Der lange Abschied des Jean-Luc Godard

Der lange Abschied des Jean-Luc Godard

Jean-Luc Godard (1930-2022)
Jean-Luc Godard, 1968 | © Wikimedia Commons

Wie niemand vor ihm hat Jean-Luc Godard die Möglichkeiten des Films erkannt und genutzt. Er überwand die traditionelle Erzählweise, die das relativ neuem Medium aus der Literatur und dem Theater übernommen hatte. Wer seine Filme sah, wurde mit einem neuen Anspruch konfrontiert. Marli Feldvoß hat die Persönlichkeit und die Arbeit des genialen Regisseurs, der nun gestorben ist, skizziert.

„Eigentlich sollte ich eine Geschichte erzählen, und ich sollte es noch immer. . .“, aber die Geschichten sind an seiner eigenen Geschichte gescheitert. Dabei bleibt es. Jean-Luc Godard gibt sich gleich mit dem ersten Satz des Films „Nouvelle Vague” als der alte zu erkennen. „Nouvelle Vague”, der Filmtitel ist immer noch Programm, Rückkehr und Neubesinnung. „Nouvelle Vague” ist, wie Godard selber sagt, nur ein Stück Meer, ein Stück See, und es kommt eine erste Welle, in der man ertrinkt, und eine zweite, die wieder lebendig macht. Ein Stück Märchen wie aus alten Zeiten, da es noch Arme und Reiche gab. Auch das ist ein altes Thema. Aber Godard erzählt aus der Erinnerung, das ist neu. Anders als früher sieht er sich in einem Zeitgefüge, das fortschreitet.

Seine Devise, alle zehn Jahre ein neues Leben anzufangen, lässt sich mühelos beweisen. Die sechziger Jahre, das war die Neuerfindung des Kinos mit der Nouvelle vague und mit Godard als deren treibender Kraft. Er hat die Abkehr vom traditionellen realitätsbezogenen Erzählkino hin zum modernen Kino als Instrument zur Erkundung der Wirklichkeit und als Kommunikationsmittel mit dem Zuschauer als einziger auch konsequent ins kommerzielle Kino hineingetragen. Er arbeitet mit radikalen ästhetischen Methoden, er zerstückelt, montiert, improvisiert, überträgt Brechts episches Theater auf filmisches Terrain. Die siebziger Jahre, für ihn selber die midlife-crisis eines Vierzigjährigen, stellen alles wieder in Frage. Godard verläßt die individuelle Revolte zugunsten des sozialen Engagements und verschwindet im revolutionären Filmemachen; zuletzt stürzt er sich in Video-Experimente fürs Fernsehen und verlässt Paris, zieht nach Grenoble in die Provinz. Mit “Rette sich, wer kann (das Leben)” ist er zu Beginn der achtziger Jahre wieder da. Er ist jetzt in den Fünfzigern und kehrt mit “seinem zweiten ersten Film” und mit großen Stars zum großen Kino zurück; im Privatleben zieht es ihn an den Ort der Kindheit zurück, zum Genfer See.

Godard hat den alten Traum von der Versöhnung des Dokumentarischen mit dem Fiktiven noch nicht ausgeträumt. Er bleibt der Cineast mit der “Seinsschwierigkeit”. Er geht weiterhin aus von der eigenen Erfahrung, das sei eine Frage der Moral. Wie auch die Kamerafahrt noch immer die Moral eines Regisseurs offenbare. Jetzt ist die Kamera eine selbständige Figur, sie fährt über Wiesen, Baumwipfel, weidende Pferde, ein Stück Landschaft am See. Godard erzählt, wie Velázquez in seinen Fünfzigern anfing zu malen, nicht mehr von den Dingen, sondern von dem, was dazwischen ist. In “Nouvelle Vague” entstehen diese Pausen. Godard organisiert poetische Kameraspaziergänge, die unerklärt bleiben, die das Leben einzufangen versuchen, in den Dingen retten wollen. “Lassen wir die Dinge einen Moment lang ohne Namen.”

Heute ist Godard mehr denn je ein Techniker des Kinos, einer, der einmal für den Autorenbegriff im Kino gekämpft hat, weil er in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts den Film für ein zeitgemäßeres Mittel ansah als die Literatur. Im Filmkampf hat er nicht gesiegt, nur das Fernsehen bestätigte ihn. Heute, im Zeitalter der Vereinnahmung aller Werte und Begriffe, legt er keinen Wert mehr auf die ehemalige Auszeichnung „Autor”, sondern nennt sich „Ko-Produzent” oder „bewusster Organisator“, der Verbindungen herstellt – und bleibt dabei der alte Philosoph. Er braucht keinen Platz im Vorspann seines Films. Er ist sowieso da, unverkennbar, mit jedem Buchstaben, jedem Ton, Bild, Schnitt. Er ist sich treu geblieben wie kein anderer.

