Erde, Himmel, Schrecken

Ein Konzertabend, der atemlos macht. Joana Mallwitz feiert ihr mit Spannung erwartetes Debüt bei den Berliner Philharmonikern mit einem vielseitigen Programm. In seiner neuesten Kritik beleuchtet Alban Nikolai Herbst, wie Mallwitz mit Prokofjew, Rachmaninow, Hindemith und Ravel nicht nur die Philharmoniker, sondern auch das Publikum für sich gewinnt.
Welch ein „Hier bin ich!“ und zugleich politisch-ethisches Programm! Für etwas ganz andres komponiert, wirkt – womit dieser Konzertabend begann – Prokofjews „Krieg & Frieden“-Ouvertüre noch im nachhinein wie eine Fanfare für diese so elegante wie nachdrückliche Dirigentin, die innert weniger Jahre die, läßt sich sagen, Welt erobert hat und damit fast von Anfang an auch mich – weil erobert eben nicht mit Waffen, sondern durch eine sogar in → Mallwitz’ Bewegungen Körper gewordenen Musikalität und dabei voll Zugeneigtheit vor allem zu ihren Musikerinnen und Musikern. Und steht nun wirklich oben, noch keine vierzig Jahre alt.
Die Met folgt, las ich, auf dem Fuß, und das auch noch mit Figaro … – Und, ja, die Nervosität war an dem Sonnabend, an dem ich in der Philharmonie saß, nicht der Frau zwar selbst, doch ihrem Taktstock anzusehen – wenn sie ihn mal stillhielt. Dann zitterte er ein wenig denn doch. Weil sie vor diesen Philharmonikern stand.
Indessen nur noch mehr fiel sie ins Geschehen; ihre Dirigate sind ja ohnedies Choreographie. Schon riß die alle mit, auch wenn durchaus zu spüren war, daß das Vertrauen der Berliner Philharmoniker nicht so leicht zu haben ist. Currentzis zum Beispiel hat’s offenbar verspielt. Doch ihm, wenn überhaupt wem, ist Mallwitz in Atem und Hingabe überaus vergleichbar. Nur dass sie nie die Diva gibt, schon gar nicht den, sagen wir, Erlöser spielt und um sie den Hype (bei Currentzis ist er Kult) dem Konzerthaus überläßt, bzw. ihren Agenturen; und ein bißchen, wie jetzt hier, auch mir. Privat bleibt sie privat und zeigt ganz nebenbei, geradezu bescheiden, →dass und wie solch ein extrem ausgefülltes Leben selbst mit einem Kleinkind partnerschaftlich geht. Was ihr Genie noch mehr erleuchtet.
Auch hab ich bislang nie erlebt, dass die Chefin des Abends sich, als die Pianistin ihre Zugabe spielt, rechts auf einen Treppenabsatz des weltberühmten Podiums hockt, um einfach zuzuhörn wie alle. ‚Alle Menschen werden Geschwister‘, mußte ich mit und, schwesternfreundlich, gegen Schiller denken, als ich das sah. Deshalb gehört zu meiner Erzählung genauso, wie die beiden Frauen, Dirigentin und Klaviersolistin, sich in die Arme fielen zum Applaus – nicht hohle Geste, geschweige konventionell, sondern von einer solchen Zärtlichkeit bewegt, dass die Umarmung selbst fast Musik war. Sowie in der → Digitalen Konzerthalle der Mitschnitt eingestellt sein wird, werden auch Sie es sehen können, direkt nach Rachmaninovs Klavierkonzert d-moll, dem zweiten Stück des Abends. Und ebenfalls sehen können, mit welch berührender Kindermimik Anna Vinnitskaya ihren irre schweren Solopart durchlebt; an ihren Lippen sehn wir, sie singt mit.

Obwohl rund dreißig Jahre früher entstanden, war das Stück als Brücke von Prokofjev her ziemlich gut gewählt, auch wenn es – und weil es –unterm Strich ein ziemlich großer, doch auch grandioser Hollywood-Kitsch ist, namentlich im zweiten Satz und zum Schluß des dritten. Wirken freilich tut sowas immer, vor allem, wenn ein Saal zweieinhalbtausend Plätze hat, die an drei Tagen hintereinander komplett ausverkauft sind.
