Die wahre Liebe

Die wahre Liebe

Butoh im Frankfurter Gallus Theater
Tadashi Endo | © Maciej Rusinek

Butho ist eine Ausdruckskunst, die sich gleichermaßen von der Tradition und der Moderne distanziert. Zugleich geht sie aufs Ganze. Ohne Vorgaben, Form oder gestisches Repertoire bringt der Künstler unmittelbar seinen Körper zur Sprache, die von seinen innersten Regungen erzählt. Ulrich Breth hat Tadashi Endos „Maboroshi“ in Frankfurt besucht.

Tadashi Endos „Maboroshi“

Als Tadashi Endo im Rahmen seines zweitägigen Gastspiels am Frankfurter Gallus Theater am Ende der zweiten Vorstellung vor das Publikum trat und sagte, dass er nicht sicher gewesen sei, ob er seinen Soloauftritt zuende tanzen könne, war das weitaus mehr als die Bemerkung eines älteren Tänzers, der bei der Ausübung seiner unvergleichlichen Kunst seinem Körper gelegentlich Tribut zollen muss. Vielmehr teilte er mit seinem Frankfurter Publikum einen intimen Moment, in dem sich zugleich etwas vom Wesen des Butoh-Tanzes offenbarte. Denn im Butoh sind, wie Gabriele Endo einst in ihrem Beitrag für den Katalog der Ausstellung tanz & tod des Kasseler Museums für Sepulkralkultur formuliert hat, Mittel und Gegenstand identisch: nämlich der Körper.

Tadashi Endo | © Foto: Maciej Rusinek

Dem Butoh, dem Tanz der Dunkelheit, der in Japan Anfang der 1960er Jahre sowohl als Abkehr von der traditionellen japanischen Form des Tanzes als auch vom westlichen Tanzstil entstanden ist, fühlt sich Endo verpflichtet, seitdem er 1989 Kazuo Ohno, einem der beiden Begründer dieser Tanzform, in Wien begegnet ist. Über diese Begegnung hat er einmal gesagt: Ich bin kein Tänzer und ich habe nie tanzen gelernt. Aber ich habe ganz viel von Kazuo Ohno gelernt, nicht unbedingt was Tanz betrifft, sondern über das Leben – und das tanze ich. In dem kurzen Zitat wird sowohl das Verhältnis zwischen Schüler und Meister als auch der entscheidende Wesenszug des Butoh benannt. Er ist darin zu sehen, dass diese Tanzform nicht lehrbar ist, sondern im Moment der Aufführung aus dem Tiefinneren des Körpers hervorgebracht wird. Die Kunst des Butoh besteht folglich darin, dem flüchtigen Augenblick Dauer zu verleihen und das Unsichtbare sichtbar zu machen.

Das Zitat stammt aus dem Bildband „Tadashi Endo. Das Königreich der Körperpoesie“ des Frankfurter Fotografen Maciej Rusinek, der den in Göttingen ansässigen Tänzer und Choreograph in den vergangenen drei Jahrzehnten bei zahlreichen Aufführungen begleitet hat. Mehr als ein Dutzend Produktionen sind in dieser Zeit entstanden, in denen sich Endo als Solist oder mit Tänzerinnen und Tänzern seines MAMU Dance Theatres mit Themen wie Krieg, Flucht, Migration, Umweltkatastrophen, der Zuschreibung von Geschlechtsrollen, der Choreographin und Tänzerin Pina Bausch oder dem eigenen Leben auseinandergesetzt hat.