„Ich ist ein anderer.” Das ist das Thema von „Nouvelle Vague”. Es klingt wie ein Entschluss, wie ein Motto. Den anderen in sich und im andern suchen und erkennen. Dafür erzählt Godard seine mörderische Geschichte, vielmehr das, was als Erzähltorso davon übrigbleibt, gleich zweimal. Ein Mann taucht aus dem Nichts auf, eine reiche Frau sammelt ihn am Straßenrand auf und verliebt sich in ihn; er aber erwidert ihre Liebe nicht. Sie ist enttäuscht und bringt ihn um, lässt den Nichtschwimmer schauenden Auges im See ertrinken. Aber er kehrt zurück, er sei der Bruder, aber anders als sein Bruder beweist er Tatkraft und nimmt der Chefin des großen Konzerns die Fäden aus der Hand. Sie zweifelt und verzweifelt. Jetzt wirft er sie ins Wasser, um sie zu retten, mit festem Griff.

Mit gleicher Macht, wie eh und je, zieht es Godard weg von der Geschichte. Ein Händedruck, und schon entzieht ein harter Schnitt der Geschichte die Lebensgrundlage. Sie stirbt in dem Augenblick, in dem sie das Licht der Welt erblickt. Wie Godard das macht, verrät große Meisterschaft. Das Spannungsgefüge entsteht im Sturz, verbündet sich mit souveränen Tonbögen. Die Toncollage ist die Fortsetzung des Collagefilms mit anderen Mitteln. Das Gemisch aus Wort, Musik, Geräuschen, mittlerweile aus vierundzwanzig Tonspuren gespeist, verheilt mit den Bildern zu einer vielstimmigen Symphonie. Es ist alles zerstört und findet sich doch zu einer neuen Einheit, zu einer Grundstimmung, einer großen Melancholie. Sie ist noch immer da, die Trauer über den Verlust des Kinos, sie ist konstituierend dafür, wie Godard heute noch immer Filme macht.

“Der lange Abschied”, so heißt einer der zahlreichen Zwischentitel. Das Chandler-Zitat ist wie ein Sesam-öffne-dich zum Godardschen Kino, wenn man sein Angebot annimmt, sich in das Netz von Beobachtungen, Assoziationen und Verweisen hineinzubegeben, als Zuschauer mit- und weiterzudenken, selber Teil dieses Kinos zu werden. Zum langen Abschied gehört auch der Protagonist Terry Lennox alias Alain Delon. Er ist der Mordverdächtige, dann der Verschwundene, der bei Chandler erst am Romanende wieder auftaucht, einer, der sich in der Rolle eines Doppelgängers vor der Welt geflüchtet hat. Auch Delon hat schon einmal einen Doppelgänger gespielt, in der Highsmith-Verfilmung “Nur die Sonne war Zeuge”. Auch in “Nouvelle Vague” ist nur die Sonne Zeuge. Delons Blick hinauf ins blendend grelle Licht sucht nach einer Antwort, nach einer Erkenntnis; er findet sie in der ausgestreckten Hand, in der Versöhnung.

Hier verlässt Godard den Roman und seine Vorbilder und sich selber und findet zu einer Versöhnung. Omnia vincit amor. Er löst das Versprechen zweier leerer Hände ein, die sich vor blauem Himmel begegnen. Ein Filmgedicht, ein heiliger Augenblick, dolce miracolo.

“Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.” Die Erinnerung hat auch diesen Zitatenschatz zusammengestellt, kein Wort in diesem Film ist erfundener Dialog. Früher ließ Godard seinen Helden noch sterben, nur im Tod gab es noch Würde. Heute lässt Godard seinen Star Alain Delon ins Licht schauen und erklärt auf seine unverbesserliche wissenschaftliche Art, dass man das Licht immer erst mit Verspätung wahrnehme. Auch der Star Delon, der als Lennox ständig davon spricht, dass er eine Tragödie in sich trage, wird erst mit dieser Verspätung sichtbar und damit auch die Tragik einer Romy Schneider. Erst heute entdeckt Godard die Schauspieler, auch sie erzählen von der Vergangenheit des Kinos. Alles ist doppelt lesbar, der Film ist durch und durch ein Doppelgänger-Film, er trägt sein zweites Gesicht wie eine Maske, dahinter verbirgt sich auch der Doppelgänger Godard, ein Grenzgänger zwischen zwei Heimatländern, zwischen der Schweiz und Frankreich, zwischen reich und arm, zwischen zwei Mentalitäten, zwischen Gewinner und großartigem Verlierer.

Was bleibt, ist der Gärtner, aber es geht ihm nicht darum, seinen Garten zu bestellen. Auch Godard ist es nie darum gegangen. Im Gegenteil. Er beobachtet die Natur und wie man den Blick auf sie vernachlässigt, er stochert im Wasser und sieht die Todesbilder. Er weiß, dass die Bilder keinen Namen haben. „Ist all das Gras da in mir? Ist es noch Gras, wenn es ohne mich ist? Und wenn es niemand nennt, niemand beim Namen ruft, wer ist dann dieses namenlose Gras?” Ein wunderschönes Bild, sonst nichts. Es will erkannt werden in seiner namenlosen Wirklichkeit.
 
 

 
 

Der Beitrag wurde zuerst am 3.12.1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum sechzigsten Geburtstag des Regisseurs veröffentlicht.

Letzte Änderung: 14.09.2022  |  Erstellt am: 14.09.2022

Unterwegs im Kino | © Wikimedia Commons

Marli Feldvoß Unterwegs im Kino

Kritiken und Essays
474 Seiten
ISBN 978-3-465-04512-0
Klostermann/Nexus 96, Frankfurt 2013.

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