Mit dem eigentlichen Thema allerdings und dem Kernstück des Abends, Paul Hindmiths aus seiner Oper destillierten Sinfonie „Mathis der Maler“, hatte das Klavierkonzert so wenig zu tun wie mit der Eingangsouvertüre – und schon gar nichts mit der jener inneliegenden Drohung, die sich im Abschlußstück, Ravels „La Valse“, bei Mallwitz geradezu terroristisch entlud. Was vom Komponisten anfangs gar nicht beabsichtigt war; da sollte es eigentlich Hommage sein, eine bittersüße Nostalgie, die übern Zeitenwandel seufzt, nicht aber den → Kultur-, bzw. Zivilisationsbruch vorausahnt.
„Der Teufel tanzt es mit mir“ hat Gustav Mahler in die unvollendete Partitur seiner Zehnten geschrieben. Ob Ravel das gewußt hat? Oder zog das Sentimentale sich die Maske rein selbst vom Gesicht? Daß am Ende der Walzer seine Fratze enttarnt, inszeniert Mallwitz geradezu ungeheuer … – inszeniert das Ungeheuer, indem sie sich auf dieses Sentimentale erst einmal vollständig einläßt, unironisch, hingegeben. Ohne aber auch nur einen Moment lang die Kontrolle zu verlieren, die am Ende eben die Musik selber verliert: Sie hat, ohne es zu merken, ihren eigenen Untergang bewirkt. Nicht mal für Bitterkeit bleibt dann ein Raum, nur noch fürs Entsetzen. Das uns ja wirklich derzeit droht. So gesehen, war Ravels „La Valse“ ein grausiges Lehrstück für unsere heute wieder antisemitischen Tagen.
Besonders raffiniert deshalb, den Walzer mit Hindemiths Grünewald-Sinfonie zu kombinieren; er mußte auf sie auch folgen, hätte, wäre er vorangegangen, die, ich schreib es ungeschützt, „heiligen Klänge“ denunziert, deretwegen allein ich eigentlich hergekommen war. Na gut, „La Valse“ hatte mich ebenfalls gelockt. Aber „Mathis der Maler“, so gut ich sowohl die Sinfonie als auch die Oper aus Aufnahmen kenne … live hatte ich sie noch niemals gehört. Wie dankbar bin ich jetzt, dass ich‘s unter Mallwitz durfte!
Wiewohl fast meditativ, jedenfalls weit von musikalischen Katastrophen entfernt – vor allem mit einem wirklich selten so erhaben samtigen Bratschenklang wie am Sonnabend –, steht dennoch diese Sinfonie sinnbildhaft für einen Widerstand gegen Barbarei, in Hindemiths Fall speziell der Hitlergoebbels-Schrecken, die das als „entartet“ verbannten und den Komponisten ins Exil getrieben haben. Anders indes als Furtwänglers, der nach der von ihm gegen Parteiwillen aufs Podium gebrachten Uraufführung seine Ämter verlor, doch bereits ein Jahr später wieder dirigieren durfte, war Hindemiths einst weltweiter Ruhm auch nach dem Untergang der deutschen zwölf von tausend Jahren ein für allemal verloren; einem größeren Publikum (das umso mehr den Rachmaninov liebt) ist er quasi noch heute vergessen – ein Schicksal, das sein Werk mit dem von vielen Künstlerinnen, Künstlern teilt, die emigrieren mußten. Nur dass er tatsächlich ein ganz Großer war. Deshalb könnte vielleicht gerade Mallwitz, die sich unterdessen schon Kurt Weils Orchesterwerk →erfolgreich angenommen hat, eine Hindemith-Renaissance initiieren. Was würden wir da Ohren machen! Was da mal alles war! Und was auch nachher hat dürfen nicht mehr sein, nach 45; angeblich war da nur noch der → „Kahlschlag“ geblieben. Wollen wir Hitler wirklich solch einen Sieg überlassen? Es wurde schon → viel dagegen getan, das ist wahr, doch fehlt es, um wirklich zu wirken, an Aura, an Glanz, vor allem an der – Leichtigkeit. Was die Mallwitz alles hat.
