Der dunkle Wahnsinn!

Der dunkle Wahnsinn!

„Elektra“ in der Oper Frankfurt
Aile Asszonyi (Elektra) | © Monika Rittershaus/Oper Frankfurt

Wenn Text und Komposition vom Regisseur ernst genommen werden, wenn das Dirigat ein Top- Sänger*innen-Ensemble mit dem Kraft- und Energiezentrum Aile Asszonyi in der Titelrolle sowie die Instrumentalisten feinfühlig leitet, kommt die Genialität des Duos Strauss/Hofmannsthal voll zum Tragen. Die Premiere der Elektra in Frankfurt wurde ihr nach Meinung von Andrea Richter voll umfänglich gerecht.

Ein großer, elegant wirkender Raum, mit unregelmäßig in Lila-Tönen gestreifter Tapete, ein paar leere Stühle und Geschirr, ein heftiger Fanfarenstoß. Fünf Angestellte räumen auf, machen sauber und unterhalten sich ziemlich atonal über Elektra, die jeden Abend das Bild ihres ermordeten Vaters Agamemnon beschwört und nach Nichts als Rache für diese Tat dürstet. Man sieht Elektra, durch eine schmale Wand abgesetzt, am vorderen Rand der Bühne auf einem Stuhl und Grimassen schneidend und die Hände windend die Worte der Mädchen stumm nachsprechen. Erst als diese mit der Arbeit fertig und verschwunden sind, erhebt sie sich: „Allein“ lautet ihr erstes Wort.

„Agamemnon, wo bist du?“ singt sie weiter. In diesem Moment erscheint ein alter Mann im Bademantel und geht mit einer Tasse in der Hand hinter ihr barfuß langsam über die Bühne und verschüttet Rotes. Elektra bemerkt ihn nicht, gibt sich ungezügelt wilden Rachegedanken an ihrer Mutter Klytämnestra hin, die mithilfe ihres Liebhabers Aegisth den Vater einst umbrachte und den geliebten Bruder Orest ins Exil schickte. Seine Rückkehr ersehnt Elektra (in Erinnerungen steckengeblieben und auf die Racheidee fokussiert), damit er ihren Wunsch nach tödlicher Rache vollziehe. Sie ist der Mittelpunkt der Tragödie, eine der schwersten und anstrengendsten Partien der Opernliteratur. Zwei weiteren Frauen sind Hauptpartien zugeordnet: Klytämnestra (vom Schuldtrauma belastet, Heilung suchend und schlafgestört) und der Schwester Chrysothemis (eine hyperaktive Getriebene, die das normale Leben mit Mann und Kindern will). Für diese Drei haben Dichter und Komponist detaillierte Psychogramme entwickelt, wie sich im Verlauf der Oper zeigen wird. Männer spielen eine untergeordnete Rolle.

Schon bald begreift die Zuschauerin, dass Elektra sich als Patientin in einer Upper-Class-Psychiatrie befindet und dass das Geschehen aus ihrer von Traumata geprägten Sicht geschildert wird. Deshalb steht sie ununterbrochen auf der Bühne, wobei sich auch gefühlt 90 Prozent der Zeit singt. Die Wahl dieser Perspektive durch Regisseur Claus Guth ermöglicht es, als Zuschauerin die rauschhaft rasende, an- und abschwellende Musik des Orchesters filterlos als das wahnhafte Rauschen in Elektras Kopf zu erleben und zu fühlen. Je nachdem, was Elektra gerade tatsächlich wahrnimmt oder nur fantasiert. Da bellen sogar Hunde im Orchestergraben! Und noch mehr lässt diese Perspektive zu: Neben realen Personen (das Personal der Anstalt, Mitpatienten, Klytämnestra, Schwester Chrysothemis, Aegisth, Patienten u.a.) tauchen ganz sicher eingebildete Personen (die Kinder und Agamemnon) auf oder möglicherweise nur eingebildete (Orest). Wände verschieben, Türen öffnen und schließen sich, Rauch steigt auf, Höllenfeuer leuchtet, Orest erscheint als x-fach Figur. In ihrem Zustand ist alles möglich. Es wird zunehmend unerträglicher. Hugo von Hofmannsthal hat es so geschrieben und Richard Strauss hat es so komponiert. Er selbst bezeichnete seine Musik als „psychische Polyphonie“.

