»Ist Kultur nur noch Zugpferd?«

»Ist Kultur nur noch Zugpferd?«

Gespräch mit Jos Diegel
Jos Diegel | © Foto: Volker Muth

„Der Herbst des Untergrunds“ ist ein experimenteller Dokumentarfilm von Jos Diegel. Er basiert auf 16-mm-Filmaufnahmen einer inzwischen abgerissenen temporären Ausstellungshalle im Offenbacher Hafen. Eugen El hat mit Jos Diegel über die Entstehung des Films und die Rolle von Kunst und Kultur in der Stadtentwicklung gesprochen.

Eugen El: Im Jahr 2013 hast du die Arbeit des temporären Ausstellungsraums „Artspace Rhein-Main“ in der ehemaligen Ölhalle des Offenbacher Hafens mit einer analogen 16-mm-Kamera filmend begleitet. Wie kam es dazu?

Jos Diegel: Anja Czioska (Frankfurter Kulturschaffende, Kuratorin und Filmkünstlerin – Anm. d. Red.) hatte die Direktion der Ölhalle übernommen, nachdem die Hochschule für Gestaltung Offenbach sie nicht mehr nutzte. Anja wurde von der SOH Projektgesellschaft, die den Offenbacher Hafen bebaut, beauftragt, die Halle für ein Jahr, bevor sie abgerissen wurde, zu bespielen. Sie hat es „Artspace Rhein-Main“ genannt mit der Idee und Vision, dass es irgendwann einmal eine Kunsthalle in Offenbach geben solle. 2012 hatte Kurator Marcus Frings mit den wandernden Kunsthallen/„Neue Welten“ bereits eine wichtige Initiative in die Richtung Kunsthalle Offenbach begründet. Bei der ersten der Malerei gewidmeten Ausstellung im „Artspace Rhein Main“ war ich als Künstler dabei. Anja Czioska ist selbst Experimentalfilmerin, sie hat unter anderem bei Peter Kubelka an der Frankfurter Städelschule studiert und ist mit Jonas Mekas befreundet – ihn kann man in meinem Film singen hören. 2011 hat sie den Film „The Rise of the Underground“ gemacht. Er handelt von der Künstlerszene in Frankfurt. Anja filmte in Ausstellungen und Ateliers, oftmals auch im alten „Lola Montez“. Während der Ausstellungsvorbereitung kam die Idee, einen Film mit analogem Filmmaterial über den „Artspace“ zu drehen, weil auch ich Filmemacher bin und in die Ausstellung involviert war. Anja Czioska hatte zudem noch 16-mm-Filmrollen, die sie mir dafür anbot.

War es zuerst offen, was aus dem Filmmaterial wird?

Genau. Es war so gedacht, dass ich möglichst bei allen sechs Ausstellungen filme: „Painting of today!“ I und II, „Kunst & Club“, „Atelierhäuser Offenbach und Frankfurt“, „NEXTARTISTS“ sowie „Pophits & Alptraum“. Es war der Versuch festzuhalten, was dort passiert. Ich habe insgesamt fünf Filmrollen gedreht.

Warum hast du keine digitale Kamera verwendet, deren Material womöglich einfacher zu bearbeiten gewesen wäre?

Für mich war es ein Ansporn, mit den 16-mm-Filmrollen zu arbeiten. Ich habe zudem schon Erfahrung im Experimentalfilm. 2006/07 führte mich Gunter Deller, selbst Experimentalfilm-Koryphäe und Co-Leiter des Frankfurter Mal Seh’n-Kinos, zur analogen Filmarbeit. Ich hatte meine Bolex-Kamera eine Weile nicht benutzt und wollte sie gerne wieder einsetzen. Es ist eine klassische Experimentalfilmkamera, mit der u.a. auch Stan Brakhage, Maya Deren, Carolee Schneemann und Andy Warhol arbeiteten. Damit kann man 24 Bilder pro Sekunde drehen – oder auch 64, dann hat man eine Zeitlupe. Mit einer kleinen Kurbel kann man den Film auch zurückspulen, dadurch kann man Doppelbelichtungen erzeugen. Es ist wie Malerei live in der Kamera. Ich hatte den Film zwar danach digital bearbeitet. Für mich war es aber ein Anspruch, wieder auf einer sinnlicheren, haptischeren Ebene zu arbeiten als eine Digitalkamera es zulässt.

