Die einen jeden Akt durchschreitet
Ein „Hoffmann“, der Generationen elektrisiert: Diese Inszenierung sprengt Erwartungen, fegt Staub von alten Sehgewohnheiten und zieht selbst jene in ihren Bann, die mit Oper sonst wenig am Hut haben. Was auf der Bühne geschieht, ist ebenso packend wie überraschend – ein Abend, der nicht nur erfahrene Operngänger, sondern auch junge Zuschauer mitreißt. Wer sich darauf einlässt, erlebt eine rastlose, kraftvoll dirigierte Offenbach-Welt, die man so schnell nicht vergißt. Nehmen Sie Ihre Kinder mit – ab sechzehn unbedingt –, denn dieser Hoffmann brennt sich ein: mitreißend, rätselhaft, unvergeßlich.
Welch fulminante Inszenierung! – und dies in gleich mehrerlei Hinsicht. Nicht nur die Bühnenbilder sind ein Rausch (was – im Wortsinn – Höllentrips einschließt), sondern Sängerinnen und Sänger agieren auch darstellerisch exakt auf den Punkt. Das eigentlich Spannende aber ist, daß selbst wenn wir Einwände haben gegen die uns hier vorgeführte Interpretation – etwa, was die Haltung zu und Charakterisierung von „Musen“ angeht, aber auch des „Genies“ (ich selbst habe Vorbehalte sogar massiv) – … daß selbst dann begeistert zugegeben werden muß, es sei, was immer das Regieteam uns vermitteln wollte, als Grundlage für eine hinreißende Interpretation geradezu perfekt. Die Inszenierung gelungen zu nennen, ist um Kilometer zu nüchtern gesagt.
Schon als Theater stimmt fast alles, das pure Handwerk schon mal vorweg: Nichts wirkt aufgesetzt, der Abend kommt fast ganz ohne die üblichen Mätzchen des Regietheaters aus; alles wirkt wie unausweichlich nötig. Na gut, ein paar Verklemmte mögen sich an den überdimensionierten Phalli stören, die der Teufel und seine (übrigens fantastisch gleichsam getanzten) Unterteufel- und – teufelchenchen schon bei ihrem ersten Auftritt präsentieren. Nur haben Darstellungen dieser Art unsre Moderne, geschweige Nachpostmoderne in keiner Weise nötig; sie durchziehen seit je die Menschheitsgeschichte, und zwar auch und grade in ihren Hoch- und Höchstkulturen. Allerdings wird dergleichen unfreiwillig komisch, wenn so ein Ding nicht stehen will wie irgendwann im zweiten Akt. (Ich zähle nicht wie Frau Steier in fünf Akten, sondern in dreien plus Vor- und dem Nachspiel). Aber das, die Erschlaffung, war ein, nehmen Sie es wörtlich, Materialdefekt und ist allein der Maske anzulasten (Usula Kuma). Irgendwas am Hosenschlitz hat gehakt. Der Regie tut sowas keinen Abbruch. Im Gegenteil, selbst die Massenszenen sind bis ins Detail choreografiert; höchst selten, daß mal jemand nur so herumsteht, um sichtlich auf den Einsatz zu warten, bis dahin sehn wie den Leerlauf ihm an. Nö, gar nicht … oder gaaaanz ganz selten, etwa Hoffmann – in ebenfalls Akt II – … bevor er sich entscheidet, vielleicht nun doch mal einzugreifen. Er spurtet auch schon los, die Treppe hinauf zur Geliebten – da zieht man sie ihm weg, also beide, die eine konkret, die andre metaphorisch. So liegt er denn dann da und hält sie, die Frau, nimmer, nimmer auf, sich zu Tode zu singen.
Verblüffend logisch übrigens, daß sie, Antonia, nun in den Pelz der Mutter schlüpft, die wiederersteht, wieder aufersteht aus ihr und in ihr, sagen wir: durch sie hindurch, bloß um ein zweites Mal zu sterben – oder gar? müssen wir kurz denken, in Ewigkeiten wieder, wieder?: Schnitters Perpetuum mobile???
