Das fängt ja gut an

Das fängt ja gut an

Neustart des Frankfurter Schauspiels

Die bei sinkender Zahl der versammelten Menschen verminderte Ansteckungsgefahr macht’s möglich. Die Theatersaison konnte beginnen, und zwar mit einer Erzählung von Heinrich von Kleist und einem Roman von Upton Sinclair. Martin Lüdke war im Frankfurter Schauspielhaus. Er hat sich nicht gelangweilt, nur geärgert.

Zwei Premieren im großen Haus des Frankfurter Schauspiels innerhalb von nur vier Tagen: Nach der langen Corona-Pause der Start in eine neue, hoffentlich kaum noch vom Virus beeinträchtigte, Spielzeit. Volle Auslastung, geringe Einschränkungen. Nötig: Impfnachweis, Ausweis, Maske, auch während der Vorstellung. So konnte es losgehen, so könnte es – wenn man was zum Vorführen gehabt hätte. Stattdessen: Zwei Stücke, die beide nur eine, unterschiedlich gelungene, dramatische Bearbeitung erzählerischer Vorgaben bieten. Warum? Gibt es keine Stücke mehr? Und, mehr noch, muss man ausgerechnet auf Stoffe zurückgreifen, die sich so wenig zu einer Dramatisierung eignen wie Kleists „Kohlhaas“ und, obwohl vor einigen Jahren verfilmt, Upton Sinclairs „Öl!“?

Michael Kohlhaas - Schauspiel Frankfurt | © Foto: Thomas Aurin

Heinrich von Kleist

„Gerechtigkeit? – Gerechtigkeit gibt’s im Jenseits, hier auf Erden gibt es das Recht.“ – mit dieser Feststellung beginnt William Gaddis, einer der großen amerikanischen Erzähler des zwanzigsten Jahrhunderts (1994) seinen späten Roman „Letzte Instanz.“
Wie wir wissen, ist zwischen Himmel und Erde viel Platz. Für Tragödien und Komödien, für kleine Dramen, große Irrtümer und herzergreifende Geschichten. Eine der berühmtesten Geschichten dieser Art, die alles enthält, was Herz und Verstand begehren können, stammt von Heinrich von Kleist. Sein „Michael Kohlhaas“ ist sogar in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Ein „Kohlhaas“ ist einer, der um jeden Preis für sein Recht kämpft. Aber, wie es bei Kleist heißt: „Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“

Von Kleist gibt es – unter anderem – „Penthesilea“, den „Zerbrochenen Krug“, den „Prinzen von Homburg“ und noch einige weitere Dramen. Wenn es schon Kleist sein sollte, hätte man sich hier bestens bedienen können. Der Dramaturg Alexander Leiffheidt und die Regisseurin Felicitas Brucker wollten keines dieser Kleist’schen Theaterstücke, sondern die größte und bekannteste Erzählung, „Michael Kohlhaas“ auf die Bühne zu bringen. Warum bleibt rätselhaft. Kleist wird gewusst haben, weshalb er den Kohlhaas’schen Stoff nicht dramatisiert, sondern ‚nur’ erzählt hat. Die Inszenierung hat es jetzt, eher unfreiwillig, aber eindrucksvoll noch einmal demonstriert. Auf weite, deutlich zu weite Strecken konnte sich Darstellung nicht von der Erzählung lösen. Immer wieder musste der Fortgang der Handlung referiert werden. Dabei sprangen die Darsteller aus ihrer Rolle, stellten sich hilflos an die Rampe und erzählten den Zuschauern, wie die Geschichte bei Kleist weitergeht.

Das ist auch deshalb ein Jammer, weil das Bühnenbild, ebenso grandios wie einfallsreich, einen wunderbaren Schauplatz für ein Drama hätte bieten können. In der Inszenierung von Felicitas Brucker wurde es zu einer beliebigen Kulisse, in der auch Pommes frites mit Ketchup verkauft oder die neuesten Börsenkurse hätten präsentiert werden können.
Frau Brucker hat kein Drama inszeniert, sondern ein Hörspiel auf der Bühne produziert. Die Schauspieler wurden als Sprecher angestellt. Das war kein Theater, sondern Schulfunk.
Deshalb ist diese Inszenierung für Schulklassen höherer Jahrgänge durchaus zu empfehlen. Man kapiert, worum es geht. Nämlich: um Recht und Gerechtigkeit. Und das Programmheft, sehr informativ, liefert dann auch noch kluge Erklärungen dazu.

