Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare
Ulrike Ottinger, gerade 80 Jahre geworden, steht als Autorin, Regisseurin, Kamerafrau, Malerin, Fotografin für den avantgardistischen Film, für Theater und ethnographische Dokumentarfilme. Angeregt vom Expressionismus der frühen Stummfilme, vom Surrealismus und Dadaismus entwickelte sie eine eigene zeitgenössische Filmsprache, in der nichts zufällig ist. Marli Feldvoß hat sich ihrem Werk in einem Essay angenähert.
„Es gibt zwei Dinge, die wichtig sind in meinen Filmen. Das ist die Metamorphose und die Reise. Metamorphose, das ist gleichbedeutend mit Leben, Auseinandersetzung und Veränderung. Ich denke, ohne Veränderung kann es kein Leben geben. Bei der Reise wechselt man permanent den Standpunkt. Und man muss sich immer neu verhalten. Das ist ein ganzes politisches, künstlerisches und ästhetisches Programm.“
Verwandlung ist Leben. Vita nannte Virginia Woolf ihre Freundin, die Schriftstellerin Victoria Sackville-West. Ihr ist der Roman „Orlando“ gewidmet. Vita sollte der unsterbliche Orlando sein, der junge Adlige, der nach ein paar Jahrhunderten sein Geschlecht wechselt, dem dann weniger sein neues weibliches, zur androgynen Vollkommenheit hinzugewachsenes Geschlecht zu schaffen machte, als die darauf bis heute gänzlich unvorbereitete Gesellschaft. Der Geschlechterwechsel änderte nur ihre Zukunft, schreibt Virginia Woolf, nicht aber die Identität. Orlando heißt auch die Dschunke der MADAME X, der vor Unglück verhärteten Piratenkönigin, die nie ihre große Liebe Orlando vergessen wird. Ein Erinnerungsbild – Ulrike Ottinger als Orlando, vertieft in die gelbe Fischer-Taschenbuch-Ausgabe – führt noch einmal den tragischen Unfall vor, die tödliche Umarmung der Qualle, die Faszination des Schönen, die Orlando unweigerlich in die Tiefe hinab zog. Um wieder aufzutauchen. Orlando ist ewige Wiederkehr. Wiedergeboren als einäugige Orlanda Zyclopa oder als doppelköpfige Orlando/Orlanda oder als Orlando Capricho in FREAK ORLANDO ist er/sie als Wanderer durch die Jahrhunderte unterwegs, ein Freak, begleitet von einer Zwergeneskorte. Das Schöne zeigt wieder sein hässliches Gesicht, die Schattenwelt des Anderen.
„Dada hat Laokoon und Söhnen ermöglicht, aus dem ewigen Kreislauf des Kampfes mit der Schlange herauszutreten.“ Tristan Tzara
Der Bürgerschreck Tristan Tzara, Begründer der Dada-Bewegung, war Stichwortgeber für Ulrike Ottingers ersten Film LAOKOON & SÖHNE, der zusammen mit DIE BETÖRUNG DER BLAUEN MATROSEN so etwas wie ein künstlerisches Programm formuliert. Tzara spielt auf die Kampfansage der Moderne an, die die Marmor-Gruppe des Laokoon aus dem Korsett der antikisch gebändigten Harmonie-Vorstellung des idealen Schönen befreit und gleichzeitig dem unverstandenen Warner vor dem Untergang Trojas wieder Stimme verleiht. Da vermeint man aus der Ferne das Kampfgeschrei der Dadaisten zu hören, die das bis zur Jahrhundertwende noch intakt erscheinende weltanschauliche Gefüge angesichts des Schreckenspotentials des Ersten Weltkrieges mit seiner Entfaltung unvorstellbarer Techniken und Materialschlachten plötzlich in ein weltweites Vakuum stürzen sahen.
