Gegen Gewalt ist Musik machtlos. Für diese Machtlosigkeit steht besonders das Requiem. Es ist immer für die Hinterbliebenen geschaffen, vermutlich, um sie zu trösten. Doch es geschieht, dass es kein Trost ist, sondern ein Aufschrei gegen den Krieg. Alban Nikolai Herbst erlebte Verdis Requiem in der radikalen Interpretation der Berliner Philharmoniker unter Daniel Barenboim.
Verdis Requiem von den Berliner Philharmonikern unter Daniel Barenboim
„Susanne Bernhard kann das, von dem ich
bis zu diesem Moment behauptet habe,
daß nur die Callas es konnte.“
Peter H. E. Gogolin
Ob die Absage der russischen Sängerin Jelena Stikhinas tatsächlich – wie René Papes – einer Erkrankung geschuldet ist oder ob auch hier netrebkoähnliche Gründe vorliegen, läßt sich nicht sagen; doch sagen läßt sich, es war kein Verlust, sondern wahrscheinlich, und zwar ein fast nicht ermeßbarer, Gewinn – und dies, obwohl Frau Bernhard so kurzfristig „eingesprungen“ sein muß, daß die Ankündigung der Digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker nicht einmal – und tags drauf, heute, ebensowenig – ihren Namen nannte, in der ich gestern abend das Konzert live an einem meiner großen Bildschirme sah und den Klang über ProAcs Wunderwerke hörte. Worüber ich im nachhinein froh, ja dankbar war. Denn so blieb mir, der nach dem Schluß des Stückes weinte, der jubelnde Applaus erspart. Bereits Leonard Bernstein hat klargestellt, wie unschicklich es ist, nach einem Requiem zu klatschen, und Currentzis, vor kurzem, hielt es selbstverständlich ebenso. So, wie man sich als Musiker, nach einer solchen Leistung, auch nicht verbeugt. Es wäre des beklagten Verlustes Jubel entgegenzunehmen. Denn was uns hier zu hören ward, war eine extremste Trauer, aus der gar nichts mehr hilft. Nebenan fallen die Bomben auf Krankenhäuser, Wohngebäude, Kindergärten. Und das Libera me, hier, wurde zu einer Anklage, deren Urteil noch lange Zeit nicht, wenn überhaupt, gesprochen werden wird, ja Barenboims und des Orchesters, des Chores vor allem | sowie der Sängerinnen und Sänger Interpretation war derart radikal, wie ich es bei ihm nur ein einziges Mal schon erlebt, als er nämlich Mahlers Siebte – eines Komponisten, den er eignen Äußerungen nach nicht besonders schätzt – auf derart teils brutale Weise vortragen ließ, daß, was diese Musik tatsächlich ist, sich zu einem Klang hinauffeuerte, der sich nur noch durch Häuserwände brechender Lava vergleichen läßt. Das hatt’ ich so noch nie gehört. So daß selbst hohe, ich schreibe einmal euphemistisch, „Ambivalenz“ mitten hinein in die zerrissene Kunst führen kann.
