Ekstatische Visionen

Ekstatische Visionen

Thomas Draschans Filme
21h | © Thomas Draschan

Thomas Draschans Bilderwelt ist ein urzeitliches Gemisch, aus dem Atome, Zellen und Körper in beständiger Entwicklung hervorgehen. Als unermüdlicher Forscher wählt Draschan akribisch Cluster von Bildern, Filmstücken und Einzelbildern aus und seziert sorgfältig das visuelle Archiv einer chaotischen, zum Schauspiel verkommenen und verschaufensterten Welt.

Mit Verschaufensterung meinen wir hier jenen entwürdigenden Prozess, durch den heutzutage alles – von den Gefühlen bis zur Sexualität, vom Körper bis zum Sport, von den Medien bis zum Arbeitsplatz, von der Freizeit bis zu den großstädtischen Räumen und sogar die Kulthandlungen im Zusammenhang mit dem Tod – in ein voyeuristisches Phänomen verwandelt wird, das in einem Schaufenster vorgeführt werden soll und bei dem das Schaufenster selbst zu einem Instrument der Verführung wird. Gegen diesen für moderne Konsumgesellschaften typischen Trend, gegen diese abgelenkte, aber morbide Betrachtungsweise, gegen diesen viralen Apparat kann der Künstler Antikörper erzeugen. Indem er die grundlegenden Aspekte des Lebens (Erotik, Fortpflanzung, Geburt, der Mensch und seine kulturellen und existentiellen Grundlagen) mit chirurgischer Präzision dokumentiert, wird Draschans Werk gerade in dem Paradoxon, das es erzeugt, außerordentlich: Als Spiegel der Gesellschaft lässt es in einer neuen existenziellen Dimension die Überfrachtung der Bilder wieder aufleben, deren Opfer die Gesellschaft selbst ist.

Moschee | © Foto: Thomas Draschan Collage

Struktur der Zusammensetzung

Thomas Draschan | © Foto: Aleksandra Kwasnik

Thomas Draschans Filme leben ihr Leben dank einer Montage, die Frames (die Einzelbilder des Filmstreifens) wie Zellen manipuliert. Er schafft ein Werk, dessen Struktur nach den Gesetzen der Zusammensetzung im Eisensteinschen Sinne geformt ist: Alles ist im Menschen – alles ist für den Menschen. Eisenstein definiert die Montage als Nervenzentrum und stellt fest, dass „zwischen dem Kunstwerk und den organischen Phänomenen eine strukturelle Homologie in dem Sinne besteht, dass beide einem vermeintlich universellen Prinzip der Bewegung der Materie entsprechen: der Evolution „in Sprüngen“, dem Übergang von der Quantität zur Qualität“.1 Das Werk ist also eine organische Konstruktion, und die Assemblage ein wesentliches Verfahren zur Konfiguration von Formen-Bildern, die Eisenstein als „Imagination“ definiert.2 Die Redaktion ist Instrument für qualitative Veränderungen (von der Quantität zur Qualität): von der Zerlegung der einzelnen Teile bis zur Schaffung eines organischen Ganzen. Draschan greift wie ein Chemiker in die Filmmaterie ein. Als solcher arbeitet er sie qualitativ heraus und transformiert sie, wobei er den kreativen Prozess sichtbar werden lässt, um einen neuen wandelbaren Organismus herzustellen. Er schafft ex novo etwas Imaginäres, das in der Lage ist, einen semantischen Kurzschluss mit der Vorstellung, die durch den Verschaufensterungsprozess erzeugt wird, hervorzurufen.

Draschan und die amerikanische Avantgarde

Draschan studierte bei den amerikanischen Avantgarde-Künstlern Ken Jacobs und Robert Breer. Das Studium bei Peter Kubelka lieferte ihm die Grundlagen, Filmsequenzen wie Vokabeln zu sammeln, zu katalogisieren und in visuell stimmige Kombinationen mit überraschenden Ergebnissen zusammenzustellen. Eine Überfrachtung durch visuelle Erinnerungen, mit denen der Künstler extreme, ekstatische Erlebnisse und neue Ausdrucksformeln synthetisiert. Von seiner Arbeit mit Filmmaterial, den er als „sinnliche, sexy Materie“ empfindet, wechselte Draschan zu Video und entdeckte die Vorteile eines vergänglicheren, aber kostengünstigeren Mediums, das bei der Arbeit physisch nicht berührt wird. Der Künstler erforscht auch hier die spezifischen Möglichkeiten des Mediums. „Video besteht aus komprimierten Bildern, in Bewegung versetzt durch Algorithmen. Der Computer erzeugt, einmal aus dem Tritt gebracht, eigenständig Formen“, sagt Draschan.3 Wenn Video oder ein Medium seine Fehler zeigt, offenbart es seine Natur, konfiguriert sein Potential zur Zerstörung des Bildes.