Filmstill „Der Herbst des Untergrunds“, im Bild: Anja Czioska

»Es gibt eine Öffnung ins Experimentelle«

Aus dem 2013 aufgenommenen Filmmaterial entstand kürzlich dein neuer Experimentalfilm „Der Herbst des Untergrunds“. Zu Beginn sieht man Szenen einer Ausstellungseröffnung im „Artspace“ und hört eine Rede des Kunstkritikers Christoph Schütte. Bild und Ton sind allerdings teils verfremdet. Warum hast du dich gegen eine strikt dokumentarische Form entschieden?

Einmal, weil ich für mich selber nicht den Anspruch habe, dokumentarisch zu arbeiten. Ich überlasse das gerne Leuten, die viel diffiziler an der Realität arbeiten. In meinen Arbeiten lasse ich mir gerne eine Offenheit für das Schwingen zwischen Realität und Fiktion. Ich dokumentiere zwar etwas, halte etwas fest, gleichzeitig gibt es eine künstlerische Öffnung ins Experimentelle, um noch einmal ganz anders mit den Dingen, die dort passieren und den Bildern umzugehen. Das 16-mm-Filmmaterial hat ja keine Tonspur. Es nimmt nur Bildmaterial auf. Christoph Schüttes Rede habe ich nebenher mit meiner Digitalkamera mitgefilmt. Man sollte die Rede später nachvollziehen können. Das ist mir bei der Nachbearbeitung aufgefallen. Ich fragte mich dann, wie gehe ich damit um – mit den stummen analogen Bildern und den vertonten digitalen Bildern, die ich nicht verwenden möchte.
Auch gibt es einen Bezug zu Künstlern, die mich filmisch geprägt haben – es sind die Situationisten und die Lettristen. Die lettristische Bewegung wurde von Isidor Isou gegründet. Er hat eine ganz eigene Art des Filmschaffens entwickelt. Er hat gesagt, man müsse alle Filme übermalen, bekratzen, auch die Tonebene asynchron gestalten. Isou nennt das einen „diskrepanten Film“, der niemals gleichförmig miteinander funktioniert. Man hört und sieht nie das Gleiche. Da fängt für mich eine reflexive Ebene an. Die Situationistische Bewegung um Guy Debord stellt eine direkte Verbindung her zwischen dem Persönlichen, dem Privaten und dem Gesellschaftlichen, dem Politischen.

Filmstill „Der Herbst des Untergrunds“
Hast du das entstandene Filmmaterial analog bearbeitet – also zum Beispiel übermalt?

Es sind auch Dinge dazugekommen zu den Effekten, die direkt in der Kamera entstanden sind. Durch diese analoge Arbeit habe ich auch angefangen, mit 35-mm-Filmmaterial zu arbeiten. Das war die längste Zeit das klassische Kinoformat. Damit mache ich seit einigen Jahren Workshops, bei denen man die Filmrollen analog bekratzen oder bemalen kann. Auf weißem Film kann man richtig malen, und es entstehen die spannendsten Farben, die dann vorbeiflackern. Um das Filmprojekt zu finanzieren, habe ich ein Crowdfunding gemacht. Eines der Dankeschöns für Förderer war z.B. die Teilnahme an einem Workshop. Während der Vorbereitung dieses Films haben 2017 mehrere Workshops stattgefunden. Da sind ganz viele 35-mm-Filme, auch von mir, bekratzt und bemalt geworden. Dieses Material habe ich mit dem 16-mm-Filmmaterial vermischt. Durch die gemeinsame Arbeit und Beteiligung der Workshopteilnehmer und -teilnehmerinnen entsteht eine kollektive Filmebene.
»Crowdfunding für Filmprojekte ist schwierig«

Die Produktion des Films hast du, wie schon erwähnt, mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne finanziert. Gewährt diese Art der Filmförderung mehr Freiräume als die institutionelle Förderung, hat sie dir andere Möglichkeiten eröffnet?

