Ein Kamel und die Neugier

Ein Kamel und die Neugier

Marion Victors Wege zu den Beckmann-Schülern
Marion Victor | © Ursula Ruppel

Dass Gewächse im Schatten eines großen Baumes nicht gedeihen können, hat man gerne auf das Verhältnis der Meister zu seinen Schülern bezogen, inbesondere auf die Meister der Künste und ihre aufstrebende Gesellenschaft. Marion Victor ist den Schicksalen der Malerinnen und Malern nachgegangen, die beim Meister Max Beckmann gelernt haben. Und Doris Stickler erfährt von der Autorin, wie ihr biographischer Weg dorthin verlief.

Brauchte es Mut, um kurz nach dem Renteneintritt ein reguläres Studium zu beginnen? Bei der Frage zuckt Marion Victor mit den Schultern. Darüber habe sie nie nachgedacht. „Ich war schon immer ein wissbegieriger Mensch und vom Drang geleitet, etwas Neues zu erkunden. Die Welt hat ja viel zu bieten.“

Die ehemalige Lektorin des Verlags der Autoren schmiedete denn auch frühzeitig Pläne für die Zeit ihres sogenannten Ruhestands. Orientalistik zu studieren lag für sie nahe. Im zurückliegenden Jahrzehnt hatte Marion Victor jeden Urlaub bei Beduinen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel verbracht. Fasziniert von deren Naturverbundenheit, dem harten Daseinskampf und der Gastfreundschaft, zog sie mit den Nomaden durch die Wüste. „Ich hatte sogar ein eigenes Kamel und habe bei einer Familie im Dorf gewohnt.“

Parallel lernte sie Arabisch, das ihr die Tür zu einer reichen oralen Tradition geöffnet hat. Bei Streifzügen oder bei Zusammenkünften erzählen sich Beduinen stets „Märchen und Geschichten, mit denen sie die Regeln des Zusammenlebens und Überlebens weitergeben“, stellte Marion Victor fest. Zum Teil habe sie „verblüffende Ähnlichkeiten mit den Märchen der Brüder Grimm“ entdeckt. Um Einblick in diese hierzulande unbekannte Kultur zu geben, verfasste sie 2013 das Buch „Märchen und Geschichten der Beduinen im Sinai“. Die Auswahl von Überlieferungen hat sie mit eigenen Zeichnungen illustriert.

Als sie im Jahr darauf ihren 65. Geburtstag feierte und das Orientalistik-Studium aufnehmen wollte, stieß sie auf eine unerwartete Hürde. „Das Fach wird in Frankfurt nicht gelehrt, und nach Marburg zu pendeln, hatte ich keine Lust.“ Marion Victor schwenkte deshalb auf Archäologie und Kulturgeschichte des Vorderen Orients um. Als sie die für den Bachelor notwendigen Akkadisch-Seminare belegte, wurde ihr schnell klar: „Diese Herausforderung ist ein Zacken zu viel. Ich wäre 80 geworden, bis ich die Keilschrift wirklich hätte entziffern können“. Sie machte das Nebenfach Kunstgeschichte zum Hauptfach, das sie nach dem Bachelor mit dem Master beendete.

Die Affinität zu dieser geisteswissenschaftlichen Disziplin begleitet sie gewissermaßen durchs Leben. Das erste Studium Kunsterziehung mit den Nebenfächern Kunstgeschichte und Romanistik hatte sie an der Kunstakademie und der Universität in Stuttgart absolviert. Anstelle des Referendariats zog es sie an die Theater in Ulm, Freiburg und Zürich, die in den 1970er Jahren innovative Wege beschritten. Die dort gesammelten Erfahrungen flossen schließlich in eine Dissertation über den französischen Autor und Dramatiker Jean Genet. Durch die Theaterarbeit entstand ein Kontakt zu Karlheinz Braun, dem Mitbegründer des auf Theater, Film und Hörspiel ausgerichteten Verlags der Autoren. Er holte sie 1985 dann nach Frankfurt, das ihr zur Heimat werden sollte. 29 Jahre war Marion Victor Lektorin im Verlag, 21 Jahre lang hatte sie auch die Geschäftsführung inne.