Der kulturpessimistische Anarchismus des Dada, der mit Ironie, Zynismus und Clownerie den Triumph des Sinnlosen feierte und den absoluten Bruch mit den etablierten moralischen, ästhetischen und gesellschaftlichen Wertbegriffen herbeiführte, ist Ulrike Ottinger nicht fremd. Sie zitiert diesen historischen Bruch mit spielerischer Attitüde, im Hinterkopf die permanente Revolution der Achtundsechziger und die eigene schmerzlich erfahrene Umbruchsituation im Paris des Mai 1968, den im Zentrum des Films stehenden Albtraum, die staatlichen Übergriffe, den CRS-Faschismus, von denen auch ihr Atelier in Paris nicht verschont blieb. Mit dem Zerschlagen von Brillo-Kisten und der Verbrennung der Pelztasse von Meret Oppenheim zeigt LAOKOON & SOHNE eine Bücherverbrennung der neueren Art und schlägt damit den weiten Bogen zu den späten Nachfahren des Dada. zu Happening und Pop Art.
Ulrike Ottinger gab daraufhin ihre Wahlheimat Paris und ihre Mitarbeit im lithographischen Atelier von Johnny Friedlaender auf und kehrte zunächst ins heimatliche Konstanz am Bodensee zurück. Zur politischen Krise, dem zersprengten linken Freundeskreis, den ideologischen Differenzen, zum sie ausgrenzenden Vorwurf des Ästhetizimus, kam die künstlerische Krise, die Abkehr vom Tafelbild, die stärkere Hinwendung zur Fotografie, schließlich zum bewegten Bild. Die beiden Debütfilme sind noch Collagefilme, sie führen in freier Assoziation die Erzählmuster vor, die Ulrike Ottinger später weiterentwickeln wird: die außergewöhnliche Frauengestalt, den Dandy, ein ungewöhnliches Land, eine andere Realität, die Marionette, Verführung, Travestie.
„Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle. Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß, dass sich im Widerspruch das Leben behauptet und dass seine Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abzielt. Jede Art Maske ist ihm darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem eine düpierende Kraft innewohnt. Das Direkte und Primitive erscheint inmitten enormer Unnatur als das Unglaubliche selbst.“ Hugo Ball
Und noch einmal Dada, diese Gruppe desertierter oder ins Schweizer Exil geflüchteter Künstler, die für ihre Lesesoireen die Narrenschiffe des 15. Jahrhunderts (zitiert in FREAK ORLANDO) wiederentdeckten, die selbst in den verschiedensten Verkleidungen, am liebsten in der Maske des Dandy, auf einem solchen Narrenschiff, im Abseits, saßen, sie haben stets auf jenen anderen Ort verwiesen, den Ulrike Ottinger immer wieder in ihren Filmen beschwört. „Es war einmal“, erzählt eine Frauenstimme zu Beginn von LAOKOON & SÖHNE und eröffnet die Reise in ein fiktives, nur von Frauen bewohntes Land mit dem Namen Laura Molloy, in dem sich auch Tristan Tzara eine poesievolle Geschlechtsumwandlung gefallen lassen muss. Sarah Tristan Tzara oder Tristan Zarah Tristana. Die Protagonstin Esmeralda del Rio (Tabea Blumenschein) malt sich ein Stierzeichen auf die Stirn. Corrida-Musik trumpft auf. Die Reise geht in die Fremde, wo der Kult der Verkleidung herrscht, wo sich im Versteckspiel auch die Wahrheit des Sexuell-Anderen verbirgt, wo, in unverkennbarer Anspielung auf den vorbildhaften und verehrten Kunstkritiker Carl Einstein, montierte Fotos von „Neger”- und „Indianer“masken die Sehnsucht der Moderne nach Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Naivität markieren.
