Eine Ikone des französischen und des internationalen Films, auch auf der Bühne von enormer Präsenz, das ist Isabelle Huppert. Dass sich die schauspielerische Leistung der nun 70 Jahre alt gewordenen Künstlerin aus einem instinktiven Gespür für die szenische Bedeutung, vor allem aber aus ihrer professionellen Haltung herleitet, wird in einem Gespräch deutlich, das Marli Feldvoß 1995 mit ihr in Venedig geführt hat.
Marli Feldvoß: Man könnte sagen, dass Sie in Ihrer Arbeit mit Claude Chabrol einen ganz bestimmten Frauentyp hervorgebracht haben: die Aufständische. Es hat 1978 mit Violette Nozière angefangen, der braven Tochter und Giftmischerin, mit einem Tag- und einem Nachtgesicht, dem guten und dem bösen Mädchen in einem. Jeanne, die kleine Postbeamtin in dem neuen Film Biester ist nach der Engelmacherin Marie Giraud (Eine Frauensache) und Ihrer Madame Bovary schon die vierte Unruhestifterin und zum ersten Mal eine klassenbewusste Kandidatin.
Isabelle Huppert: Im Kern dieser Rollen steckt immer eine Revolte; sie ermöglicht einen subversiven kritischen Blick auf die Dinge . Es sind sehr gewalttätige, komplexe und widersprüchliche Rollen. Die neue Figur der Jeanne in Biester ist allerdings weniger komplex, sie hat weniger Tiefgang und ist weder besonders berechnend noch intrigant, sondern gehört zu der Sorte, die ständig Forderungen stellt. Mich hat gerade ihre Ungebundenheit, ihre brutale Offenheit interessiert. Und nicht zuletzt ihre Komik.
Was ist eine typische Chabrol-Frau?
Eine typische Chabrol-Frau ist verschlossen und träumt von einer anderen Welt, von einem besseren Leben; sie ist das Opfer der Gesellschaft, die sie unterdrückt. Aber Jeanne ist anders, sie revoltiert nicht gegen die Männer, sondern gegen die Reichen. Sie ist sehr neidisch, eifersüchtig auf das, was die andern haben und sie nicht.
Sandrine Bonnaire ist in einem ähnlichen Rollenbild zu Hause, sie spielt normalerweise die proletarische Aufständische und Sie deren kleinbürgerliche Ausgabe. Sie sind eher die kleine kapriziöse Französin, deren Wunschvorstellungen sich, wie etwa bei Madame Bovary, nicht erfüllen, es ist ein Spiel des Begehrens, das sich in Körperhaltungen ausdrückt.
Ja, das stimmt. Aber hier sind wir beide proletarisch. Hier ist die Mischung spannend. Sie ist undurchsichtig, um sie ist so eine Mauer. Man weiß nie, was sie denkt, woher sie kommt, sie ist sehr introvertiert, ich bin extrem extrovertiert, klarer. Sandrine hat überwiegend solche Rollen gespielt, aber auch ich war lange auf diese ganz verinnerlichten, undurchschaubaren Figuren festgelegt.
Sie sind quasi eine Art Nachfolgerin von Stéphane Audran und haben Ihr Verhältnis zu Chabrol auch einmal mit dem Paar Sternberg-Dietrich verglichen.
Das ist Journalistengeschwätz. Die einzige Gemeinsamkeit, die es gibt, ist die Dauer. Das ist bereits mein vierter Film mit Chabrol, und wir haben durchaus eine außergewöhnliche Beziehung. Er schreibt extra eine Rolle für mich, aber gleichzeitig ist diese Rolle nicht besonders definiert, lässt viele Spielarten offen. Zum Beispiel habe ich mir die Jeanne am Anfang viel männlicher vorgestellt. Ich habe mir dann zusammen mit der Kostümbildnerin überlegt, dass ihre Überlegenheit gegenüber diesem Dienstmädchen dadurch zu offenkundig erscheint. Aber trotzdem ist von dieser Idee etwas übriggeblieben, so ein Verhältnis große Schwester – kleine Schwester. Aber schließlich haben wir uns für eine feminine Aufmachung entschieden, für eine weibliche sexuelle Ausstrahlung. Solch eine Beziehung zu einem Regisseur, bei der ich voll meine Rollenvorstellungen einbringen kann, habe ich nur mit Chabrol.
Ich habe diese Anekdote über die Dreharbeiten von Violette Nozière gelesen: dass Sie damals völlig aus dem Konzept gerieten, weil Chabrol das gewohnte Schweigen gebrochen hat, um ihnen eine Spiel-Anweisung zu geben.