Es war ja nicht klar, was aus diesen Bildern wird. Bei der Frankfurter Filmförderung muss man es klar definieren, und dafür war es zu experimentell, zu undurchsichtig. Auch beim Crowdfunding war das Ergebnis nicht leicht zu kommunizieren. Es war im ersten Moment ein lokales Kunst- und Kulturprojekt. Wir haben es in verschiedenen Formen in Offenbach probiert, die Fertigstellung des Films zu finanzieren, und es hat alles nicht geklappt. Dann war das Crowdfunding eine Idee – die von der „kulturMut“-Inititiave der Aventis Foundation und des Kulturfonds Frankfurt RheinMain finanziell unterstützt wird, wenn man ein bestimmtes Ranking erreicht. Die Kampagne verlief erfolgreich und der Film wurde ausgezeichnet durch „kulturMut“. Der Betrag, den ich für dieses Filmprojekt eingereicht habe, lag bei 4.850 Euro – für Postproduktion, unter anderem für Filmentwicklung, Digitalisierung, Montage, Bildbearbeitung, Tonmischung und Honorare.
Grundsätzlich ist Crowdfunding für Filmprojekte eine schwierige Sache. Wenn du einen größeren Film machen willst, dann fängt es bei vielleicht 20.000 Euro an und hört mitunter bei mehreren Millionen auf. Bei größeren Beträgen wird es schwierig mit Crowdfunding. Es hat außerdem mit Fangemeinde und Vernetzung zu tun. Der Kunstverein Familie Montez gehört zu den Unterstützern, Offenbacher Bier sowie ein Gros an Einzelpersonen, denen ich sehr dankbar bin. Größere Spender und Co-Produzenten waren die SOH Projektgesellschaft Offenbach und Kunst Raum Mato e.V.

Filmstill „Der Herbst des Untergrunds“, links im Bild: Der 2018 verstorbene Künstler Max Weinberg
Der Film handelt zwangsläufig auch vom städtebaulichen Wandel Offenbachs. Anstelle der mittlerweile abgerissenen Ölhalle wurden Wohnungen für Besserverdienende gebaut. War die Kunsthalle als Zwischennutzung in diesem Fall ein Aufwertungsinstrument?

Manchmal werden Dinge temporär so lange genutzt, bis Aufmerksamkeit entsteht für bestimmte Räume, wo zunächst vielleicht noch gar nichts geplant ist. Und dann kommen Immobilienfirmen, und es entwickelt sich ein Stadtviertel und wird aufgekauft. Beim Offenbacher Hafen war von vornherein geplant, dass dort etwas anderes passieren soll. Unter anderem soll dort der Neubau der Hochschule für Gestaltung entstehen. Natürlich sollte die Kunsthalle diese Hafengegend auch interessant machen. Wo fängt aber die Aufwertung an?
Solche Phänomene finden wir in Berlin und Frankfurt, Leipzig und Stuttgart, in Europa und überall in der Welt. Das war auch der Grund für mich, dass der Film englische Texte und Untertitel hat. Ich habe bewusst einen englischen Titel dem deutschen Titel angefügt. Es ist der Versuch, aus einer regionalen Situation heraus das große Fass aufzumachen.
Eine Frage, die mich bewegt, ist: Was sind die Künstler für eine Avantgarde in dieser Situation? Auch im negativen Sinn, weil man Teil dieser Aufwertungsprozesse ist. Gleichzeitig möchte man auch ausstellen. Man hat die Chance, sich in den oft großen, brachliegenden Räumen künstlerisch auszuleben. Wann ist Kultur also nur noch Zugpferd für etwas anderes?
Wenn man als Künstler und Künstlerin oder Kulturschaffende einen Raum für eine gewisse Zeit nutzt, ist es erst einmal keine falsche oder schlechte Idee. Wird es bewusst oder nicht bewusst zur Aufwertung genutzt? Das ist immer wieder eine schwere Frage. Ich konnte sie für mich selbst in dem Film auch nicht klar beantworten.
»Stadtviertel sollen schick und schön sein«