Ein Rosshändler auf dem Weg nach Dresden, wird an einem Kontrollpunkt des Ritters Tronka angehalten und nach seinem Pass für die Pferde gefragt. Weil er den nicht vorweisen kann, werden seine Pferde als Pfand zurückgehalten, bis er den geforderten Pass vorlegt hat. Als er mit der Auskunft zurückkommt, dass es solche Dokumente gar nicht gibt und sie natürlich auch nicht erforderlich sind, ist sein Knecht Herse schwer misshandelt und anschließend verjagt worden. Die edlen Pferde, zur Feldarbeit missbraucht, sind in einem jämmerlichen Zustand. Damit nicht genug. Das Unrecht setzt sich weiter fort: Kohlhaas’ Frau wird bei dem Versuch, eine Bittschrift zu überreichen, schwer verletzt und stirbt. Überall sitzen die Verwandten von Tronka und wehren die Kohlhaas’schen Versuche, sein Recht zu bekommen, schon im Vorfeld durch Intrigen, Tücke und List ab. Kohlhaas verkauft darum seinen Besitz und zieht mit Herse, seinem Knecht, und einer Truppe von Freischärlern durch die Lande und rächt sich für das erlittene Unrecht.

Die Schauspieler müssen jeweils mehrere Rollen übernehmen. So spricht zum Beispiel Sarah Grunert die Texte von Luther, Hinz von Tronka und Nagelschmidt (dem Räuber und Gefolgsmann von Kohlhaas). Das ist nicht weiter schlimm, weil ja nicht gespielt, sondern nur gesprochen wird. Dann, wie gesagt, treten wieder einzelne Akteure vor, die Auswahl scheint zufällig, stellen sich an die Rampe und erzählen schlicht, wie es weitergeht.
Überzeugend ist übrigens das Treffen mit Luther dargestellt. Kohlhaas will zwar beichten, aber nicht verzeihen, weshalb Luther ihm, auf der Bühne, sogar zweimal, die Beichte verweigert. Als man am Ende offenbar merkte, da fehlt doch was, wurde der mythische Hintergrund, der die Kleist’sche Erzählung durchzieht, schnell noch nachgeliefert. Im „Kohlhaas“ taucht früh eine Zigeunerin auf, die dem Rosshändler eine Kapsel übergibt, in der die Zukunft des sächsischen Herrscherhauses vorausgesagt wird. Darauf wollte man natürlich nicht (ganz) verzichten, weil die Sachsen ganz spitz darauf sind. Deshalb wird das auch noch schnell nachgeliefert. Aber Kohlhaas, der unterdessen sein Recht bekommen hat, allerdings für seine Straftaten hingerichtet werden wird, steckt sich das Papier in den Mund und schluckt es runter. Als Zuschauer hofft man, dass es ihm bekommen möge.
Natürlich, wie immer bei Premieren: Beifall. Nicht üppig, aber immerhin.

Michael Kohlhaas - Schauspiel Frankfurt | © Foto: Thomas AurinMichael Kohlhaas - Schauspiel Frankfurt | © Foto: Thomas Aurin

Upton Sinclair

Der Roman „Öl!“ des amerikanischen Autors Upton Sinclair, ist 1927 erstmals (auch schon in Deutschland, in dem damals berühmten linken Malik-Verlag) erschienen und wird, wie es erstaunlich offen im Programmheft heißt, „eher selten gelesen“.