„Meine Mutter zeigte mir vor einiger Zeit einige Fotos und sagte: ‚Weißt Du noch, dass ich Dir damals diese kleine Retina geschenkt habe? Das war das erste Foto, das Du gemacht hast.’ Ich war gerade acht Jahre alt, und wir waren in Amsterdam, wo ich einen indischen Herrn und einen Schwarzen aufgenommen habe, offenbar zwei Diplomaten. Ich bin hingegangen und habe gefragt, ob ich sie fotografieren darf. Der eine trägt einen Turban und lächelt mich so freundlich an.“
In jedem ihrer Filme wird Ulrike Ottinger eine Reise machen, eine Distanz zurücklegen, um an den Ort des Geschehens zu gelangen oder um einen vertrauten Ort (immer wieder Berlin) zu verwandeln, zu verfremden. Da brechen sieben Frauen aus der ganzen Welt auf, um dem Ruf der Madame X auf das geheimnisvolle Piratinnenschiff zu folgen und um den Bodensee in das Chinesische Meer zu verwandeln (MADAME X – EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN); da landet eine namenlose Schönheit auf dem Flughafen Tegel und verwandelt die trostlose Stadt Berlin in ein phantastisches Trinkerinnenparadies (BILDNIS EINER TRINKERIN); da schwimmen geheimnisvolle Datenträger durch einen Abwassertunnel, um in das unterirdische Reich der Medienzarin Frau Dr. Mabuse zu gelangen (DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE); da erreicht ein einsamer Wanderer in Abendstimmung das neon-illuminierte Stadttor von Freak City (FREAK ORLANDO); da fährt die Transsibirische Eisenbahn eine halbe Filmlänge lang durch eine gemalte Tundra Kulisse, um dann in der wirklichen Inneren Mongolei anzukommen (JOHANNA D‘ARC OF MONGOLIA). Ottinger entwirft keine Gegenwelten, sondern begibt sich auf ein eigenes Territorium, in eine andere Realität, die nur dem Blickgebot der Kamerafrau Ulrike Ottinger folgt, die unter dem die ganze Leinwand einnehmenden rauschhaft roten Faltenwurf der Trinkerin als ein Ort des weiblichen Begehrens erscheint, in dem surreal inspirierten circensischen Welttheater von FREAK ORLANDO mit seiner von der Antike bis heute aufgerollten Geschichte der Ausgegrenzten und Verfolgten als ein Ort des Wahnsinns und der Apokalypse.
„Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare.“ Oscar Wilde
„Die Aufgabe des Ethnologen ist nicht nur, den kolonialisierten Völkern bei der Erlangung ihrer Unabhängigkeit beizustehen, sondern die eigene Entkolonialisierung zu vollziehen, das heißt die eigenen Phantasmen. Phobien, Obsessionen beschreiben, sich selbst in der Sprache wiederherstellen, als Kunstfigur.“ Michel Leiris
Der dadaistische Dandy sucht nach einem „Sprung” aus seiner Gefangenschaft in der Hofnarrenrolle, will der aufgezwungenen Stilisierung des Großstadt-Exzentrikers entkommen. Die statuarisch gebieterische stumme Madame X, mehr noch die sich in berückenden Selbstentwürfen immer neu verkleidende und in opernhaften Auftritten selbstinszenierende Trinkerin, eine Städterin und Flaneurin, oder auch Dorian Gray persönlich, der seinem Doppelgänger beim Theaterspielen in einer Theaterkulisse vor brausender Brandung zusieht, sie alle sind Dandys, narzisstische Maskenträger, die sich und ihr Leben zum Kunstwerk stilisiert haben. Sie sind nicht auf Identitätssuche, sie bedeuten nur sich selbst, sie sind exaltierte Selbstentwürfe, die als Kunstfiguren, als mythologische oder literarische Zitate oder Archetypen symbolisch eine Wiederherstellung der eigenen Person in Gang setzen, die gleichzeitig der nie zur Sprache gebrachten gesellschaftlichen Ausschließung, der Kolonialisierung des Homosexuellen, entgegenarbeiten.
Anders als etwa in Yvonne Rainers FILM ABOUT A WOMAN WHO, wo eine Männerstimme die Herrschaftsverhältnisse hier und jetzt markiert, wo dadurch, dass die Frau von der Sprache abgetrennt ist, ein realistischer Bezug zu einer heterosexuell gedachten und patriarchalisch dominierten Gesellschaft hergestellt wird, durchbrechen Ottingers Figuren nicht die häufig durch gläserne Trennwände markierte Grenze zur Realität. Oft wird ihnen diese Realität mit Wasser- oder Farbeimern förmlich entgegengeschleudert, um wie an einer unsichtbaren Grenze abzuprallen. Sie stehen im Zeichen und im Schutz der Differenz, aber auch in der Einsamkeit ihrer Exterritorialität.
Die effektvollen, Schönheit suggerierenden Spiegelungen oder das makellose Spiegelbild täuschen leicht über die Deformation dieser narzisstischen Selbstgenügsamkeit hinweg. Auch Ottingers Dandy leidet an der Einmaligkeit seiner Erscheinung, an der Fixierung auf das eigene Ich-Ideal. Das Schlussbild von BILDNIS EINER TRINKERIN zeigt sie eingeschlossen in Spiegelwände, ein nur auf sich selbst zurückweisendes Bild, ein Bild des Todes.