Chabrol macht normalerweise keine großen Worte, wenn er Regie führt. So war es auch bei Violette Nozière. Er lässt die Schauspieler ihre Geschichte erzählen, behält aber den Überblick über den Gesamtablauf. Deshalb sage ich immer: Wenn man mit Chabrol dreht, fühlt man sich wie ein Schmetterling im Netz. Frei, aber innerhalb der Mise en scène in einem genau festgelegten Rahmen. Und als mir Chabrol damals aus heiterem Himmel plötzlich eine technische Anweisung gegeben hat, hat mich das völlig destabilisiert. Mir schlug das Herz bis zum Halse, ich fühlte mich in Frage gestellt, das war sehr merkwürdig. Das ganze Gleichgewicht ruht auf dem Schweigen. Es war nur eine kleine Sache, ohne Bedeutung, aber mit großer Wirkung. Mir ist es lieber, wenn man vor Drehbeginn mit mir spricht. Ich lasse mich nicht so leicht führen.
Sie haben einmal gesagt, dass die Kunst des Regisseurs darin bestehe, die Schauspieler in jenem Raum frei zu lassen, den sie sich erschaffen. Das klingt sehr dominant, sehr selbstbewusst.
Nein. Überhaupt nicht. Das ist doch das mindeste. Wir müssen doch auch ein bisschen existieren, schließlich sind wir es, die spielen. Das Verhältnis zu einem Regisseur ist sehr dialektisch. Einerseits braucht der Schauspieler das Gefühl, dass der Film eine bestimmte Richtung verfolgt, aber innerhalb dessen braucht er auch die Freiheit, seinen eigenen Raum zu entwerfen. Nur so entsteht etwas Interessantes. Auch wenn ich nur ganz wenig Spielraum habe, ist es ein Spielraum, in dem ich etwas erschaffen, entwerfen kann. Ich brauche das Gefühl, dass ich diesen Raum habe, egal wie groß er ist.
Sie haben auch einmal gesagt, dass der Schauspieler aus dem Nichts komme und wieder im Nichts verschwinde. Jean Baudrillard hat dieser Auffassung in einem Gespräch mit ihnen heftig widersprochen und den Schauspielerberuf sehr aufgewertet, indem er dem Illusionscharakter des Spiels durchaus einen utopischen Wert zugesprochen hat.
Ich denke schon länger, dass das Theater heute eher ein Ort der Utopie ist als das Kino. Ich habe das nach Orlando gesagt, was ja nicht gerade ein Boulevard-Stück ist und trotzdem ein großer Erfolg wurde. Man kann heute mit ei-nem anspruchsvollen Theaterstück ein größeres Publikum erreichen als mit einem guten Film. Denn das Publikum, das wir ansprechen, geht heute nicht mehr ins Kino. Ich habe Orlando 135 mal vor 100 000 Zuschauern gespielt, ein großer Erfolg. Im Augenblick ist das Theater der bessere Ort für die Utopie, obwohl es eigentlich elitärer ist.
Sie haben viele großen Figuren der Literaturgeschichte gespielt, Orlando, Malina, Madame Bovary. Sie sind eher im Tragischen zu Hause, warum?
Da müssen Sie eigentlich meine Regisseure fragen. Aber ich suche mir sehr bewusst meine Rollen aus. Ich hatte Lust, mit Bob Wilson, Werner Schroeter und Claude Chabrol zu drehen. Wenn Schroeter mir das absolute Gegenteil der Rolle in Malina angeboten hätte, hätte ich sie auch gespielt. Ich habe den Wunsch, mit ihnen zu spielen, und sie sehen mich in der Verkörperung dieser Rollen. Ich weiß nicht warum… Doch, ich weiß warum. Jede Rolle hinterlässt eine Art Spur. Es ist dann wie eine Kettenreaktion, es ist schwer, aus dem eigenen Fahrwasser wieder herauszukommen. Auf der Pressekonferenz hat mich jemand mit Shirley MacLaine verglichen. Das hat mir gefallen. Diese Vitalität und Leichtigkeit. Deshalb ist Biester für mich auch so wichtig. Weil ich denke, dass diese Rolle eine bestimmte Vorstellung von mir verändern könnte. Das ist ein völlig anderer Gesichtsausdruck, eine ganz andere Körpersprache, viel näher an meinem eigenen Leben als die großen Romanfiguren.
Ich finde, dass Sie sich besonders gut als Männerphantasie anbieten. Sie fügen sich eher in das Bild einer Frau statt wirklich eine zu spielen. Wissen Sie warum?
Das ist sehr wahr. Aber ich weiß nicht, warum das so ist… Ich bin als Schauspielerin sehr formbar. Diese großen Frauengestalten, das sind Männerphantasien, das stimmt. Madame Bovary, auch Malina, obwohl das von einer Frau geschrieben ist. Und die Leute vergessen, dass ich im Grunde eine viel realere, weniger phantasmagorische Weiblichkeit besitze. Sie sehen ja, wie ich angezogen bin, wie ich mich bewege.
Haben Sie ein bestimmtes Frauenbild?