Nun ist Verdis Requiem ohnedies der Sonderfall eines ohne Trost; was uns bleibt, ist – im Gegensatz zu, so in seiner liebevollen Einführung, Simon Halsey, Brahms‘ „menschlichem“ Deutschen Requiem – nicht mehr als wehe Hoffnung. Im fast nur Deklamato geht es zuende, die Musik wird stiller, stiller: Selbst der zitternde Zweifel, morendo, erstirbt. Und das, während in der Ukraine das Entsetzen wütet und auch uns schon die Apokalypse drohende, blutrot glühende Schatten nicht nur an den Horizont wirft. Das hat Barenboim im Herzen, in den Fingerspitzen, schlimmer, weh! noch, in den Ohren. Und schaltet nun, bei diesem Requiem, mit selber Radikalität, die sowohl die Notschreie Schreie wirklich werden lassen wie, besonders bei Tareq Nazmi, ein Unglück, das uns stetig stiller macht, bis wir ganz erschweigen. Seine Sangeskunst ist von erschütternder Menschlichkeit, drängt sich niemals vor. Dazu hat der Mensch nicht länger mehr die Kraft. Eine ähnliche, stimmlich enorm gestaltete Hilflosigkeit angesichts des Unheils, entstrahlte Marina Prudenskajas (er)tragendem Mezzo. Bleibt noch, und muß auch genannt sein, Michael Spyres’ eben nicht heldischer (Bariton)Tenor; von den jetzt wieder überall genannten „Helden“ haben wir Menschen mehr als gestrichen die Schnauze voll. Auch Selenskyj sollte von solchen nicht sprechen, wenn er die in Notwehr kämpfenden Ukrainerinnen und Ukrainer meint. Es sind keine Helden; dieses Typos‘ sich immer selbst überhebende Dummheit ist bei ihnen nicht. Sie wollen nicht Ruhm, sondern in Frieden ihrer Wege gehen. Darum muß es Миру Українi! heißen, „Der Ukraine Frieden!“
Um den sie alle baten, herzerschnürend auch der Chor. Vor allem aber Susanne Bernhard, deren Ausdruck geradezu unfaßbar von erniedrigtem Erliegen bis zu wildem Aufruhr reichte, und all das in stimmlich makelloser Schönheit. So auch ihr Gesicht, bisweilen das einer Furie in tiefer, aus Verlust, Depression.
Und dann das Libera me am Ende, wie sie in die Deklamation übergeht, im Zweifel verhauchend, ob sie auch erhört werd’. Und weiß, sie wird’s wahrscheinlich nicht, und wir nicht werden es wie sie.
Nie habe ich solch ausweglose Musik gehört, oder selten. Ja, selbstverständlich hat das mit unser aller, besonders aber der Ukraine aussichtsloser Situation zu tun, einer, die nicht mehr so tut, als ob, sondern ist. Allsekündlich, allminütig, Tag um elenden, entsetzten Tag. Barenboim scheut sich nicht, es zu zeigen. Und steht da beinah reduziert, jeder Einsatz mehr mit den Augen gegeben, als daß er überhaupt einen Finger rührt. Der Taktstock, meistens, ruht in der Luft. Der alte Klemperer, vom Rollstuhl aus, hat so dirigiert. Für jetzt, im Alter, Jugend noch ward es in der Welt zu spät. Eine kurze Geste, alles schweigt, aufeinanderfolgende Cliffhanger quasi, deren Permanenz das ganze Stück fast unerträglich macht – doch unerträglich, in seiner ganzen Hoffnungslosigkeit, eben a u c h | s o, im Wortsinn, furchtbar schön. Die dumpfen, krachend dumpfen Pauken, das falsche Hoffnungslocken der Trompetenfanfaren, in Flöten und Fagott spielen noch am Straßenrande Kinder. Wie lang, wie lang, wie lange noch? Und wie furchtbar unausweichlich böse, daß der angerufne HErr, der da
dum veneris judicare saeculum per ignem
Tremens factus sum ego, et timeo
kommt, um das Feuer über die Menschen der Ukraine zu bringen und möglicherweise die Menschheit bald ganz, hier Putin, der Diktator, ist. — Nein, es war diese Aufführung nicht blasphemisch, sondern sie hat GOttvater vor den Gerichtshof Den Haags gestellt, und den Sohn. Anklägerin war die Stimme der Bernhard, beauftragt vom ganzen Volke des Chors, Nebenkläger Nazmis bereits der Bitterkeit erlegner Sang, dem Spyres’ sanfter, geradezu englischer Tenor ein bißchen doch noch Hoffnung geben mag. Die mit im Schweigen vergeht.
Und da — Applaus?
„Da aber Ahab [ihn] hörete, zerriß er seine Kleider und legte einen Sack an seinen Leib und fastete und schlief im Sack und ging jämmerlich einher.“
(1 Könige 21,27)
Letzte Änderung: 21.03.2022 | Erstellt am: 17.03.2022
Daniel Barenboim dirigiert Verdis Requiem