Glück bei den Frauen hat dieser Hoffmann also keins, und erst recht nicht mit. Doch das sei, als Dichter, sein Glück. So will es die Muse ihm weisen. Weshalb er sich wie ein Radikalexistentialist der frühen Sechzigerjahre benimmt. Paßt zu Paris ja ganz gut. Da liegt er auch am Anfang besoffen auf der Gasse. Nur kann es von Paris nicht wirklich eine sein – weil sich „Lutter & Wegner“, das Lokal, am Gendarmenmarkt befand, Berlin, und heute noch immer befindet. Schräg südlich gegenüber hat Hoffmann Die Elixiere des Teufels gebraut. Wenn aber jemand nun meint, „Purgatory“, Lutter und Wegners neuer Name auf der Staatsopernbühne, führe direkt in die Hölle hinein, sei des Umstands belehrt, daß hinaus – jedenfalls bei Dante (Per correr miglior acque alza le vele).
Bei dem der Läuterungsberg noch „Purgatorio“ hieß. Nun gut, hier liegt er in Paris. Weshalb dann nicht „Purgatoir“? Na jà, Frau Steier erinnert sich halt ihrer Kindheit in den USA, assoziiert, wie sie → im Programmbuch erzählt, das New York der Achtziger-, aber auch ikonographische Prägungen aus den Vierzigerjahren – ein bißchen, als wäre uns für Paris Toulouse-Lautrec persönlich vertraut – der bei Jacques Offenbach der treffende Bezug gewesen wäre, auch wenn er es nicht war (als er starb, war der Maler grad mal sechzehn). Doch gelten beide als die Künstlerseelen- überhaupt des Paris des XIXe siècle. Das mochte Frau Steier wohl nicht mitplakatieren. So wurde aus dem Läuterungsberg ein Purgatory halt und die Läden auf der Gasse bieten „Liquors“ an (und „Towels“ im Bordell). Egal, daß hier ein Saxophon fehlt, die Bildkraft ist durchweg ungeheuer (Bühne: Momme Hinrichs). Da kommt uns, im erste Akt, auch Disneys (und zahlloser Musicals) Christmas-Verkitschung ganz recht, nämlich als Kirmes-Weihnachtsmarkt, der statt des Hauses Spalanzanis die ausgewählten Gäste gleich das ganze Volk empfängt, besonders auch die Kinder. Da stürzen wir durch Bilder geradezu – und daß die Lindenoper endlich einmal wieder nicht die Dreh-, sondern ihre einzigartige Hebebühne nutzt, ist dafür mehr als nur ein Schmankerl obendrauf: Es wird vielmehr Substanz. Einzig der Venedig-Akt, in der hier gespielten Fassung der letzte vor dem Nachspiel, fällt bei alledem doch ab – nicht so sehr, weil das Bühnenbild eher ein Hochsicherheitsgefängnis denn ein Bordell assoziieren läßt (nicht nur beklemmend, vielmehr als woker Kommentar durch und durch zurecht), sondern weil zum ersten Mal die Interaktion des von Roberto Tagliavini stets perfekt ausgespielten Teufels und aber der leider extrem karikaturhaften Giuletta (Russ Meyer, freilich, hätte an Sonja Herranens Erscheinung eine ebensolche Freude wie Federico Fellini gehabt) nicht wirklich Funken zu schlagen vermag; die Szene kippt ins lächerlich Groteske, hat etwas Vorgeführtes ohne Erdung. Bei der obwohl äußerlich öde bürgerlichen Antonia im zweiten Akt war das völlig anders; gerade die Differenz von Stimme und Aussehn gab ihr den Raum, seine Weite und Tragik – und daß man sich auf den Schenkel eben nicht klatschen konnte. Bei Giuletta darf man ihn klätscheln, was zur Seichtigkeit von Offenbachs Barcarole-Geplätscher allerdings paßt.