Ich spiele oft Frauen, die aus dem Blickwinkel des Mannes betrachtet werden, die sich aber gleichzeitig von der Männerwelt befreien wollen. Streng feministisch betrachtet, sind das keine besonders feministischen Figuren, denn sie sind meistens Opfer, aber doch Opfer, die eine Art Metapher der condition féminine darstellen. Denn das ist die Wirklichkeit. Indem man diese Opfer darstellt, bedient man aber nicht die gängigen Männerphantasien. Ich spiele immer wieder Rollen, in denen die Frauen dieser Wirklichkeit entkommen wollen. Dafür gibt es Kino. Es ist nicht nur dazu da, um emanzipierte Frauen zu zeigen, die von der Männerherrschaft unberührt sind. Es stimmt zwar, dass die Frauen inzwischen gewisse Freiheiten erlangt haben, aber sie sind noch oft genug unterdrückt. Aber es ist schon so, dass ich heute Figuren bevorzuge, die sich ein bisschen von diesem männlichen Blick befreit haben.
Muß man eigentlich die gleiche Rollenauffassung haben wie der Regisseur?
Im Grunde sollte man schon eine ähnliche Vorstellung haben. Aber ich verfolge in allen meinen Filmen immer mein eigenes Leitmotiv, meine eigene kleine Geschichte. In der Hoffnung, dass sie sich an einem Punkt mit der des Regisseurs trifft. Aber ich werde immer wieder enttäuscht. Auf der Leinwand sind vielleicht 60 % von dem zu sehen, was ich eingebracht habe. Am Schluss kommt die Montage, um meine Geschichte zu beschneiden, zu sanktionieren, die Montage ist die Geschichte des Regisseurs. Aber das wird allen Schauspielern so gehen. Ich habe eine gute Auffassungsgabe, ich weiß, was ich spiele und ich weiß, was sie wollen, was wichtig für die Rolle ist. Aber immer wieder leide ich unter der Montage. Das Kino ist die Kunst der Frustration. Wahrscheinlich muss ich meinen eigenen Film drehen, um dieser Falle zu entgehen. In Amateur fand ich die Montage besonders brutal, man hat mir buchstäblich das Wort abgeschnitten. Aber vielleicht bin ich auch besonders empfindlich.
In Biester gibt es eine wunderbare Großaufnahme von Ihnen, die geradezu etwas Visionäres hat. Spüren Sie den Abstand von der Kamera? Wissen Sie, wenn Sie in der Großaufnahme sind?
Aber ja. Man spielt ganz anders in der Großaufnahme. Es gibt Momente, wo ich die Großaufnahme brauche. Wenn es mir schwerfällt, bestimmte Antworten zu geben, gelingt es mir oft erst, wenn ich in der Großaufnahme bin. Weil es da einen Moment der Abstraktion gibt, die Antwort wird weniger realistisch. Man kann distanzierter und abstrakter spielen in der Großaufnahme, man kann alles spielen.
Ich dachte, man sei mehr in Sicherheit, wenn die Kamera weit weg ist.
Nein, im Gegenteil. Wenn die Kamera direkt vor mir steht, hier, zack, fühle ich mich am sichersten. Aber das ist auch ein narzißtisches Problem. Die Großaufnahme ist keine realistische Einstellung. Die realistische Einstellung, das sind Sie. Wenn ich plötzlich näher komme, wird es abstrakter, das erleichtert das Sprechen. Es gibt auch Momente, wo ich das Gefühl habe, dass die Kamera sich bewegen sollte, dass die Szene eine Totale braucht. Ich irre mich selten. Wenn man auf Großaufnahme geht, fällt das Spielen leichter. Die Großaufnahme ist nicht mehr psychologisch, man kann absichtslos sprechen.
Und wie ist das auf dem Theater?
Das kommt darauf an. Als ich mit Bob Wilson gearbeitet habe, war ich sonorisiert, ich hatte ein Mikrophon. Der Effekt der Großaufnahme wurde sozusagen durch die Verstärkung hergestellt. Dadurch entstand ein Gefühl von Intimität, ich musste nicht die Stimme heben. Die ganze Schwierigkeit im Theater besteht darin, Natürlichkeit, Intimität herzustellen, obwohl man viel lauter sprechen muss. Die Intimität ist also nicht nur eine Frage des Spiels, sondern auch der Stimme. Der schlaue Bob Wilson hat verstanden, dass man mit einem Mikro auf einen Schlag diese Probleme des Theaters lösen kann. Das gilt natürlich besonders für ein Stück, das aus einem „inneren Monolog“ besteht. Das passt nicht immer. Man wird keinen Shakespeare mit einem Mikro spielen, wenn es um Intimität geht.
Isabelle Huppert wurde zusammen mit Sandrine Bonnaire auf dem Filmfestival von Venedig 1995 für die beste darstellerische Leistung in La cérémonie (Biester) von Claude Chabrol ausgezeichnet.
Das Interview wurde im September 1995 in Venedig geführt. Es wurde zuerst in der NZZ vom 10. November 1995 veröffentlicht.
Letzte Änderung: 22.03.2023 | Erstellt am: 22.03.2023
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.