1903 hatte Strauss in Berlin das Theaterstück des bekannten Dichters gesehen. Der Wiener Hugo von Hofmannsthal hatte sich zuvor mit der antiken Tragödie des Sophokles beschäftigt, aber auch mit der – vor allem beim Wiener Bildungsbürgertum – populären Psychoanalyse beschäftigt, unter anderem mit den “Studien über Hysterie” von Josef Breuer und dem jungen Sigmund Freud. Darin wird der Fall der Anna O. geschildert. Viele ihrer Symptome finden sich in der Elektra des Dichters wieder. Kritiker waren entsetzt. So Paul Goldmann: „Vom Augenblick an, da das Stück anfängt, beginnt Elektra zu schreien, und sie schreit unentwegt bis zum Schluß. Elektra, deren Klagen bei Sophokles mit dem Sange der Nachtigall verglichen werden, ist bei Hofmannsthal ein keifendes Weib geworden.“

Nicht so der Komponist, er war begeistert und dachte sofort an eine musikalische Umsetzung. Der darauf angesprochene Dichter war von dem Plan angetan. Strauss begann aber erst 1906 mit dem Vorhaben, weil vorher noch seine Salome fertig werden und auf die Bühne gebracht werden musste.

Das hatte u.a. den Vorteil, dass sich das Publikum bereits an die moderne Klangsprache von Strauss gewöhnen konnte und Elektra 1909 mit der Uraufführung zum großen Erfolg wurde. Meckernde Ewig-Gestrige gab es natürlich auch. Wie umgekehrt später Strauss der Vorwurf gemacht wurde, sich ab Arabella und Rosenkavalier nicht konsequent der Weiterentwicklung der modernen Musik gewidmet und einen Rückfall in die Romantik erlitten zu haben.

Jennifer Holloway (Chrysothemis) und Aile Asszonyi (Elektra) sowie Kinderstatisterie der Oper Frankfurt | © Foto: Monika Rittershaus/Oper Frankfurt

Tatsächlich lotet Strauss in Elektra die Grenzen der Tonalität bis zum Äußersten aus, insbesondere in der Duett-Szene mit ihrer verhassten Mutter. Doch es geht zeitweilig auch gewohnt romantisch-melodisch zu, vor allem dann, wenn Elektra in Erinnerungen an Bruder Orest oder auch an Vater Agamemnon schwelgt. Und auch tänzerisch wird`s, weshalb Guth ein kleines Ballett auftreten lässt. Kurzum: Elektras Stimmungsschwankungen sind enorm, so auch die Schwankungen in den Klangfarben der Musik. Mal überfällt dies mit orkanartiger Wucht, mal ist nur ein einzelnes Instrument zu hören. Ungeheure Fallhöhen.

Generalmusikdirektor Sebastian Weigle kitzelte jede Nuance aus dem fast 100 (!!) Frau und Mann starken Orchester heraus. Gleichzeitig gelang ihm die Kunst, es im Sinne des Gesangs einzusetzen. Will heißen, dass man keinen Moment lang das Gefühl hatte, eine ® der Sänger*innen müsste sich gegen diesen monumentalen Klangkörper durch besondere Anstrengung erwehren. Im Gegenteil: sie fühlten sich offensichtlich frei und sangen sich – von ihm animiert und getragen – zu Höchstleistungen hinauf. An vorderster Front die großartige estnische Sopranistin Aile Asszonyi. Sie beeindruckte stimmlich, darstellerisch und vor allem mit ihrer unglaublichen Kondition tief. Nach ihrem Zusammenbruch am Ende des Stücks, nach dem letzten Ruf „Orest“ ihrer qualitativ ebenbürtigen Bühnenschwester Chrysothemis und dem letzten dröhnenden Orchesterakkord herrschte im Publikum kurze Stille, während der Vorhang fiel. Es war nach 110 Minuten höchster emotionaler Anspannung die Stille der Erschütterung vor einem wahren Applaus-Orkan.

Aile Asszonyi (Elektra) umringt von Tänzer*innen | © Foto: Monika Rittershaus/Oper Frankfurt

Letzte Änderung: 30.12.2023  |  Erstellt am: 21.03.2023

Elektra
Tragödie in einem Aufzug
Musik: Richard Strauss (1864-1949)
Text: Hugo von Hofmannsthal

Musikalische Leitung: Sebastian Weigle
Regie: Claus Guth
Bühnenbild: Katrin Lea Tag

Mitwirkende
Elektra: Aile Asszonyi
Chrysothemis: Jennifer Holloway
Klytämnestra: Susan Bullock
Orest: Simon Bailey
Aegisth: Peter Marsh
und viele andere.

Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Wiederaufnahme im Mai 2024

Oper Frankfurt

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