In seiner Arbeit vom Film zum Video und schließlich zur Collage als Medium zu wechseln, verläuft genau umgekehrt im Vergleich zur klassischen europäischen Filmavantgarde der 20er und 30er Jahre, bei der die Künstler von der bildenden Kunst zum Kino wechselten. Es ist, als hätte Draschan erst die Grenzen des Kinos ausgelotet, sie überwunden und sich ganz natürlich einem anderen Medium zugewandt, das ihm ebenso sympathisch und vertraut ist, da es ebenfalls auf dem Prozess des Auswählens, Zerlegens und Zusammenfügens beruht. Das Imaginäre, das in seinen Collagen gestaltet wird, erzeugt ein Universum, das nicht weniger filmisch ist als seine filmischen Arbeiten.

Metropolen des Leichtsinns

Um auf den Filmmacher Draschan zurückzukommen: Die sehr expressive Technik, die den größten Teil seiner Produktion ausmacht, ist sicherlich Found Footage, gefundenes Material. Metropolen des Leichtsinns (16 mm, 2000) ist ein solcher Found-Footage-Film. Metropolen ist nach dem Prinzip der Dekonstruktion konstruiert und durch die Kombination ähnlicher Bewegungsmuster, ebenso wie durch Kombinationen von Analogien wie Inhalt, Farbe oder Handlungen, durchorganisiert. Die Poetik des Fragments und die Wiederholung von Bildern, die dem Fernsehen und dem Kino entlehnt sind, demontieren die durch die Massenproduktion geschaffenen Mythen und legen Entfremdung des von der Industrie manipulierten Bildes offen. Bewegen wir uns in der von Guy Debord in Bezug auf Film und Schnitt formulierten Begriffswelt, verbirgt sich hinter der Show ein reales Leben, das über die Leinwand hinaus verschoben wurde: Die Enteigner sind deshalb selbst enteignet worden.4 Die Wiederverwendung bereits vorhandener künstlerischer Elemente in einer neuen Einheit bestimmt den Bedeutungsverlust jedes autonomen Elements, das „gestohlen“ wurde, und artikuliert gleichzeitig einen anderen Zusammenhang, der jedem Element eine neue Bedeutung verleiht. Draschan entwickelt so eine radikal kritische Strategie gegen die Stereotypen der Massenkommunikation, in der die Wiederholung der Geste – die durch das Flimmern und das Bombardement auf der Netzhaut in der Wahrnehmung aggressiver gemacht wird – zu einer Simulation eines transversalen, kollektiven Rituals wird, dessen ursprüngliche Natur und Zweck wir nur schwer erkennen können. Jede Handlung wird der anderen ähnlich, wenn sie durch das Medium als „Show“ miteinander verbunden wird. Und Sexualität, Fortpflanzung, das alltägliche Tun – in nichts sind sie dem unähnlich, was ein riesiger Werbespot sein könnte.

