Der zwölfte Schlag der Mitternacht

Der zwölfte Schlag der Mitternacht

Ein melancholischer Bericht vom Schauspiel Frankfurt
Orlando | © Jessica Schäfer

Das Theater lebt vom Bezug auf die Gegenwart, selbst und vor allem, wenn er auf der Bühne nicht ausdrücklich ausgestellt wird. Zugleich bringt die Theaterarbeit leicht eine ästhetische Parallelwelt hervor, die von der Theatergeschichte oder von anderen Inszenierungen beeinflusst ist, also vom Theater selbst. Die Neugier darauf, was an geglückten Stücken entstand, hat Martin Lüdke zu Saisonbeginn zum „Geizigen“ und zu „Orlando“ ins Frankfurter Schauspiel getrieben.

Zwei Premieren zu Beginn der neuen Spielzeit. Und: Ein Dilemma. Molieres Komödie „Der Geizige“ wurde wenigstens noch vom Blatt gespielt. Und zwar ohne weiteren interpretatorischen Anspruch, aber damit auch ohne sinnfreie Eingriffe in den überlieferten Text.
Anders bei der Adaption von Virginia Woolfs berühmten Roman „Orlando“. Da geht es um eine die Jahrhunderte übergreifende und zugleich die Geschlechtsgrenzen sprengende Abenteuergeschichte. Es ist ein tollkühn/übermütiges Spiel, das Virginia Woolf ihrer Freundin (und Geliebten) Vita Sackville-West buchstäblich auf den Leib geschrieben hatte. Und am Ende, so das Original, wird Orlando „ihre Brust dem Mond“ entblößen, der „zwölfte Schlag der Mitternacht“ wird ertönen, und es ist der 11. Oktober 1929.
Die an sich von Jessica Glause geplante Inszenierung war offenbar gründlich in die Hose gegangen. Deshalb haben der Intendant Anselm Weber und seine Dramaturgin Katrin Spira sozusagen in letzter Sekunde einen Rettungsversuch unternommen.

Der Geizige | © Foto: Thomas Aurin

 
 
I
Die Bühne ist leer. Nur von sehr hohen, bis in den dunklen Bühnenhimmel reichenden, aus großen, teils vergoldeten Holzquadraten zusammengesetzten, aber beweglichen Wänden begrenzt. Das gibt der Sache einen abstrakten, jedenfalls zeitlosen Rahmen. Das Personal, weitgehend in dunkler, leicht anbarockisierter Kleidung, sucht, damit gut sichtbar, die Zeitlosigkeit im siebzehnten Jahrhundert. Nur Harpagon, der komische Held, muss den Komödiencharakter am Leibe tragen. Kurzes Röckchen, Puffärmel, überlange Stiefel. Eine lächerliche Gestalt, aus der Peter Schröder allerdings das Beste zu machen versteht. Mit Hilfe von oben, natürlich.
Deus ex machina, also ein Gott, der aus der Maschine kommt, bezeichnet in der Theatergeschichte eine ebenso plötzliche und überraschende wie unmotivierte Lösung eines Problems, das mit vernünftigen und vorhersehbaren Mitteln nicht zu erwarten gewesen wäre. Sozusagen die rettende Hand aus dem Himmel.
Dabei ist das Problem, das sich in Molieres berühmten Stück „Der Geizige“ stellt, 1668, also vor über dreihundertfünfzig Jahren erstmals aufgeführt, leicht zu lösen. Das Stück geht übrigens auf eine sogenannte Goldtopf-Komödie des römischen Dichters Plautus zurück, von dem übrigens nur noch bekannt ist, dass er bereits 184 v. Chr. starb. Damit zeigt sich aber immerhin, dass es sich bei diesem Stoff offenbar um eine anthropologische Konstante handelt. „Geiz ist geil“. Seit jeher.
Der alte Harpagon, schon lange Witwer, sitzt nicht nur auf seinem Geld, sondern ist von einer panischen Angst geplagt, sein Vermögen könne ihm entwendet werden. Kein glücklicher Mensch also. Zwar reich, aber ein armes Schwein. Er möchte, ohne große Kosten, versteht sich, selbst auch wieder heiraten, und zwar ein junges, aber mittelloses Mädchen. Seine beiden Kinder, Sohn und Tochter, beide im heiratsfähigem Alter, will er deshalb ebenfalls, und selbstverständlich gewinnbringend, unter die Haube bringen. Für den Sohn steht eine alte Witwe bereit.

