Archaisch und modern
Sich die Geschichte von Tristan und Isolde als Neukomposition nach Wagners opus magnum vorzunehmen, darf wohl als riskantes Unternehmen eingestuft werden. Frank Martin wagte das Experiment, und 1942 kam „Le vin herbé“ in Zürich zur Uraufführung. Ganz bewusst konzipiert als Gegenentwurf zum berühmten Vorläufer: als Oratorium. Der Form nach ist es das auch. Inhaltlich jedoch eine Oper, in der der ganze Schmerz Martins über die fatalen Kriegsgeschehnisse, die Verlorenheit der Menschen und ihre Hoffnung auf friedliche Neubegegnung ausgedrückt wird. Ein berührender Solitär, den Andrea Richter bei der Premiere in der Frankfurter Oper für sich entdeckt hat.
Erzählt wird die Geschichte von Tristan und Isolde (Iseut) nach einer Roman-Vorlage von Joseph Bédier von 1900: Iseut, genannt die Blonde, soll gegen ihren Willen König Marc von Cornwall heiraten. Auf der Überfahrt von Irland wird ihr und Tristan versehentlich ein mit Zauberkräutern versetzter Wein gereicht, der sie in wechselseitige Liebe versetzt. Die Ehe mit König Marc wird zur Qual. Das Liebespaar flieht in den Wald von Morois und lebt dort. Bewegt von der Reinheit und Tiefe ihrer Liebe verzeiht Marc ihnen. Tristan und Iseut, von Schuldgefühlen geplagt, trennen sich. Tristan heiratet eine andere Iseut, genannt die Weißhändige. Als er im Kampf schwer verletzt darnieder liegt, verlangt er nach seiner großen Liebe, Iseut, die Blonde. Sie wird geholt, kommt jedoch aufgrund einer eifersuchtsbedingten Falschaussage der anderen Iseut zu spät, findet Tristan tot und stirbt selbst.
Der Unterschied, abgesehen von den zwei Isolden, zur von Wagner ebenfalls in drei Akten erzählten Handlung ist relativ gering, in der Form hingegen enorm, geradezu radikal. Frank Martin, schon von Kindesbeinen an durch die Kirchenmusik sozialisiert, kommt mit einem Instrumental-Oktett (sieben Streicher plus Klavier), acht solistischen Stimmen und einem ursprünglich zwölfstimmigen Chor, in Frankfurt wegen der Größe von Bühne und Zuschauerraum verdoppelt, und einer schlichten Erzählsprache aus. Diese quasi kammermusikalische Besetzung steht zunächst im vermeintlichen Widerspruch zur ungeheuren Dramatik des Geschehens – und doch auch nicht. Denn der Chor übernimmt ganz überwiegend mit archaisch klingendem und oft in unterschiedlichen Formationen auftretendem Unisono-Gesang das Referieren und Kommentieren der Handlung. Man könnte ihn in seiner Rolle mit dem monumentalen Orchester bei Wagner vergleichen. Die Solisten treten aus ihm hervor und in ihn zurück, jeweils begleitet von der kleinen Instrumentalgruppe.
Was bedeutet, dass ihr jeweiliger Einzelgesang große Individualität und Intimität erhält und ihr Alleinsein besonders herausstellt. Sie sind so allein, dass Martin selbst den Liebenden Tristan und Iseut ein großes Liebesduett versagt. Es gibt kein „O sink hernieder, Nacht der Liebe“ wie im 2. Akt bei Wagner. Präsentiert werden stattdessen zwei Soloarien von Tristan und Iseut, die über Liebe sprechen, aber eben nicht gemeinsam. Erschütternde Distanz und erschütternde Emotionen. Dabei schürt Martin immer wieder mit romantischen Geigen-, Bratschen oder Cellopassagen die Hoffnung auf nun endlich eintretende Nähe. Umso größer die Fallhöhe der Enttäuschung.
Die Klangsprache von Martins Meisterwerk ist eine sehr eigenständige und eigenwillige, sie ist eine Art singendes Erzählen irgendwo zwischen Carl Orffs Carmina burana und Claude Debussys Pelléas et Mélisande und entspricht damit der Lebensrealität des Schweizer Komponisten, der gleichermaßen mit der deutschen wie französischen Musikkultur vertraut war. 1938 erhielt der für seine Chorkompositionen bekannte Martin den Auftrag, ein halbstündiges Werk für zwölf Stimmen des Zürcher Madrigalchors zu schreiben. Da er schon länger mit dem Plan schwanger ging, Teile des insgesamt 19 Kapitel umfassenden Romans Bédiers zu vertonen, kam dieser Auftrag wie gerufen. Er wählte das vierte Kapitel aus. „Der Liebestrank“ entstand. Dabei mussten die Sänger des Chors auch die Solopartien übernehmen. Später entschloss sich Martin zwei weitere Kapitel „Der Wald von Morois“ und „Der Tod“ hinzuzufügen und das ganze Werk mit Prolog und Epilog zu versehen.
Martin hätte vermutlich die reduziert gehaltene und aufs Wesentliche konzentrierte Inszenierung Tilman Köhlers gut gefallen, die großartige Darbietung der Musiker, insbesondere die des Chors und des Tenors Rodrigo Porras Garulo als Tristan erst recht.
Letzte Änderung: 10.07.2023 | Erstellt am: 10.07.2023
Le vin herbé
Weltliches Oratorium
Musik und Text: Frank Martin 1890–1974
Uraufführung 1942 in der Tonhalle Zürich
Dirigent: Takeshi Moriuchi
Inszenierung: Tilmann Köhler
Mitwirkende:
Iseut, die Blonde: Juanita Lascarro
Iseut, die Weisshändige: Cecilia Hall
Tristan: Rodrigo Porras Garulo
Branghien: Clara Kim
König Marc: Kihwan Sim
Kaherdin: Theo Lebow
Die Mutter von Iseut der Blonden: Cláudia Ribas
Herzog Hoël: Jarrett Porter
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Vorstellungen: 10., 14. Und 16. Juli 2023. Bitte die unterschiedlichen Vorstellungsbeginne beachten.
Oper Frankfurt
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