Entropie des nicht möglichen möglichen Glücks

Entropie des nicht möglichen möglichen Glücks

Opernkritik zu György Kurtágs »Fin de partie«
Bühne Fin de Partie Staatsoper Berlin | © Alban Nikolai Herbst

Am 12. Januar 2025 feierte die einzige Oper des ungarischen Komponisten György Kurtág »Fin de partie« nach Samuel Becketts »Endspiel« an der Staatsoper Unter den Linden, Berlin, in einer Inszenierung von Johannes Erath Premiere. Die letzte Vorstellung findet am 2. Februar 2025 statt. Alban Nikolai Herbst hat das Stück gesehen und geht zum näheren Verständnis in die Tiefe.

»Schaurig« stieß ich tonlos aus, kaum war das Bühnenlicht erloschen. Mein Freund und Schriftstellerkollege Benjamin Stein, der mich begleitete, vernahm es und mißverstand mich komplett: »Im Ernst?« »Im Ernst, ja.« »Wieso denn das? Die Inszenierung ist doch großartig.«
Ich mußte mich erklären, jetzt war noch nicht die Zeit. Aber dann beim Wein, altes Telegraphenamt, Monbijoustraße knapp Ecke der Oranienburger, Sushi für Gourmets, luxuriöse coole Bar und im Kellergeschoß der Weg zu den Toiletten innenarchitektonisch ein surreales Abenteuer … ─ dann war sie da, die Zeit:

»Sie ist überwältigend, du hast ganz recht, diese Inszenierung. Die meinte ich auch nicht. Sondern ich habe Schwierigkeiten mit dem Stück selbst, Beckett insgesamt zieht mich in die Depression, ich fühle mich hilflos, ausgeliefert, ja gelähmt wie Hamm, der Mann im Stück. Es gibt da für mich kein Entkommen. Beckett streicht mir die Lebensfreude durch.«

Allerdings, muß ich jetzt hinzufügen, mag ich auch schon Clowns nicht; für Beckett sind sie zentral. Was Olaf A. Schmitt in dem klugen Programmbuch beschwärmt. Indessen ich hab noch keinen gemocht. Alle, in ihrem angeblich komischen Ungenügen, sind sie mir unaushaltbar – den → Joker vielleicht ausgenommen, doch der ist böse, das macht ihn erträglich. Becketts Clowns hingegen sind ausgeliefert erniedrigt. Gefangen zumal in sich selbst, haben sie keine Zukunft, nur noch ihre Groteske – oder, wie es heißt, die Absurdität des Lebens, über die sie selber, wenn sie nicht schimpfen, lachen. Für einen schweren ADHsler wie mich ein geradezu lähmender Zustand, die pure Entropie.

Nein, ich kann die Welt nicht absurd finden und mich abfinden oder gar mich damit befrieden. Ich leb zu leidenschaftlich gern. Und habe fortan, seit ich als junger Mann »Warten auf Godot« zum ersten Mal und bald auch noch das »Endspiel« gesehen, den genialen Iren gemieden, wie es nur ging. Vielleicht aber, hatte ich diesmal gedacht, hilft die Musik.

Und so war’s. Obwohl sich der Komponist dicht an Becketts Vorlage hält, hat er ihr eine Freiheit geschenkt, die dem Theaterstück mangelt. Wie nämlich ich selbst kein menschliches Unglück als komisch empfinden kann, sondern immer direkt das Unglück empfinde, gegen das ich sofort anrennen will, schenkt Kurtág ihm, wenn auch in stets nur Momenten, Klangtupfer aus tonal fast harmonischem, geradezu sanglichem Atmen. Er verdoppelt nicht das Unheil, obwohl er mit Wiederholungen permanent umgeht, sondern – eigentlich wie Adorno es dachte – diese Momente lassen aus Becketts »absurden« Negationen die Utopie eines möglichen Glückes erklingen. Die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle Berlin setzen das überwältigend um, berauschend überwältigend. Wäre nicht zugleich die Szene derart phantastisch, ich hätte meine Augen geschlossen, um mir die clownesken Faxen nicht antun zu müssen.
Die zu sehen aber notwendig ist.