„In dem Zustand des Schwebens zwischen zwei Welten, wenn wir mit der alten gebrochen haben, … treten die Satire, die Groteske, die Karikatur, der Clown und die Puppe auf; und es ist der tiefe Sinn dieser Ausdrucksformen, durch das Aufzeigen der Marionettenhaftigkeit, der Mechanisierung des Lebens, durch die scheinbare und wirkliche Erstarrung hindurch, uns ein anderes Leben vorstellen zu lassen.“ Raoul Hausmann
Das Mechanische und Marionettenhafte der Figuren in fast allen Filmen Ottingers, das Unrealistische, steht in einer jahrhundertealten kunst- und literaturgeschichtlichen Tradition und hat immer wieder große Missverständnisse, gerade von Seiten der Frauenbewegung, provoziert. Ihr erster großer Spielfilm MADAME X – EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN, der Aufbruch einer Frauengesellschaft zu neuen Ufern. wurde, wenn auch insgesamt von der Kritik wohlwollend aufgenommen, in Frauenkreisen keineswegs einhellig als Entwurf einer feministisch-ästhetischen Utopie angenommen. Unbehagen bereitete die Übernahme des männlichen Herrschaftsprinzips und die gewalttätigen Initiationsrituale, die für die damals gepriesene Spielwiese der „neuen Zärtlichkeit” zu abenteuerlustig waren. Dass es dabei um Simulationen von Herrschaftsgebaren ging, deren Gestus oft der übertriebenen Gebärdensprache des Stummfilms abgeschaut war, auch Zitat war, oder um Verwandlungsspiele, die auch den Neubeginn in Selbstbestimmung nach dem Untergang der alten Knebel-Gesellschaft enthielten, ist den durch gradlinige Frauenbefreiungsfabeln getrübten Blicken wohl entgangen.
Ausgerechnet MADAME X enthält die einzige ausgesprochene Liebesszene im Ottingerschen Werk, die Verführung der grausamen Piratin mit dem todbringenden Handschuh und dem Karate-Schrei durch das naive Hawaii-Mädchen Noa-Noa. Wenn sich Blumenkohl und Lauchstange zur Hula-Hula-Musik in kunstvoll arrangierte Liebesgaben verwandeln, dann huscht unwillkürlich ein Lächeln über das Gesicht der Unerbittlichen, dann zieht die Piraten-Löwin bereitwillig ihre gefährlichen Krallen ein und dämpft ihr Gebrüll zum liebestollen Katzenschnurren. Die hochentwickelte Zeichensprache von Gesten und Gebärden der Verführung bei der Begegnung dieses ungleichen, gleichgeschlechtlichen Paars entfaltet einen ganzen Kanon weiblichen Begehrens, ohne je in die Realität durchzubrechen, und verweist auf den gerade in Liebesfragen besonders originellen und witzigen Fundus einer alternativen Homosexuellen-Kultur. Aber dieser selbstverständliche amüsiert-amüsante Umgang mit Frauen war der damals mit ernsthaften Problemen der Ich-Findung beschäftigten weiblichen Zuschauerschaft in der Mehrzahl wohl zu oberflächlich.
Das Zauberwort der Frauenbewegung hieß Spurensuche, doch da konnte die Ethnologin Ulrike Ottinger stets mithalten, nur lagen ihre Erkenntnisziele auf einem anderen, schwarzen Kontinent. Sie folgte ihrem eigenen Wegweiser, zum Beispiel der mythischen Figur der verführerischen Lebensbaumgöttin vor den Toren der Stadt, die dem Wanderer Orlando den Weg nach Freak City weist. Der in jahrhundertelanger Lebenserfahrung geschulte Freak Orlando geht in den Berg, in den Untergrund und damit zurück in die Vergangenheit und macht sich an die Ausgrabungsarbeit der nie vergehenden Mythen und Archetypen in den Tiefen des Unbewussten. Sein Nachfolger DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE schreitet hingegen voran in die Gegenwart und Zukunft einer immer inhumaner werdenden Medienwelt.