Peter Schröder zeigt, sehr konsequent, das Groteske an diesem komischen Stück. Es ist nicht der Frühkapitalismus, den Moliere im Auge hat. Sondern die anthropologische Konstante der puren Gier, das Haben um des Habens willen. Und, als Kehrseite, die bei Schröder deutlich zum Ausdruck kommt, die Angst, das, was man zusammengerafft hat, wieder zu verlieren. Dass ihm dabei das Leben verloren geht, das ist der Preis, den der Geizige dafür zahlt. Molieres Harpagon steht an einer Epochenschwelle. Raffgier und Geiz laufen gleichsam kontinuierlich durch die Zeiten, während sich, parallel dazu, aber nur in einer umgrenzten Epoche, die sogenannte ursprüngliche Akkumulation vollzieht, die den Beginn des kapitalistischen Zeitalters markiert. Die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik, die seit über zehn Jahren auch im deutschsprachigen Raum, durchaus erfolgreich, inszeniert, hat aber offenbar mit diesem Stoff etwas gefremdelt. Geiz, zweifellos eine anthropologische Konstante, nimmt, wie angedeutet, je nach Stand der geschichtlichen Entwicklung, eine jeweils spezifische Gestalt an. Die herauszuarbeiten, bleibt wohl die Aufgabe jeder neuen Inszenierung. Aber, sei’s drum, der immerwährende Geiz bringt seinen Betrachtern ein gleichfalls immerwährendes Vergnügen. Denn der Geizige, der seinen Zwängen ausgeliefert bleibt, garantiert für seine Betrachter – mindestens Schadenfreude. Davon lebt, davon profitiert die neue Inszenierung, die mit einem kräftigen Beifall belohnt wurde, der sich bei Peter Schröder bis zum Jubel steigerte.
 
 

Orlando | © Foto: Jessica Schäfer

 
 
II
Drei Tage später. Neuer Anlauf. Gleiches Dilemma. Während sich in der Frankfurter Deutsche Bank Arena die Profis der Frankfurter Eintracht gegen den Freiburger FC redlich mühten, endlich wieder einen Sieg einzufahren, mühten sich im Schauspielhaus die Akteure, ebenso vergeblich, den Karren, der gerade in den Dreck gefahren war, wieder frei zu kriegen.
Ernst Bloch meinte einmal, leicht süffisant, dass sich auch die großen Dramen der Weltgeschichte auf die kürzesten Formeln bringen lassen und sich, beispielsweise, Schillers „Wilhelm Tell“ dergestalt zusammengefasst, darstellt als – „Man(n) schießt auf Äpfel“. Über den Sinn solcher Verkürzung wollte Bloch damit noch nichts gesagt haben.
Weber/Spiras kurzweiliger Versuch, den Stoff auf die Bühne zu bringen, ist von einem solchen Kaliber. Aus einem prallen Körper der Orlando-Geschichte wird ein dürres Skelett herausgelöst. Ein wahrhaft kühnes Unterfangen. Zwei Gestalten, Frau, junger Mann, Frau, mal so, mal so. Sie erzählen. Sie spielen nichts, zeigen nichts, sie erzählen. Von Orlando, der, mal so, mal so, durch die Jahr(hundert)e zieht, erst Mann, dann Frau. Nichts wird dargestellt. Nichts gezeigt, alles nacherzählt. Und das sehr verkürzt. Annie Nowak und Sonja Beißwenger, die beiden Orlandos, sprechen zwar viel, aber sie haben nichts zu sagen. Aber das machen sie ordentlich. Nur genügt das? Einen poetischen, tollkühnen und zugleich betörenden Text auf ein dürres Handlungsgerüst zu reduzieren: So kommt man, zugegeben, schnell durch Raum und Zeit. England, Türkei, wieder England. Sechzehntes Jahrhundert. Siebzehntes, bis in die (damalige, also Virginia Woolfs) Gegenwart, bis, so endet der originale Orlando, der „zwölfte Schlag der Mitternacht erklang“. Exakt am „Donnerstag, elfter Oktober 1928“. Die Traumgestalt Orlando ist angekommen, exakt in der damaligen Gegenwart von Virginia Woolf. So hat es die Autorin vorgegeben. So haben es die beiden Regisseure, konsequent immerhin, vollständig ignoriert.