Dass sie die Masterarbeit beim jüngsten Studium wieder zur Kunstgeschichte führte, erwies sich als Wasser auf die Mühlen ihrer „Entdeckerfreude“. „Es ist ein Forschungsfach, man stolpert geradezu über Themen, die noch niemand bearbeitet hat.“ Dazu zählten etwa die Wege von Max Beckmann-Schüler:innen, die wie ihr berühmter Lehrer vom NS-Regime als „entartet“ verfemt und entrechtet wurden und in Vergessenheit geraten sind. So ergründete Marion Victor die Schicksale von Inge Dinand, Karl Tratt, Friedrich Wilhelm Meyer und Leopold Mayer, der sich nach der Flucht in die Schweiz in Léo Maillet umbenannte. „Total gepackt“ von deren Biografien, förderte sie einiges über die vier Frankfurter Künstler:innen zutage. Mit dem Sohn und dem Enkel der im Mai dieses Jahres verstorbenen Inge Dinand sowie mit den Sohn von Léo Maillet konnte sie persönlich sprechen.

Nachdem ihr Professor Hans Aurenhammer die Masterarbeit mit „Sehr gut“ bewertete und ihr vorschlug, über das Thema zu promovieren, musste Marion Victor nicht lange überlegen. Als sie die Dissertation in Angriff nahm, funkte jedoch die Frankfurter Universitätsordnung dazwischen. Wer bereits einen Dr. phil. in der Tasche hat, dem ist ein weiterer Doktortitel in dem Bereich verwehrt. Gemäß des Goethe zugeschriebenen Zitats „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen“ verarbeitete sie ihre Nachforschungen dann in einem Buch. Neben den genannten Personen zeichnet sie darin die Lebensgeschichten von vier weiteren Beckmann-Schüler:innen nach.

Wenn die inzwischen 74-Jährige auf die Vorlesungen- und Seminarbesuche blickt, kann sie nur sagen: „Ich habe mich immer voll akzeptiert gefühlt.“ Wie sie einräumt, wurde allerdings „über andere Studierende in ihrem Alter bisweilen gelästert“. Ihre durchweg positiven Erfahrungen dürften nicht allein Marion Victors fachlicher Kompetenz, sondern auch einem sie prägenden Wesenszug geschuldet sein. „Neugierde im wortwörtlichen Sinn ist zeitlebens meine Triebfeder gewesen. Im Studium habe ich alle Exkursionen mitgemacht und mit den anderen Studierenden im Sechsbettzimmer übernachtet.“ Argwöhnische Bemerkungen seien ihr eher im persönlichen Umfeld zu Ohren gekommen. Dass sie im Rentenalter noch mal ein reguläres Studium beginnt, habe bei einigen Unverständnis ausgelöst.

Sie selbst fand es „wahnsinnig spannend und bereichernd“ – auch wenn sie „immer wieder mal Ängste wie ‚Bekomme ich das hin?’ oder ‚Lachen mich die Jüngeren aus?’“ befallen haben. Beides ist nicht eingetroffen, und im Oktober wird ihr Buch erscheinen. Nach den arbeitsintensiven Jahren eine ruhigere Kugel zu schieben, käme ihr freilich nicht in den Sinn. Marion Victor denkt längst darüber nach, was sie als nächstes in Angriff nehmen wird. An Ideen mangele es ihr nicht, Genaueres möchte sie aber noch nicht verraten.

Letzte Änderung: 08.10.2023  |  Erstellt am: 08.10.2023

Der gesprengte Kreis | © Ursula Ruppel

Marion Victor Der gesprengte Kreis

Max Beckmann-Schüler und Schülerinnen zwischen Realismus und Abstraktion
204 S., geb.
68 s/w Abb., 84 farb. Abb.
ISBN: 978-3-7520-0756-5
Reichert Verlag, Wiesbaden 2023

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