„Das Bild spricht. Wie das Kostüm für mich nie ein Kostüm ist, sondern genauso zum Bildinhalt gehört wie der Hintergrund. Für mich geht es nicht darum, einen exotischen Hintergrund zu finden, sondern es gehört mit zum Inhalt. Bild spricht. Und diese Meinung habe ich halt zu einem Zeitpunkt vertreten, wo viele der Ansicht waren, dass nur über das Wort Inhalte zu transportieren seien. Dieser Ansicht war ich nie und habe sie auch immer als absurd empfunden, gerade wenn man im Film arbeitet. So wie man mit Worten Bilder der Phantasie erzeugen kann, so muss man mit Bildern umgekehrt auch Inhalte erzeugen können in den Köpfen.“
FREAK ORLANDO beginnt zur mythologischen Zeit in einem Kaufhaus. wo sich heutzutage die Ablagerungen der Weltgeschichte unbeachtet in den Regalen drängeln. Orlando ist zunächst eine einäugige Göttin und Schuhmacherin, die mit ihren rnythologischen Schuhsohlen bei Filialleiter Zeus in Ungnade fällt und mit ihrem Zwergengefolge eine Odyssee der Verwandlung durch die „histoire du monde” antritt. Ausgestattet mit den phantastischen „tableaux vivants“ eines barocken Welttheaters erscheint dieses Geschichtspanorama wie eine Archäologie eines verdrängten Traums, der alle kulturellen Tabus, Verketzerungen wie Abnormitäten, ans Tageslicht befördert, Säulenheilige, Bartfrauen, Flagellanten, bis zu den Freaks von heute, Lederschwule oder einen Psychopharmaka-Vertreter als Normalbürger, der weder die Greuel der Inquisition noch ein modernes Olympiastadion als Ort des Verbrechens auslässt, ein Theater der Grausamkeit. Ottinger zielt immer wieder auf die Destruierung des Idealen und des Kunstschönen, das als Kehrseite das Hässliche, die Monstren, zu denen früher die Homosexuellen zählten, hervorgebracht hat.
DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE treibt die Deformation noch weiter. Er ist kein Lebenskünstler mehr wie bei Oscar Wilde, sondern ein Geschöpf der Medienzarin Dr. Mabuse, ein Homunculus, eine Olympia, Golem oder Frankenstein. Frau Dr. Mabuse ist nicht das personifizierte Böse wie bei Fritz Lang, sondern eine Bewusstseinsproduzentin, die den eitlen Dorian Gray als auflagensteigernde Maßnahme ihres Medienkonzerns benutzt. Die immer opulenter, opernhafter werdenden Bildentwürfe, die immer noch eine Steigerung für Schaulust und Sinnenrausch bereithalten, die sich von den Verkleidungsszenanien der ersten Filme zu allegorischen Installationen weiterentwickelt haben, kehren jetzt noch stärker Ottingers manieristische Neigungen hervor, unterstreichen das Gefangensein im unendlichen Formenreichtum. Diese Entwicklung erreicht zum Beispiel mit der Bildphantasie eines Presseballs, der, in einen mit Zeitungen austapezierten Raum verlegt, in der Verkleisterung des eigenen Druckerzeugnisses erstarrt, einen vorläufigen Höhepunkt, eine nur noch als Pose vorgeführte kritische Haltung.
Den Durchbruch in die Wirklichkeit bringt die erste Chinareise, festgehalten in der beobachtenden Dokumentation CHINA. DIE KÜNSTE – DER ALLTAG. Die Reflexion über den Zusammenstoß mit der Wirklichkeit leistet drei Jahre später JOHANNA D’ARC OF MONGOLIA, dessen Sprachverwirrung im Titel schon deutlich eine Neuorientierung, das Zusammendenken von Dokument und Fiktion markiert. Die Reiseführerin, die Ethnologin und Schriftstellerin Lady Windermere (Delphine Seyrig), eine alte Bekannte, steckt das Terrain ab. Sie ist schon ein erster Hinweis dafür, dass der formal in Fiktion und Dokument zweigeteilte Film, dessen zweiter Teil in der Inneren Mongolei gedreht ist und sich als authentisch ausgibt, eine Täuschung in doppelter Hinsicht ist. Die Mongolen ahmen nicht nur spielerisch ihre eigene längst vergangene Geschichte nach, sondern auch die alten, von den Rhapsoden vorgetragenen Gesänge sind Neudichtungen, die zwar auf überlieferten Vorlagen beruhen, jedoch unter Ulrike Ottingers kräftiger Mitarbeit entstanden und aus dem Deutschen ins Mongolische übersetzt wurden.