Stellenweise wirkt der Film auf mich wie ein Abgesang auf die Kunstszene und deren Hybris und Eitelkeit. Ist der Titel „Der Herbst des Untergrunds“ in diesem Sinne zu verstehen?

Der Titel hat mit der Behauptung eines Abgesangs zu tun. Auch als Provokation: Inwieweit lassen wir Künstler es zu, dass wir Teil von solchen Prozessen sind? Inwieweit beschönigen wir solche Prozesse oder feiern sie? Inwieweit ist die gesamte Kultur und Kunst zum Repräsentationsmechanismus geworden, u.a. auch der Stadtentwicklung? Da geht es um die „Kreativgesellschaft“. Stadtviertel sollen schick und schön sein und am besten Kreativität mit einbehalten. Früher besetzte man Häuser und machte dort Ausstellungen oder man erweckte Brachlandschaften in Berlin zum Leben. Heute geht man mit dem Gefühl heran, das Gleiche zu machen. Es ist aber etwas anderes. Es braucht heute andere Mechanismen und kritische Formen in der Kunst, andere Auseinandersetzungen in der Kultur.

Welches Programm erwartet die Besucher der Frankfurter Filmpremiere am 25. Mai 2018? Warum zeigst du den Film im Gallus Zentrum für internationale Solidarität?

Jannis Plastargias macht dort verschiedene Kunst- und Kulturprojekte. Er ist in den Film involviert gewesen – zum einen als Sprecher und mit Malte Füllgrabe (Füllgrabe Filmproduktion) als einer von zwei Unterstützern als dramaturgischer Berater für den Film im Rahmen des Crowdfundings. Jannis hat mich also eingeladen. Das Frankfurter Gallusviertel finde ich auch interessant. Dort hat durch das angrenzende Europaviertel eine extreme Entwicklung stattgefunden, die z.B. die Stadtteilinitiative Koblenzer Str. („Siks“) betreffen. Es wird bei der Filmpremiere ein Gespräch darüber geben, wie wir den Film im Gallus verorten können.

Arbeitest du schon an einem neuen Filmprojekt?

Einmal das Projekt, das ich vor einigen Jahren in San Francisco gemacht habe, eine Beziehungsperformance. Dort habe ich mich mit Genderthemen und Rollenmechanismen von Mann und Frau und Sexualität auseinandergesetzt. Das Projekt basierte ursprünglich auf der Aussage von Jacques Lacan, es gebe keinen Geschlechtsverkehr. Der Philosoph Jean-Luc Nancy nimmt die Aussage auf und sagt wiederum: „Es gibt Geschlechtsverkehr!“ Es ist dazu ein längerer Essay- und Dokumentarfilm „L’ ‘il y a’ du rapport sexuel – There is a sexual rapport“ geplant – mit der Beteiligung von Nancy. Lisa Schröter und ich haben ihn Anfang des Jahres in Straßburg getroffen und wir haben mit ihm über das Projekt gesprochen.
Überdies habe ich ein Langfilmdrehbuch fertiggestellt, das von der Hessischen Filmförderung gefördert wurde. „Call your Darlings“ wird eine absurde Komödie, ein Spielfilm. Ich werde auch Regie führen. Sechs Schauspieler kommen an ein Haus, sollen einen Film drehen und stellen fest, dass der Film schon abgedreht ist …

Letzte Änderung: 14.08.2021

Jos Diegel

1982 geboren, Studium an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, lebt und arbeitet in Leipzig und Offenbach.

josdiegel.de

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