Frankfurt. Bilder einer Stadt
Das Buch ist das Bildgedächtnis der Stadt Frankfurt, das Barbara Klemm gestaltet hat. Sie, die Künstlerin des richtigen Zeitpunkts, war 35 Jahre lang Redaktionsfotografin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Leserinnen und Leser dieser Zeitung, die das Besondere ihrer Arbeiten schätzten, machten sich gegenseitig darauf aufmerksam. Das ganze Panorama der Stadt, vom armen Schlucker bis zur Prominenz, findet sich in diesem Bilderbuch, das Martin Lüdke begeistert betrachtet hat.
Als Barbara Klemm vor 64 Jahren nach Frankfurt kam, war sie noch nicht einmal wahlberechtigt (damals galt 21). Aber: fertige Fotografin. Ihre Lehre hatte die Tochter der Bildhauerin Antonia und des Malers Fritz Klemm, der Professor an der Karlsruher Akademie war, abgeschlossen. Ihren ‚Blick’, den hatte sie damals schon mitgebracht. Sie begann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu arbeiten. Von 1970 bis 2005 dann als Redaktionsfotografin. Legendär sind ihre Bilder geworden für die damalige Wochenendbeilage, Tiefdruck wohlgemerkt, „Bilder und Zeiten“. Es gab damals, sagt sie im Gespräch mit Jan Gerchow, dem Direktor des Historischen Museums in Frankfurt, das derzeit ihre Bilder zeigt, fünf fotografierende Frauen, darunter Digne Meller Marcovicz und Abisag Tüllmann.
Barbara Klemm ist geblieben. Und ihre Bilder sind es auch. Von jetzt an bis zum 1. April 2024 werden diese Frankfurter Bilder im Historischen Museum gezeigt.
Das Porträt einer Stadt und ihrer Menschen, oder genauer noch: durch ihre Menschen. Obdachlose und protestierende Studenten, Metallarbeiter in der Mittagspause und Putzfrauen bei der Arbeit. Selbst in dem Abschnitt „Parks und Landschaften“ sind mehr Menschen als Bäume zu sehen, Angler an der Nidda, eine strickende Frau in der Taunusanlage oder die Mordkommission neben einer Leiche im Stadtwald, ein Grillfest in Oberrad. Am „Rebstockpark“ sieht man die Besucher des Kirchentags 1976, ein durchaus deprimierender Eindruck: im Vordergrund ein schlafender älterer Herr, der sich seine dunkle Anzugsjacke (aus feinerem Zwirn) über den Kopf gezogen hat, liegt vor einer übergewichtigen älteren Dame mit Hut, deren Hinterteil deutlich über den kleinen Camping-Hocker quillt. An diesem Foto lässt sich bereits ablesen, was die gegenwärtigen Untersuchungen zur Kirchen-Bindung der Deutschen ergeben haben: ein trauriger Rest alter Leute, die noch ihrem Glauben treu geblieben sind. Die Fotos von Barbara Klemm tendieren überhaupt zur Kultur- und mehr noch zur Sozialgeschichte unserer Gesellschaft. In diesen Bildern manifestiert sich eine Entwicklung. Die vier Frauen („Auf der Körnerwiese, 1972), drei davon mit einem Stock unterwegs, zwei haben ihre prall gefüllten Handtaschen auf dem Schoß, eine trägt sogar noch ihre, mittlerweile wohl ‚ausgestorbene’ Kittelschürze, während die vierte, eben angekommen, uns noch den Rücken zukehrt, um ihre Utensilien auf dem letzten Platz auf der Parkbank noch zu ordnen, bevor sie sich schließlich auch hinsetzen kann. Das Bild ist zum Dokument eines sozialen Umbruchs geworden. Solche Frauen können sich heute Wohnungen in dieser Gegend nicht mehr leisten. Wer noch lebt, der wohnt nicht mehr dort. Wer dort wohnt, der sieht anders aus. Die Kleidung der alten Frauen, von Damen kann man hier nicht sprechen, zeigt ihren sozialen Status. Es sind Menschen, denen man ansieht, dass sie, solange sie es konnten, gearbeitet haben, und die jetzt, sichtbar abgearbeitet, stramme Beine, derbe Schuhe, Blockabsätze, und zudem die erwähnten Stöcke, die jetzt den Rest ihres Lebens in der Form genießen, dass sie – nichts machen, sich auf der Parkbank an der Frankfurter Körnerwiese treffen, vermutlich von ihrer Familie, aber vor allem von den Beschwerden erzählen, die sie im Alter jetzt plagen.
In den Bildern von Barbara Klemm, Momentaufnahmen, ist Geschichte kondensiert. Sie zeigen, gerade an dem Bild der Frauen wird das deutlich, das, was war und, zugleich, das was kommen wird. In diesem Fall: nichts.
Ein paar Seiten weiter, Uni-Campus, auf dem Gelände der alten IG-Farben-Gebäude, große Rasenfläche, vom Bäumen umgrenzt. Im Vordergrund eine Glashaube über einem alten Schreibtisch mit der berühmten Wagenfeld-Lampe, einigen losen Blättern, samt dem davorstehendem Stuhl des Frankfurter Soziologen und Philosophen Theodor W. Adorno.
