Außerhalb des etablierten Starsystems
Die Beschreibungen ihrer Charaktere lassen vermuten, dass diese Schauspielerin soviel wie alles kann. Sie spielt radikale, egoistische, verzweifelte Figuren, die um jeden Preis ihre Freiheit erkämpfen, oder unberechenbare, ziellose Frauen, die schlafwandlerisch sich in eine Traumwelt flüchten. Sie wird geschildert als unzugängliches Wesen mit einem blassen, schmalen Gesicht, das bedeckt ist von leuchtenden Sommersprossen und Augen mit einem Hauch von Melancholie. Marli Feldvoß schreibt über die französische Schauspielerin Sandrine Kiberlain.
Die Landärztin mit dem großen Lachen ist eine patente Frau, die jedoch wie ein Häuflein Unglück in sich zusammenfällt, als ihr Mann vom Einsatz an der Front in Afghanistan nicht mehr zurückkehrt. Das Helle und das Dunkle glaubhaft in einer Person zu vereinen, ist für die in Frankreich schon seit langem populäre Schauspielerin Sandrine Kiberlain eine Herausforderung, die sie nicht zum ersten Mal mit großer Glaubwürdigkeit zu meistern versteht. In ihrem neuen Film „Quand on a 17 ans“ (Mit siebzehn)) hat sie als Mutter und moralische Instanz zwar an erster Stelle zwei Kampfhähne im schwierigen Alter zu befrieden, es gelingt ihr jedoch, ihren ganz persönlichen Schmerz mit gleicher Wucht in die eigentliche Geschichte des Films hineinzutragen. Regisseur André Techiné, der sie erst jetzt entdeckte, war nicht der erste, der sich von seiner Hauptdarstellerin überrascht zeigte, wie sie allein mit dem Gewicht der Sprachlosigkeit menschliche Tiefen auszuloten versteht. Allzu leicht läßt man sich von der schlaksigen, rotblond-sommersprossigen, (auch heute noch) mädchenhaften Erscheinung Kiberlains täuschen, die für Unbeschwertheit, Leichtigkeit, heiter Erbauliches zu stehen scheint. Auch der gern zitierte, aus Kindertagen stammende, Spitzname „Giraffe“ lenkt den Blick auf das Körperliche, großgewachsen und langbeinig; dabei ist sie eine sehr vielseitige Schauspielerin, die inzwischen noch eine zweite Karriere als Sängerin gestartet hat.
Im Grunde hat Sandrine Kiberlain schon mit ihrer ersten Hauptrolle als Arbeiterin Alice aus einer Fischfabrik in Boulogne-sur-mer gezeigt, was in ihr steckt. Sie erhielt 1996 dafür einen Nachwuchs-César für die Rolle der jungen Frau, die über Nacht in die Arbeitslosigkeit stürzt und, zwangsläufig, einen Neuanfang in der Großstadt Lyon wagt – eine Verliererin auf der Suche nach sich selbst. „En avoir (ou pas)“ (Haben oder Nichthaben) – ein tiefschwarzer, schonungsloser Film. Nicht nur im ersten Teil der Trilogie „Arbeit, Geld, Liebe“ unter der Regie der anspruchsvollen Laetitia Masson hatte die junge Schauspielerin ausgiebigst Gelegenheit, ihr Spielpotential in allen Varianten auszuloten. Kiberlain überzeugt nicht weniger als eine Neurotikerin, die in einem turbulenten Roadmovie vor der Liebe davonläuft („A vendre“) oder als eine Fantasiefigur, die im bonbonfarbenen Outfit dem Sänger Johnny Halliday auf den Fersen ist („Love me“). Ein wahres Geschenk für eine Anfängerin, die erst achtzehn Jahre später, 2014, ihren César als Beste Hauptdarstellerin im Film „9 mois ferme“ entgegennehmen sollte – im komischen Fach. Die schrille Komödie über eine ehrgeizige und bislang untadelige Untersuchungsrichterin, die in einem schwachen, weil stark alkoholisierten Moment – die Folgen einer Sylvesterfeier – von einem Unbekannten geschwängert wird, kam nicht in die deutschen Kinos, zählt jedoch zu den großen Komödienerfolgen in Frankreich. Der Clou: daß als erstes ein angeblicher Serienmörder als Missetäter verdächtigt und gefaßt wird, aber das ist erst der Beginn einer nicht enden wollenden Serie von Verwicklungen.
Die damals fünfundvierzig Jahre alte Sandrine Kiberlain, die nicht immer eine glückliche Hand bei der Wahl ihrer Filme bewies, dafür aber in jeder Nebenrolle glänzte, hätte sich – wie in der Kritik von Le Monde lobend vermerkt war – in dieser Komödie nun endlich getraut, aus sich herauszugehen und ihr wahres Spielpotential zu offenbaren. Sandrine Kiberlain war in den neunziger Jahren mit der Welle einer neuen Schauspielergeneration ins Kino gekommen, die sich neue Wege außerhalb des etablierten Starsystems erschließen konnte. Kiberlain fiel von Anfang an durch ihre sehr unterschiedlichen Auftritte in kleinen Debütfilmen oder auch großen Produktionen auf, aber ihr fehlte offenbar der nötige Durchsetzungswille oder auch das nötige Selbstvertrauen zum ganz großen Durchbruch. Vielleicht spielte dabei auch ihre für den französischen Film ungewöhnliche Körpergröße eine Rolle.
Zu ihren schönsten Rollen zählt „Mademoiselle Chambon“ (2009) an der Seite von Vincent Lindon. Das heißt nicht, daß die Vertrautheit des längst geschiedenen Ehepaars Kiberlain/Lindon vonnöten gewesen sei, um in aller Stille eine solche Spannung zu erzeugen. Sie begegnen sich in der Schule, sie eine Aushilfslehrerin, die von Stelle zu Stelle durch die Republik geschickt wird, er ein Maurer, sesshaft solide, ein Familienvater, der in dieser zarten verträumten Frau, die ihn mit der Geige verzaubert, eine neue Welt entdeckt. Ein kleiner langsamer Film, beinahe ein Kammerstück, das sich ganz auf Kiberlains Blicke verlassen kann, in denen all die unerfüllten Wünsche und verpaßten Leidenschaften ihre Spuren hinterlassen haben. Über der Geschichte liegt die Melancholie einer Einsamen, die schon den Ausgang, den erneuten Verzicht, vorwegnimmt. Sandrine Kiberlain, die schon länger mit weißblond gefärbtem Engelshaar auftritt, das sie gern zu einem mütterlichen Knoten hochsteckt, ist aus dem französischen Kino nicht mehr wegzudenken. Wenn ihr auch das gewisse erotische Charisma der ganz großen Stars des französischen Kinos abgeht, hat sie zuletzt dort ihren Platz gefunden und wird mit Sicherheit auch noch öfter auf deutschen Leinwänden zu sehen sein.
Der Text ist unter dem Titel „Die patente Neurotikerin” in epd Film 3/2017 erschienen. Der darin zuerst erwähnte Film „Mit Siebzehn” hatte am 16.3.2017 Kinostart in Deutschland.
Letzte Änderung: 06.09.2023 | Erstellt am: 06.09.2023
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