Jan-Christoph Gockel, der einige Jahre in Mainz, aber auch schon in Frankfurt gearbeitet hat, seit letzter Spielzeit an den Münchner Kammerspielen in der künstlerischen Leitung und als Hausregisseur engagiert, hat sich, seinen politischen Interessen folgend, Sinclair vorgeknöpft und eine temperamentvoll schmissige, technisch ziemlich aufwendige und dadurch optisch sehr eindrucksvolle Inszenierung vorgelegt. Mit einem Ergebnis, das leider durch einen Shakespeare-Titel gut zu charakterisieren ist: Viel Lärm um nichts. Auch beim besten Willen erschließt sich nicht, weshalb Gockel diese ollen Kamellen ausgepackt und mit einem derartigen Aufwand zu aktualisieren versucht hat.
J. Arnold Ross (Wolfram Koch, der einen soliden Part auf die Bühne bringt) und sein Sohn Bunny (von Torsten Flassig, mit kurzen Hosen überzeugend dargestellt) reisen in Sachen Öl durch die texanischen Weiten. Ihnen gelingt es, einem frommen Farmer, der vor der Pleite steht, sein Land abzuluchsen, um darauf Öl zu fördern und entsprechend ihren Reichtum zu befördern. Der Preis für das Land wird mit warmen Worten bezahlt, also einer göttlichen, der „Dritten Offenbarung“. Das ist, wie die große Dichterin Christa Reinig einmal sagte, alles interessant und auch irgendwie bekannt. Gockel begnügt sich deshalb damit nicht. Er will offenbar unseren Blick weiten und uns das Blickfeld für die Frankfurter Bankentürme öffnen, die schließlich gleich neben dem Schauspielhaus in den Himmel ragen. Wir sehen auf einer wirklich riesigen Leinwand, die dicht an der Rampe die gesamte Bühne überspannt, mal das, was sich draußen vor der Finanzwelt abspielt, Leute, Verkehr, Wolken, mal das, was auf der Bühne vor sich geht. Es sind dichte, schon durch die schiere Größe eindrucksvolle Bilder. So kommt die wirkliche Wirklichkeit ins Schauspielhaus. Und auf der Bühne steht, was einmal wirklich war: ein altes Auto, eine Baracke, weiß lackiert. An dem alten Chevrolet aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, sehen wir einige Leute, die sich hin und wieder um ein Bohrloch bewegen. Meistens aber nur herumstehen, manchmal streiken und sich dann, mit handbemalten Plakaten bestückt, an die Seite stellen, so dass der Zuschauer gut lesen kann, was auf den Plakaten steht. Manchmal schieben auch Bühnenarbeiter riesige Leuchttafeln durch die Gegend, auf denen sich dann das Wort Holywod lesen lässt, nachgebildet dem Schriftzug, der sich an den Hügeln von Santa Monica abzeichnet. Es fallen viele fromme Sprüche. Es bleiben viele eindrucksvolle Bilder. Durch den Einsatz dieser technischen Mittel wurde es naturgemäß nie langweilig. Die großartigen optischen Effekte bleiben äußerlich. Man kann die guten Absichten erkennen, nicht aber die Vermittlung zu dem präsentierten ‚Stoff’. Schon der Streik der Arbeiter auf dem Ölfeld blieb nur eine Abwechslung in ihrem Alltag, kein Arbeits- und schon gar kein Klassenkampf, wie er bei Sinclair noch angelegt war. Der naive Realismus von Upton Sinclair findet seine Entsprechung in Gockels Inszenierung. Die Macht der Banken mag sich in der Höhe ihrer Türme spiegeln. Wie sie ihre Macht ausüben, wo und wie die Geldströme fließen, lässt sich an der Fassade nicht erkennen. Aber im „Öl!“ ist immer was los.

Und deshalb gab es herzlichen, auch kräftigen Beifall. Verstärkt vielleicht auch dafür, dass es nun endlich wieder losgegangen war. Wenn auch in die falsche Richtung.
Aber die Spielzeit ist ja noch lang.

ÖL! - Schauspiel Frankfurt | © Foto: Thomas AurinÖL! - Schauspiel Frankfurt | © Foto: Thomas Aurin

Letzte Änderung: 23.09.2021  |  Erstellt am: 21.09.2021

MICHAEL KOHLHAAS
nach Heinrich von Kleist
Für die Bühne bearbeitet von Felicitas Brucker und Alexander Leiffheidt

TEAM
Regie: Felicitas Brucker
Bühne und Kostüme: Viva Schudt
Video/ Animation: Luis August Krawen
Musik: Mark Badur
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt

BESETZUNG
Stefan Graf, Sarah Grunert, Nils Kreutinger, Annie Nowak, Matthias Redlhammer, Sebastian Reiß

INHALT
Die Geschichte des Bürgers Kohlhaas, der zur Selbstjustiz greift und schließlich in seinem Verlangen nach Gerechtigkeit so unbedingt wird, dass er über Leichen geht, zählt zu den bekanntesten und zugleich komplexesten Werken Heinrich von Kleists. Wie in einem Vexierspiel erscheinen der Protagonist und seine Widersacher uns bald im Recht, bald im Unrecht, bald beides zugleich. Wie ist das möglich? Wie viele unter- schiedliche, gar konkurrierende Gerechtigkeiten gibt es? Und wie lässt sich Gerechtigkeit in letzter Instanz begründen?
Die Erfahrung der Krise, die die Welt seit knapp zwei Jahren in Atem hält, hat gezeigt, von welcher Relevanz diese Fragen sind – dann nämlich, wenn in einem Ausnahmezustand verschiedene Konstruktionen von Gerechtigkeit kollidieren. An dieser Bruchstelle beschreibt Kleist das Phänomen einer eruptiven Gewalt, die beinahe richtungs- und unterscheidungslos alles zerstört. Felicitas Brucker spürt in ihrer Inszenierung diesen modernen Aspekten eines beunruhigenden Textes nach.