Yes? Oui? Ja? | © Foto: Thomas Draschan

Yes? Oui? Ja? (16 mm, 2003) ist ein weiterer Found-Footage-Film. Im Vergleich zu Metropolen lassen sich jedoch erhebliche Unterschiede feststellen. Was sofort ins Auge fällt (oder besser gesagt, die Sinne berührt), ist die Einführung eines vereinheitlichenden Klangelements. Tatsächlich besteht der Ton in Metropolen aus Abmischung der Originalquellen von „gestohlenen“ Filmausschnitten, der in der bewussten Neuabmischung der Teile wie eine Orchestrierung klingt, die von einem Plattenspieler reproduziert wird, dessen Nadel ständig springt, wie Morsezeichen, die einen ständigen Alarmzustand auslösen, ohne dass der Notfall eintritt, den der Zuschauer erwartet. Der Endeffekt erinnert an die Experimente der konkreten Musik und der elektroakustischen Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. In Yes? Oui? Ja? gibt es stattdessen einen einzigen Klangteppich, der von Saint Etiennes englischer Coverversion des Liedes La poupée qui fait non, das ursprünglich von Michel Polnareff interpretiert wurde, stammt. Es gibt also einen richtigen Soundtrack, der einen an eine Musikvideo-Clip-Struktur denken lassen könnte. In der Interaktion zwischen Ton und Bild ergibt sich spannungsgeladene semantische Diskrepanz, eine Art widersprüchlicher und irreführender Dialektik, die eine Art Anti-Videoclip suggeriert. Ursprünglich sah der Film die Zusammenarbeit mit dem Filmemacher Ulrich Wiesner vor, der das entsprechende Musikstück ausgewählt und eine Struktur der Redundanz vorgeschlagen hatte. Der Film wurde anhand dieser Grundideen erst nach Ulrich Wiesners frühem Tod geschnitten und vollendet. Das Hauptausgangsmaterial für diesen Film war DDR Lehrmaterial mit minimalistischem Bildmaterial, vibrierende Chloratome in steter Variation. Dazwischen blitzt Bildmaterial auf, das den Text des Liedes redundant illustriert: „I give you my heart“. Aus Draschans immensen Archiv taucht die im Film vorherrschende Figur einer träumenden Frau auf, wodurch sich die Deutungsachse in Richtung des Unbewussten und Irrationalen verschiebt und eine Ästhetik nach der Art der Surrealisten entsteht. Erneut erzeugen unterbrochene und wiederholte Gesten einen Überfluss an Bedeutungen und wechseln sich mit abstrakten Bildern ab, die als visueller Kontrapunkt zu den instrumentalen Momenten des Musikstücks fungieren. Draschan scheint nach dem Prinzip der freien Assoziation vorzugehen, aber es gibt, wie angemerkt wurde, eine Anomalie, eine semantische Diskrepanz zwischen Text und Bild. Dieses subtile Nicht-Verbinden schafft eine starke kommunikative Kluft und zwingt den Betrachter sich zu fragen, was die eigentliche Botschaft sei, welche die so miteinander verbundenen Wörter und Bilder wiedergeben wollen. Mit der Betonung der Ambivalenz der Sprache statt ihrer Eindeutigkeit schafft Draschan ein zutiefst melancholisches Werk, das erneut mehrere Interpretationsebenen zulässt.

Zum Thema Experimentalkino bemerkte der französische Philosoph Gilles Deleuze, dass wenn es in diesem Kino eine Konstante gibt, es die Konstruktion eines gasförmigen Wahrnehmungszustands ist. Das ist, als würde man sagen, dass das Sehen hier zu einem Über-das-Sehen-Hinaus wird, zu einem Schließen der Augen, um die Pforten der Wahrnehmung zu öffnen oder zu erweitern, zu einem Zuhören, auch um die Stufen des Sehens offenbar zu machen, zu einer Imagination, die Bilder gebiert, welche leben und vielleicht auch sterben. To the Happy Few (HD, 2003) ist ein Film, der nach der deleuzianischen Denkweise experimentell par excellence ist. Strukturiert um die mystische Idee des Mandalas tauchen Bilder von Sonnen, Galaxien, Planeten auf. Die Mischung aus Archivbildern aus den 1930er bis 1980er Jahren ergeben einen Film mit stark psychedelischer Konnotation, die durch indische Bollywood-Musik unterstrichen wird. Draschans Experimente mit Found Footage werden zunehmend multisensorischer, diesmal unter Einbeziehung des Tanzes. War die visuelle Musikalität der wiederholten Geste bereits in früheren Filmen vorhanden, so wird sie hier zum absoluten Protagonisten, und die Bewegung, die an sich dem Kino inhärent ist, wird zum Tanz. Eine fröhliche und farbenfrohe Choreographie von Körpern, Objekten und abstrakten Formen, denen der Schnitt einen wirbelnden und hypnotischen Rhythmus verleiht. Wie ein schamanischer Tanz, der darauf abzielt, höhere Bewusstseinszustände zu erreichen. Die Draschan liebgewordenen Themen der Fortpflanzung, der Sexualität und des Alltagslebens kehren zurück, aber gleichzeitig beginnt sich auch das spirituelle und metaphysische Element der Ekstase, des Herauskommens aus sich selbst durch das Bombardement und die Überfrachtung mit Bildern abzuzeichnen.