„Das Chinesische an meiner Arbeit ist, dass ich vielleicht für alles, was ich mache, eine adäquate Form suche. Meine Filme sind ja sehr unterschiedlich. Sie verraten meine Faszinationen, sind aber unterschiedlich gemacht. Ich möchte ein Beispiel nennen: so wie zum Beginn von JOHANNA D‘ARC OF MONGOLIA die vier Damen ganz differenziert eingeführt werden. Also nicht nur ihrem ganzen Environment, wie sie dargestellt werden und in ihrer Art zu sprechen, sondern auch die Kamera bewegt sich ganz unterschiedlich, also auch die Form verändert sich. Ich versuche einfach, für jeden Film eine ganz adäquate Form zu finden. Darum werden die Dinge auch immer so kompliziert, weil einfach alles, was man tut, vernetzt ist.“
Erst mit TAIGA erreicht Ulrike Ottinger eine neue, ganz dem Erlebnis der Entdeckung ausgelieferte Erzählqualität. TAIGA, der achteinhalbstündige Reisebericht aus der Mongolei, der den Yak- und Rentiernomaden folgt, der sich die Zeit nimmt, sie auf ihrem Weg vom Sommer- ins Winterlager zu begleiten, Zeit für die Zubereitung der „weißen“ Speisen, für die überlieferte Handwerkskunst, für ein ländliches Hochzeitsfest, für die Begrüßungs- und Freundschaftsgesten, für die Gastfreundschaft, für die Lobpreissänger, für den Schamanenkult, für die Rituale, die schon frühmorgens beginnen, wenn der erste Milchtee die Geister besänftigen soll, für die Langsamkeit einer archaischen Welt. Um an diesen fernen Ort zu kommen, unternimmt Ottinger keine Reise mehr.
Sie ist angekommen. Bei einem Volk, das ihr seine ausgesprochene Begabung zur Selbstinszenierung und Selbststilisierung wie ein Geschenk offeriert. Dass darin vielleicht das geheime Band zwischen zwei Welten verborgen liegt, das diesen alten Mädchentraum hat Wirklichkeit werden lassen – wer weiß. Erst jetzt verwandelt sich Ulrike Ottinger in eine Ethnologin im eigentlichen Sinne, in eine Archäologin der Wirklichkeit und der Begegnung. Zum ersten Mal saugt sich der Blick nicht an den Ausgrenzungsritualen des Okzidents fest, sondern lässt sich vom nie endenwollenden Panoramaschwenk in die Weiten eines orientalischen Hochlandes tragen. Schwerelos und angstfrei. Mit ungebändigter Schaulust auf ein fremdes Leben.
Die Zitate von Ulrike Ottinger stammen aus einem Gespräch, das Marli Feldvoß mit ihr im Sommer 1995 in Berlin geführt hat.
Erstveröffentlichung in epd Film 10/1995
Letzte Änderung: 03.08.2022 | Erstellt am: 20.06.2022
Filmographie
1973 BERLINFIEBER – WOLF VOSTELL (Kurzfilm)
1973 LAOKOON & SÖHNE (Kurzfilm)
1975 DIE BETÖRUNG DER BLAUEN MATROSEN (Kurzfilm)
1977 MADAME X – EINE ABSOLUTE HERRSCHERIN
1979 BILDNIS EINER TRINKERIN – ALLER JAMAIS RETOUR
1981 FREAK ORLANDO
1983 DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE
1985 CHINA. DIE KÜNSTE – DER ALLTAG
1986 SUPERBIA – DER STOLZ (Kurzfilm)
1987 USINIMAGE (Kurzfilm)
1989 JOHANNA D’ARC OF MONGOLIA
1990 COUNTDOWN
1992 TAIGA
Marli Feldvoß Unterwegs im Kino
Kritiken und Essays
474 Seiten
ISBN 978-3-465-04512-0
Klostermann/Nexus 96, Frankfurt 2013.
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