Siehe Schauspielhaus

ÖL!
nach dem Roman von Upton Sinclair
Für die Bühne bearbeitet von Jan-Christoph Gockel

TEAM
Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg
Kostüme: Amit Epstein
Musik und Hörspiel: Matthias Grübel
Video: Eike Zuleeg
Dramaturgie: Katrin Spira

BESETZUNG
Caroline Dietrich, Torsten Flassig, Wolfram Koch, André Meyer, Lotte Schubert, Andreas Vögler
Benjamin Lüdtke, Eike Zuleeg (Live-Video)

INHALT
Glänzend und klebrig eröffnete das »schwarze Gold« ein neues Menschheitszeitalter. Dass Öl den Traum von Reichtum und Macht Realität werden lassen kann, zeigt die Geschichte des gerissenen Erdölmagnaten J. Arnold Ross in Upton Sinclairs Roman »Öl!« aus dem Jahr 1926. Ross‘ Imperium hat bereits einen Erben: seinen Sohn Bunny. Doch Bunny ist anders als sein Vater. Je älter er wird, umso mehr widern Ausbeutung und Bestechung ihn an. Während Ross auf dem Weg ist, Hollywood zu einem weiteren Baustein seines Erfolges zu machen, gerät Bunny mit seinem Idealismus zwischen die Fronten von Glamour und Politik, Glaube und Kapital, den eigenen Privilegien und den Sympathien gegenüber der Arbeiterschaft. Jan-Christoph Gockel bearbeitet Sinclairs Epos, das unter dem Titel »There Will Be Blood« verfilmt wurde. »Öl!« verbindet einprägsam das dreckige Geschäft um den Rohstoff, die Ausbeutung der Natur und die Auswüchse des größenwahnsinnigen Kapitalismus.

Siehe Schauspielhaus

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Kommentare

wolfram schütte schreibt
warum, martin, fragst du? 1.weil diese bearbeitungen den autoren - womit weder kleist noch sinclair gemeint sind - zusätzliche tantiemen einbringen. 2. weil kein ästhetischer anspruch vorweg besteht, mit dem sich die regisseure & sprecher-schauspieler beschäftigen müssten. 3. weil "die leute" heute keine "alten" (historischen) romane/erzählungen, schon gar klassiker, noch "freiwillig" lesen; allenfalls lassen sie sich klassiker auf der bühne als aufgepeppte unterhaltungs-show gefallen.
Marli Feldvoß schreibt
Lieber Martin Lüdke, danke für die Kritik. Gibt es denn keine Stücke mehr? Diese Frage stelle ich mir seit Jahren. Damit sind auch die Klassiker gemeint, die immer noch mehr zu sagen haben als das Regietheater der selbsternannten Autoren. Ich habe in meinen Anfängen auch Theaterkritken geschrieben, eine der letzten war über das "Käthchen" im Frankfurter Schauspiel. Auch ich habe mich damals jedes Mal mehr über die schlechten Aufführungen geärgert und es dann ganz gelassen. Das tat dem damals kühn voranschreitenden Regietheater natürlich keinen Abbruch. Aber einen Aufschrei der Kritiker hat es - meines WIssens - nicht gegeben. Vielleicht spielt dabei auch das hoch subventionierte Theater eine Rolle - da spielt es sich einfach munter weiter... Mit herzlichem Gruß Marli Feldvoß
Walter H. schreibt
Lieber Martin Lüdke! Es ware ihrer drei Premieren. Es gab noch "Nach Mitternacht" im Kammerspiel. Und Ausgangspunkt auch hier ein Roman - diesmal von Irmgard Keun. Ein Sieg der Belletristik gegenüber der Dramatik - und das an einem Stadttheater. Viele junge Autor*innen hätten sich gefreut - gerade in Zeiten der Pandemie - durch eine Uraufführung Aufmerksamkeit zu bekommen.

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