Tadashi Endo | © Foto: Maciej Rusinek

Am 27. und 28. Januar 2023 ist Endo mit „Maboroshi“, einem seiner persönlichsten Stücke, ins Gallus Theater zurückgekehrt. Es ist anlässlich des Todes seiner Mutter entstanden und lässt sich als Versuch verstehen, der Erfahrung von Tod und Verlust in tänzerischer Form Ausdruck zu geben. Bereits 2014 und 2016 ist es am Gallus Theater zu sehen gewesen. „Maboroshi“ bedeutet in der japanischen Sprache ein gestaltloses Wesen, im näheren Sinne die Seelen der Menschheit. Auf seiner Homepage butoh-ma.de hat Endo ausgeführt, was er mit dem Titel seines Stücks verbindet.
Alle Menschen haben einen Körper und eine Seele. Der Körper verschwindet, aber die Seele schwebt irgendwo hin. Ist sie unsichtbar?
Auch Tote können träumen und nur im Traum können sie mit uns Kontakt aufnehmen. Dann haben wir das Gefühl, als ob etwas im Raum ist. Wir wissen nicht, was, aber wir spüren es. Manche Tote können nie in Frieden ruhen, weil sie einen unnatürlichen Tod gestorben sind, z.B. durch Mord, Folter, durch einen Unfall. Immer wieder tauchen sie als entstellte Kreaturen auf. Sie sind die Untoten. Aber schließlich ist der Tod ein durchsichtiges, schönes Gespenst.
Die wahre Liebe ist wie ein Gespenst.

Bereits in den ersten Momenten der Aufführung teilt sich dem Zuschauer das diffuse Gefühl, als ob etwas im Raum ist, mit. Ein schwacher Lichtkegel in der Bühnenmitte, der den ganzen Raum in ein düsteres Zwielicht taucht, in der eine allenfalls erahnbare Gestalt umherzieht. Erst als der Lichtkegel intensiver wird, gewinnt die Gestalt, die sich aus dem Hintergrund auf ihn zubewegt, Kontur. Ein älterer Mensch in traditioneller japanischer Kleidung in einem prachtvollen Kimono zeigt sein ausdrucksstarkes schönes Gesicht. In den nächsten Minuten wird er sich mit minimalistischen Gesten im Bühnenraum bewegen, einer Marionette nicht unähnlich, die tastend den Weg ins Licht sucht, und stets der Gefahr ausgesetzt bleibt, den Halt zu verlieren und auf den Boden zu sinken. Aus dem sparsamen Vokabular seiner Bewegungen und der Tonspur, in der Klänge östlicher und westlicher Musik und die Geräusche eines Gewitters und eines niedergehenden Regens ineinander übergehen, formt sich ein Bild des Lebens, in dem das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit und die Erinnerung an alle, die vor uns gelebt haben, einander durchdringen.

Dafür findet Endo eindrückliche szenische Bilder, in denen er den Raum durchquert, seine Arme und Beine suchen den Weg ins Helle. Manchmal ist er fast schon kein Mensch mehr, sondern ein Lebewesen, das einem geheimen Heliotropismus folgt. Doch stets bleibt er dem Publikum als leibhaftiges Gegenüber zugewandt.

Einmal tritt er von links ins Licht der Bühne; dabei trägt er die Geta, die japanischen Holzsandalen mit den hohen Sohlen, die das Gehen zu einer ritualisierten Form der Fortbewegung machen. Schließlich streift er sie ab, um mit seinen Füßen unmittelbaren Kontakt mit dem Boden der Erde aufzunehmen. Allein von solch zurückhaltenden Gesten, in denen sich unser zivilisatorisches Selbstverständnis reflektiert, ist zu erwarten, dass wir unser verloren gegangenes Verhältnis zur Natur zurückgewinnen.

In seiner kurzen Ansprache an das Publikum sagte Endo, dass ihm neben seinem Göttinger Domizil, in dem das von ihm gegründete Butoh-Zentrum MAMU angesiedelt ist und wo er regelmäßig Workshops abhält, das Frankfurter Gallus Theater zu einem zweiten dauerhaften Spielort geworden ist, wo er sein Publikum gefunden hat. Es ist zu hoffen, dass er dort wie hier weiterhin auf der Bühne zu sehen sein wird.

Letzte Änderung: 21.02.2023  |  Erstellt am: 21.02.2023

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