Doch selbst hier, nur wenige Meter von dieser Installation entfernt, zwei Bänke an einem großen Holztisch, sechs, sieben Personen, vermutlich Studenten, teils mit Kopftuch, sitzen. Daraus lässt sich schließen: Barbara Klemm, nicht weit weg von Adorno, ist (immer) an sozialen Zusammenhängen interessiert, was sich wiederum gleich auf den nächsten Seiten überdeutlich zu erkennen gibt. Kaiserstraße 1994. Das Jubiläum eines Juwelier- und Uhrengeschäfts, großflächig plakatiert. Davor ein vollgepackter Gepäckwagen, mit dem Hausrat von zwei alten Männern, die daneben, wetterfest gekleidet, auf dem Boden hocken und einer Zukunft entgegensehen, die sich von dieser Momentaufnahme, ihrer Gegenwart, kaum unterscheiden wird. Stillgestelltes Leben, das gleich auf dem nächsten Foto die Fotografin, also Kollegin Abisag Tüllmann zeigt, die im Rothschildpark einen, wie man da sagt, ‚obdachlosen Penner’ mitsamt großem Hund und ebenfalls seinen gesamten Besitztümern fotografiert, die neben ihm auf der Parkbank Platz gefunden haben. Ein schlafender Mann in der U-Bahn-Station Willy-Brandt-Platz, der zu Füßen eines großen Fotos von Tischbeins berühmten Goethe-Bild aus dem Städel seine Ruhe sucht.
„Kaufhaus auf der Zeil, 1971“ ist der Titel eines Fotos, das offenbar kurz nach Öffnung des Geschäfts zum Start des, an der Kleidung der Kunden ablesbar, Winterschluss-Verkaufes, aufgenommen worden war: die damals sogenannten Schnäppchen-Jäger sind hier mit ganzem Einsatz zu Gange. Wie gesagt: eine Sozialgeschichte wird hier sichtbar gemacht.
Aber auch, an vielen Fotos zu erkennen, eine Kulturgeschichte unserer Republik: Bichsel, Böll und Max Frisch auf der Frankfurter Buchmesse lehnen bedächtig, die Arme aufgestützt, vor seltsamen großen dunklen Kugeln hinter ihnen, wie alte Bauersfrauen auf ihrem Fensterbrett, und schauen sehr andächtig auf ein, ihnen offenbar völlig rätselhaftes Geschehen. Während, nur zwei Seiten weiter, Klaus Reichert und Walter Boehlich ebenso amüsiert wie aufmerksam den Erzählungen einer jungen, durchaus ansehnlichen Frau lauschen. Jedes dieser Bilder erzählt eine Geschichte, während Alfred Hitchcock, im Frankfurter Hauptbahnhof, 1972, seinen Regiestuhl auf ein seltsames Podest platziert, mit einer dicken brennenden Zigarre in der Hand, vor großem, neugierig drängendem Publikum, selbst eine Geschichte erzählt. Auch die Porträts von Fassbinder, Ingeborg Bachmann, Eva Demski und Christa Wolf erzählen ihre Geschichte. Die Bilder sprechen, im Fall von Silvia Bovenschen erzählen sie uns (fast) einen ganzen Roman, oder, im Fall von Robert Gernhardt, lassen sie uns immerhin an ein Gedicht denken.
Man kann, ja man sollte diesen Prachtband von Barbara Klemm „Frankfurt. Bilder“ lesen. Seite für Seite. Und man wird viel erfahren über eine Stadt, ihre Vergangenheit und, ich denke sogar auch, ihre Zukunft. Die Chronistin Barbara Klemm lebt seit weit mehr als einem halben Jahrhundert hier. Sie sieht, was war. Sie sieht, was ist. Und sogar, was kommen wird (und damit meine ich keineswegs nur den starken Mann, der sich als „Saalschutz der NPD vor dem Cantate-Saal“ präsentiert.).
Barbara Klemm, bekannt dafür, dass sie ihre Kamera nur mit einem Lederband befestigt, griffbereit über der Schulter trägt, war immer nah dran an den Bewegungen und deren Protagonisten, die (nicht nur) Frankfurt zu dem gemacht haben, was es heute ist. Marcuse und Mitscherlich, Max Horkheimer und Joschka Fischer, Adorno und von Friedeburg sind in Aktion zu sehen. Keine Porträts vor sterilem Hintergrund, sondern Akteure im gesellschaftlichen Zusammenhang. Bilder vom (damals sogenannten) Häuserkampf im Frankfurter Westend, vom Widerstand gegen den Paragraphen 218, gegen die Startbahn West.
Barbara Klemms „Frankfurt. Bilder“ erzählt die Geschichte einer Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine berührende, eine spannende, eine faszinierende Geschichte, die man mit Freude, aber auch mit Wehmut ‚sehen’ kann. Wer sich in Frankfurt zu Hause fühlt, sollte auch Barbara Klemms „Frankfurt. Bilder“ zu Hause haben.
Siehe auch:
https://faustkultur.de/kunst-portraets-projekte/die-teilnehmende-beobachterin/
Letzte Änderung: 17.11.2023 | Erstellt am: 17.11.2023
Barbara Klemm Frankfurt Bilder
Schriften des Historischen Museums Frankfurt
herausgegeben von Jan Gerchow
264 S., geb.
ISBN-13: 9783969992708
Steidl Verlag, Göttingen 2023
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