nicht" zu Recht den goldenen Bären auf der Berlinale 2020 gewonnen. Es geht darin um die Todesstrafe und die Formen, sich dazu zu verhalten. Möglichkeiten, sich dem Befehl zu widersetzen, werden genauso durchgespielt, wie blinder Gehorsam. Eine kraftvoll-poetische Produktion voller Subtexte, die sich nur auf einer großen Kinoleinwand entfalten können, meint Riccarda Gleichauf.
Berlinale 2020 - Goldener Bär für Mohammad Rasoulofs Film
Im Iran ist die Todesstrafe Teil des Rechtsapparates, und alle Protagonist*innen der vier kunstvoll ineinander verwobenen Geschichten aus dem Film “Doch das Böse gibt es nicht” kommen mit dieser Tatsache in einen (inneren) Konflikt. Mit Ausnahme der ersten, sich nicht ohne Grund sehr langsam entwickelnden Geschichte. Heshmat ist darin der perfekte Familienvater, der genau die alltäglichen Dinge tut, die seine Familie von ihm erwartet. Spätestens bei der Einblendung der Szene, in der er seiner Frau gegen Abend pflichtbewusst und mit nervtötender Genauigkeit die Haare färbt, kündigt sich das dicke Ende an. Es verbildlicht ohne filmische Kompromisse, was es bedeutet, wenn ein Mensch keinen persönlichen Bezug mehr zu dem hat, was hier als „Arbeit“ bezeichnet wird. Er wird zum bloßen, reagierenden Teil einer grausamen Tötungsmaschinerie und merkt es kaum, weil er parallel mit Kaffeekochen beschäftigt ist.
Zum Glück wechselt der Film in der zweiten Geschichte von der Reaktion zur Aktion. Doch um welchen Preis für den Protagonisten und seine Zukunft? „Niemand hat das Recht zu gehorchen“, so lautet ein etwas verkürzter Satz der Philosophin Hannah Arendt, der meint, dass es kein Recht auf blinden Gehorsam gebe. Der junge Pouya, der gerade seinen Militärdienst absolviert, kann aus Gewissensgründen den Tötungsbefehl nicht ausführen. Er leistet Widerstand, stellt sich der Rechtsprechung entgegen, obwohl er weiß, dass das (auch) Konsequenzen für seine Familie haben wird.
Aber wer sagt uns, so klingt es in der dritten Geschichte an, ob der Verurteilte seine Strafe nicht vielleicht doch verdient hat?
“Doch das Böse gibt es nicht” spielt Möglichkeiten des Widerstands durch, genauso wie bloße Reaktionsbereitschaft; der subjektverlorenen Ausführung eines Befehls. Deutlich wird dabei, dass es schwierig ist, eine Tat als absolut böse zu klassifizieren, weil sich Grauzonen auftun, die moralisch schwer zu bewerten sind. Die 2,5 Stunden, die der kraftvoll-poetische Film dauert, vergehen, ohne dass sich der Blick auf die Uhr verirrt, weil er in seiner Tragik eine extreme Spannung entwickelt. Durch Subtexte werden Verbindungen zwischen den einzelnen Erzählsträngen geknüpft, die sich erst nach und nach erschließen. Das Partisanenlied Bella Ciao zum Beispiel, das einmal laut und hoffnungsfroh zum Ende der zweiten Geschichte erklingt, verklingt bedeutungsschwanger leise und wehmütig in der letzten. Auch die abwechslungsreichen und teilweise wunderschönen Landschaftsbilder tragen dazu bei, dass nach monatelanger Kinoabstinenz endlich einmal wieder dieses beglückende Gefühl entsteht, einen „richtigen“ Film zu schauen, sich in seinen Geschichten und Bezügen zu verlieren.
Zuletzt bleibt die Frage: Wie hätte ich mich verhalten, wie würde ich in solch einem System handeln? Würde ich mich trauen zu handeln oder bloß reagieren?
Sie bleibt unbeantwortbar, weil sich eine Antwort nur aus der Situation heraus zeigt. Eine Situation, in die niemand hineingeraten möchte.
Letzte Änderung: 14.09.2021 | Erstellt am: 13.09.2021
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