Frau Steier weicht freilich auch in einem entscheidenden Punkt von Offenbachs Konzeption ab. Wobei sie nicht die einzige ist, es zu tun; schon zu Offenbachs Zeiten (oder kurz danach; er erlebte die Uraufführung seiner Oper nicht mehr) waren, anstatt, wie vorgesehen, für alle Geliebten Hoffmanns eine einzige Sängerin zu nehmen, die Rollen immer wieder mal auf verschiedene Sängerinnen verteilt worden. Das mag bühnen- und besetzungstechnische Gründe gehabt haben, widerspricht aber gerade der eigentlichen Konzeption einer Muse. Womit wir wieder beim Anfang wären. Interpretiere ich sie, die Muse, wie Steier und ihre Dramaturgen (und wie, vor allem, Anke Charton im Programmbuch), ist die Aufteilung sogar notwendig, nicht nur schlüssig. Dann sind Musen auf reale Frauen, ohne daß die es wollen, projeziert und also patriarchale Konstrukte. Diesem realistischen Konzept folgt hier das Regieteam – von der ersten Geliebten, Olimpia, einmal abgesehen, die als Automat(in) eh ein rein männliches Konstrukt und nicht etwa organisches Geschöpf ist. Was Hoffmann allein der Umstands wegen nicht bemerkt, weil ihm der mysteriöse Coppélius eine Zauberbrille aufgeschwatzt hat, die selbst Tische, Stühle und Türen belebt. Man muß sie nur so ansehen – und dann wohl erst recht die Puppe des gastgebenden Herrn Spalanazi. Übrigens wird sie am Ende zerstückelt. Ein Schelm, der „Orpheus“ dabei denkt …
Nein, ich habe diese mir an sich nicht nahe Interpretation auf der Bühne sehr genossen – und mein fündundzwanzigjähriger Sohn erst recht. Auch das ist eine ihrer Stärken, daß sie auch junge Menschen mitreißen kann, die sonst in völlig anderen, auch und gerade musikalisch fernen Gefilden ihre Segel setzen. Ich mag Ihnen deshalb nicht nur raten, sich diesen Hoffmann anzuschauen und die enorm drängend dirigierte Komposition anzuhören, sondern nehmen Sie unbedingt Ihre Töchter mit, und Söhne. Für alle, die über sechzehn sind, paßt’s. Niemand wird diesen Abend mehr vergessen – und auch nicht, daß es da eine sehr, sehr kleine rätselhafte alte Dame gibt, die einen jeden Akt durchschreitet …
Die nächsten Aufführungen:
28. November 2025, 19 Uhr
4. Dezember 2025, 19 Uhr
5. März 2026, 19 Uhr
Jacques Offenbach
Les Contes d’Hoffmann
Opéra fantastique in fünf Akten (1881)
Text von Jules Barbier nach dem
gleichnamigen Schauspiel von
Jules Barbier und Michel Carré
Inszenierung Lydia Steier – Spielleitung Leander Teßmer,
Caroline Staunton – Bühne, Video Momme Hinrichs
Kostüme Ursula Kudrna – Licht Olaf Freese
Choreographie Tabatha McFadyen
Einstudierung Chor Dani Juris
Dramaturgie Maurice Lenhard, Christoph Lang
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Benjamin Bernheim – Regina Koncz – Siobhan Stag
Clara Nadeshdin – Alex Esposito – Samantha Hankey
Andrés Moreno García – Irakli Pkhaladze – David Oštrek
Junho Hwang – Florian Hoffmann – Stefan Cerny
Anna Kissjudit – Jaka Mihelač – Brigitte Eisenfeld
Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin
Betrand de Bilkly
Letzte Änderung: 30.11.2025 | Erstellt am: 29.11.2025
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