Eine Aktualisierung wird von dem Team Weber/Spira gar nicht erst versucht. Was macht man stattdessen? Man macht, ob kühn oder ratlos, sei dahingestellt, man macht, ja wirklich, man macht Musik. Zu Anklängen der jüngeren Popgeschichte hopsen die Protagonisten quer über die ganze Bühne. Bumsfallera! Warum, das wissen wohl nur die Götter. Es mag sein, dass die geplante Inszenierung von Jessica Glause erst so kurz dem Premierentermin endgültig geplatzt ist, sodass für einen richtigen Rettungsversuch die Zeit fehlte. Mag sein. Ein Dilemma.

Bemerkenswert ist allerdings, dass die ersten beiden Inszenierungen der neuen Saison 2023/24 durchaus erfolgreich gestartet sind. Es gab zweifellos viel Beifall, an beiden Abenden. Dem Publikum hat es offenbar gefallen. Darf man da schon von Erfolg sprechen? Als man dem amerikanischen Autor Cormac McCarthy dafür gratulieren wollte, dass sein Roman („Verlorene“) auf der Bestseller-Liste der New York Times erschienen war, meinte er trocken, gucken Sie sich mal die Nachbarschaft an. Daraus lässt sich lernen. Aus der Äußerung von Katrin Spira, verantwortlich für Regie und Dramaturgie, aber auch: Sie schreibt im Programmheft:
„Die Songs, die einen wichtigen Teil der Inszenierung ausmachen, spannen den Bogen durch die Popgeschichte ins Heute“.
Woher, bitteschön, kommt die Popgeschichte her? Wohlgemerkt, es geht um „Orlando“ und um Virginia Woolf. Die so angelegte Inszenierung läuft geradewegs ins Leere. Man muss gar nicht einmal direkt an die gegenwärtigen Gender-Diskussionen anknüpfen, die Aktualität liegt auf der Hand, es genügt, das Spiel, das Virginia Woolf betreibt, Ernst zu nehmen, um die poetische Energie, die in der Vorlage steckt, zur Entfaltung zu bringen. Das Buch ist eine Wucht, geballte Schönheit, die jederzeit zu explodieren verspricht. Und was bleibt davon? Kurze Unterhaltung. Viel Bewegung. Die Energie verpufft in einem armseligen, beziehungslosen Kurzreferat. Viele Möglichkeiten sind verschenkt worden. Man hätte die brisante Aktualität der Vorlage in ihrer vor allem poetischen Wucht entfalten können. Man hätte. Ja, aber man hat diese Möglichkeiten alle vergeigt. Das Problem? Das Publikum hat es trotzdem goutiert. Das heißt: Wir sind in einem Stadttheater. Damit ist kein Staat zu machen.

Letzte Änderung: 26.09.2023  |  Erstellt am: 26.09.2023

Der Geizige
von Molière in einer Fassung von Sabrina Zwach

Regie: Mateja Koleznik
Bühne:Olaf Altmann
Dramaturgi: Sabine Zwach
Kostüm: Ana Savic Gecan

Harpacon: Peter Schröder
Cleante, Sohn: Torsten Flassig
Elise, Tochter: Sarah Grunert

Weitere Aufführungen:

Do. 28.09.2023, 19.30
Fr. 29.09.2023, 19.30
So. 01.10.2023, 16.00
Do. 05.10.2023, 19.30
Fr. 06.10.2023, 19.30
Sa. 21.10.2023, 19.30
Sa. 28.10.2023, 19.30

 
 
Orlando
Nach Virginia Woolf

Regie: Anselm Weber, Katrin Spira
Dramaturgie: Katrin Spira

Orlando: Sonja Beißwenger, Annie Nowak
Königin: Angelika Bartsch
Sascha: Rokhi Müller
Mister Greene: Andre Meyer
Erzherzog(in): Mark Tumba

Weitere Aufführungen:

Mi. 27.09.2023 und Mo. 02.10.2023, 19.30 Uhr

Schauspiel Frankfurt

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Kommentare

Magda Schirm schreibt
Es ist ein Jammer! Das Theater verkommt immer mehr, es wird gehopst, gestikuliert, schlecht gesprochen etc. Orlando ist ein tolles Buch, diese zirkushafte Verbiegung hat es nicht verdient. Die Schauspieler hätten eine bessere Regie verdient, Herr Weber kann es aber nicht. Ihm liegen platte Politinszenierungen, Belehrungen, aber kein Stück mit Substanz. Auch wenn es letzten Endes besser war als die FAZ Kritik, wurde ich für diese Spielzeit erneut geheilt. Herr Weber gehört in ein Alternativtheater, dort kann er sich austoben. Das Schauspiel Frankfurt ist eine Nummer zu groß für ihn. Und das noch bis 2027!

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