Doch wer genau hinhört, vernimmt in dem ganz zu Anfang zart und verloren von Dalia Schaechter gesungenen Lied (nach Becketts Gedicht Roundelay) durchaus Walt Whitmans On the Beach at Night Alone in → Ralph Vaughan Williams’ Vertonung von 1909, nur eben ohne (Spät)Romantik bzw. durch Anton von Webern verdichtet. Hören Sie einfach mal dessen Sechs Bagatellen op. 9; Sie werden dann, was ich meine, ganz unmittelbar verstehen: Von klanglichen Erlösungsfunken möchte ich sprechen, die die gesamte Oper durchfunkeln.
Es ist dies, was uns, jedenfalls mir, eine Distanzierung erlaubt, die Becketts Stücke selbst nicht in mir bewirken; ich schrecke vorm Zynismus seines Lachens zurück, empfinde es grob als Gelächter – eine intellektuelle Spielart von→ Schadenfreude. Die nimmt Kurtágs Musik nicht nur zurück, nein, er streicht sie aus dem Stück.

Dessen Schaurigkeit ist dennoch gewahrt, Kurtág verfälscht seinen Beckett nicht. Doch wenn wir das Opernhaus verlassen, werden wir nicht hilflos mit uns alleingelassen. Schon das, in der Tat, ist grandios. Wahrscheinlich habe ich am Dienstag eine der seltenen Inszenierungen erlebt, die ich niemals mehr vergessen werde.

Bühnen Karussell | © Foto: Monika Rittershaus

Dazu gehört auch Kaspar Glarners Bühnenbild, das aus diesem selbst sowie den mit ihm unlösbar amalgamierten Filmaufnahmen Bibi Abels vor unseren Augen als Entgrenzung uns vertrauter Dimensionen ersteht. Irgendwann können wir gar nicht mehr entscheiden, was Film und was materiell tatsächlich da ist; dieselben Personen, die wir eben noch »normal« auf der Bühne sahen oder gleichzeitig weiterhin sehen, stolzieren unvermittelt als Riesen durch den Raum, und was wir für einen kleinen runden Bühnenausschnitt hielten, in dem das Nichtgeschehen geschieht, wird zum Oval eines Spiegels, der ein Bild zurückwirft, für das es gar kein reales Reflexionsobjekt gibt.

Nicht alles, aber vieles fängt nahezu zu schweben an. Spannenderweise zeigt sich hier eine szenische Verwandtschaft mit Nico & The Navigators’ → »The Whole Truth about Lies«, das zwar gleichfalls auf Erkenntnis, doch auf Unterhaltung angelegt ist. Ein Endspiel aber ist kein Spiel, kein Clown der Welt täuscht drüber weg. Anders deshalb, völlig anders, das kleine umgekippte Riesenrad – eines für Kinder eigentlich – , in dem der Inszenierung zweite Hälfte spielt und das die Katastrophe, die offensichtlich stattgefunden hat, entsetzlich dinglich darstellt. Die Kabinchen sind letztlich Monaden, die Passagiere darin, so es noch solche gibt, kommunizieren nicht mehr, sie tun nur noch so. Imgrunde herrscht die Entropie längst, von der ich oben sprach. Ist es denn wirklich so, daß der Kirmeslichter Rund wieder zu funkeln beginnt? – und einmal, echt?, dreht sich das Riesenrad sogar???
Erinnerung?
Traum?
– Oder bloß ein Wunsch, ein erkämpfter Tagtraum aus Not? … wie sie Versehrte haben? Denn das sind sie ja alle: Nell und Nagg, beinamputiert in ihren Mülleimern, und Hamm in seinem Rollstuhl, der, ich schreib mal, »Patriarch«, ihr Sohn. Und dessen Diener Clov, der selbst nur leidlich stehen, geschweige denn ohne Versteifungen gehen kann. Wobei niemals, ganz gegen den Augenschein, klar ist, wer hier wen bestimmt. Hegels »Herr & Knecht« at their worse. Clovs Pantomine zu Anfang, mit der Leiter, durchschaubar inspiriert von Charlie Chaplin und dem Liegestuhl. Auch auf dem Achterdeck der City of Chester könnten wir uns also befinden. Nur gibt es hier den Meereshimmel nicht. Die Bühne durch und durch klaustrophobisch und der Strand, an dem, aus einem Schlackehaufen, das erste Lied gesungen wurde, ganz am vorderen Bühnenrand in einem ungefähren Außerhalb, das selbst längst zur sentimentalen Erinnerung wurde, On the beach at night alone. Bei Beckett lautet der Text:

on all the strand
at end of day
steps sole sound
until unbidden stay
then no spound
on all that strand
long no sound
until unbidden go
steps sole sound
long sound sole
on all that strand
at end of day

Dieses »long no sound« bestimmt Kurtágs gesamte Partitur; daß er Becketts fast zwanzig Jahre nach seinem »Endspiel« geschriebenes Gedicht in die Oper implantiert, ist mehr als nur ein Fingerzeig. Es ist vielmehr der Schlüssel.

Daß ich über die Inszenierung heute erst schreibe – bitte verzeihen Sie’s mir. Für die Premiere am 12. Januar fragte ich um die Pressekarte zu spät und habe deshalb auf die dritte Aufführung ausweichen müssen. Leider – denn nur drei Mal nun wird Kurtágs Oper in dieser Spielzeit noch gegeben werden. Nutzen Sie die Chance! Allein, was die anderen drei, die noch nicht Genannten, nicht »nur« sanglich, sondern deklamatorisch leisten, ist enorm; ich will auch sie unbedingt noch nennen: Laurent Naouri, Bo Sovhus und Stephan Rügamer. Die instrumentale Leistung wiederum, zu der Alexander Soddy die Staatskapelle und Orchesterakademie, ja, verführt, möchte diese Große Oper-aus-sehr-kleinen-innig-verbundenen-Teilen fortan gewiß nie wieder missen. Er hat es durch (»gefühlt«) extrem langsame Tempi geschafft, daß die, ohne Pause, einunddreiviertel Stunden grade mal wie eine wirkten, ohne daß – im Sinne »klassisch«-ästhetischer Teleologien – wirklich etwas geschehen wäre, nichts, als daß der Patriarch unter seinem Tuch am Ende wieder verschwindet.

Wie gut die Kälte tat, Finger in den Fingern der Nacht, als wir das Haus verließen! Wie atmete Freiheit diese Stadt! – trotz der Bedrohung, politisch-brachial, deren Endspiel wir vielleicht grad als Vorspiel die Zeugen gewesen, zumal nach Donald Trumps entsetzlicher Inauguration – und hatten alleine im Klang die Hoffnung noch gehört. Schaurig also, einfach schaurig. »Absurdes Theater« aber nicht.

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ANH, Januar 2025
Berlin

György Kurtág
Fin de partie
Oper in einem Akt (2018)
Text von Samuel Beckett

Inszenierung Johannes Erath (Spielleitung José Darío Innella, Marcin Łakomicki) – Bühne Kaspar Glarner – Kostüme Birgit Wentsch – Licht Olaf Freese – Video Bibi Abel – Dramaturgie Olaf A. Schmitt

Hamm: Laurent Naouri – Clov: Bo Skovhus
Nell: Dalia Schaechter – Nagg: Stephan Rügamer

Staatskapelle & Orchesterakademie Berlin
Alexander Soddy

Nächste Vorstellungen:
24. und 31. Januar, je 19.30 Uhr
2. Februar, 18 Uhr
KARTEN

Letzte Änderung: 24.01.2025  |  Erstellt am: 23.01.2025

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