Jedenfalls steht sie wohltuend gegen (musik)ästhetische Dogmen. Das ist mal ausgemacht. Sie „dient“ nicht der Musik. Nein, sie ist sie. Und hat darum das Recht, auch in sie einzugreifen. Genau wie in der Literatur „wissen“ auch Werke der Tonkunst oft mehr als ihre Schöpfer, Schöpferinnen. Partiturtreue ist deshalb eine höchst ambivalente Angelegenheit – zumal längst als banaler Evergreen konsumiert wird, was etwa zu Ravels Zeiten den Ohren kaum noch aushaltbar war: 1928 fanden nicht wenige Leute die Uraufführung ausgerechnet seines Boleros → völlig unerträglich. Um also das zu bewahren oder wieder Klang werden zu lassen, was ein Stück einmal ausgemacht und womit es provoziert, die Menschen erregt und aufgeregt hat, ist es notwendigerweise mit unsrer veränderten Zeit zu denken (gehört wird es so sowieso, und empfunden) und also auch mit Gegenwart zu interpretieren. Deshalb können sogar extreme Auffassungen, extreme Dirigate unumgänglich sein, auch wenn sie von den kompositorischen Vorgaben abweichen sollten. Schon Gould, mit Bach, hat das gewußt. Und danach gehandelt.
Aus dem Hindemith nun – spürbar Mallwitz’ Herzensstück – läßt sie ein Schweben aufsteigen, das Ravels Walzer danach noch ganz besonders, und zwar aufs irdischste, radikalisiert; eigentlich, so dachte ich während des Konzertes, müßte man die beiden Stücke fortan immer kombinieren, aber eben nur dann, wenn, wie Mallwitz es tut, jede Wendung ernst genommen, ernst gefühlt wird, egal, ob Aufruhr, Kitsch oder was sonst noch in der Partitur steckt; ihr, der Mallwitz, Blick ist niemals pädagogisch – genau das, meinem Eindruck nach, läßt sie auch so auf ihre Musikerinnen und Musiker wirken: dass sie mit ihnen etwas ‚einstudiert‘, wär viel zu pragmatisch ausgedrückt; schon gar nicht ‚befiehlt‘ sie ihnen was (geschweige, dass sie herumschreien würde wie manche ihrer, auch berühmten, männlichen Kollegen). Sondern sie legt nahe – leitet aber doch, leitet durch Beseelung. So darf sie, ohne banal oder klebrig zu werden, sogar vom Göttlichen sprechen, das in der Musik sei. Täte ich, der ich nicht näherungsweise ihre – dummes, weil bürokratisches Wort: – „soziale Kompetenz“ habe, dergleichen für die Literatur, es wäre nur peinlich und/oder zeugte von Größenwahn. Bei ihr hingegen klingt es wahr; ihr Dirigat läßt es auch hören. Das abstrakte Wort wird bei ihr sinnlich, das ‚Einstudierte‘ scheint geradezu wegzufallen, so sehr es auch dazugehört.
Weshalb ich immer wieder darüber meditiere, was, neben dem enorm tänzerischen, eleganten Ausdruck, ihren musikalischen Führungsstil eigentlich ausmacht, den ich → dort Zauber, Mallwitzzauber, genannt habe. Ist es ihre Offenheit, ihr nicht-verschlossen-, Unverschlossensein? Sie dirigiere semantisch, auch das schon kam mir in den Sinn, und niemals autoritär, nicht mal in einem patriarchal- guten Sinn von „väterlich“ (es gibt auch den, sehr viel häufiger, üblen). „Mütterlich“ wirkt sie aber auch nicht, hat ja keine Kinder vor sich, die im Orchester sitzen. Es sind Partnerinnen, Partner. Die Berliner Philharmoniker sowieso, aber auch aller andren Orchester, erst recht die ihres nun eigenen, des Konzerthausorchesters.
Ist dies die eigentliche Botschaft, der „sanfte Flügel“, den wir spüren, weil die ja eigentlich, wie GOttes Name, geheim ist? So, wie Mallwitz sich seitlich, beim Rachmaninov, immer wieder der Pianistin zubeugte: beim zugleich Dirigieren – um Anna Vinnitskaya zu lauschen, wie in den Noten sie schwelgte. Schon rein artistisch war das ein Wunder, von der und von ihr.
Selbst als der rasende Applaus beinah schon vorüber und gar niemand mehr auf dem Podium stand, geschweige saß, es geleert vom gesamten Orchester war, klatschten die Menschen Joana Mallwitz noch einmal heraus, die wahrscheinlich selbst nicht wußte, wie ihr geschah. Mußte sie auch nicht. Daß sie es wußten, genügt. Denn, um den Weimarer jetzt mal zu wechseln: Das Unbeschreibliche, hier ward‘s getan.
Erleben Sie das Konzert von Joana Mallwitz in der digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker.
Letzte Änderung: 14.03.2025 | Erstellt am: 10.03.2025
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