Eine Allee, ein Rodeo und in Großaufnahme ein Mann mit Sonnenbrille, ein Schwimmer, ein Hund, ein Radrennen, dessen Fahrer frontal auf den Zuschauer zufahren, ein Auto, das sich auf einer baumgesäumten Straße bewegt, eine Frau, die sich entfernt, ein Mann, der auf das Meer zugeht. Das ist es, was unsere Wahrnehmung bei der Betrachtung Preserving Cultural Traditions in a Period of Instability (DV übertragen auf 35 mm, 2004) vage mitteilt. Eine Bild gewordene Erinnerung, die in dem Moment, in dem sie sich materialisiert, zerbrochen, in Stücke gerissen wird und, wie Henri Bergson schreibt, in genau diesem Moment „wird sie aufhören, eine Erinnerung zu sein und in den Zustand einer gegenwärtigen Sache übergehen, die aktuell erlebt wird“.4 Was wir sehen, wenn wir das Video sehen, ist Bild-Material, das sich unaufhörlich verwandelt und formt. Was wir sehen, ist das BIOS (basic input/output system) des Videos. Inspiriert von Fehlern in digitalen Videocodecs erzeugt Draschan absichtliche Defekte und erzeugt Störungen beim Datamoshing, einer Technik, die es ermöglicht, Videos unter Ausnutzung der Fehler der digitalen Komprimierung zu verändern. In diesem Film wird der Prozess der Auflösung des Bildes deutlich, und das Werk selbst löst sich vollständig auf, um wieder zur Materie zu werden. Mit wissenschaftlicher Strenge wählt Draschan Stücke von beeindruckenden Film-, Video- und Fotoaufnahmen aus, greift in die Vergangenheit ein, indem er die Erinnerungsbilder zerstückelt, und erweckt Gegenwärtiges, eine jetzt erlebte Sache zum Leben. Ein kohärenter künstlerischer Ansatz auch in seinen Collagen, in denen die Abwesenheit von Bewegung nicht als Immobilität, sondern als still, als Standbild empfunden wird. Der Ton des Videos wird durch ein Voice-over und Hintergrundmusik gebildet, die sich beide über die gesamte Dauer des Videos erstrecken. Die Stimme stammt von Stan Brakhage, der sich gegen den Einsatz von Computern im Kino ausspricht, aber Draschan, der sich bereits von der praktischen Anwendbarkeit des digitalen Mediums angezogen fühlt, zeigt in diesem Video, wie die Instabilität digitaler Bilder eine neue Ausdrucksweise, eine neue Art, Kunst zu machen, hervorbringen kann.

Political Romance | © Foto: Thomas Draschan Collage

Die Rolle der Musik

Die Bedeutung des musikalischen Elements in Draschans Werk ist besonders stark ausgeprägt, was sich insbesondere in seinen Musikvideos zeigt. Während seines Filmstudiums in New York bei Robert Breer lernte Draschan den Produzenten Michael Shamberg kennen, der sich Jahre später wegen der Realisierung von zwei offiziellen Videoclips für die britische Synthie-Pop-Band New Order an ihn wandte, für die Robert Breer bereits den Videoclip ihres wohl bekanntesten Songs Blue Monday fertigte. In Turn (DV, 2006) und Everything Goes Green (DV, 2007) lässt Draschan seinen filmischen Background wieder aufleben. Bildfolgen erschaffen unabhängig von Wörtern innere Geschichten, wenn sie mit ihnen in assoziative Berührung kommen. Eine vorübergehende Verbindung, dann lösen sich die Bilder von selbst auf und nehmen ihren autonomen Dialog wieder auf, verdoppeln die Ebenen des Lesens und Verstehens, um noch einmal auf die illusorische Natur der Kommunikation zu verweisen. Das wahre unauflösbare Band, wie in einer Beziehung des Vertrauens und der Aufrichtigkeit, ist das zwischen Bildern und Musik, wobei das verbindende Element der Rhythmus ist. Rhythmus ist Natur, er ist Herzschlag, er ist das Trommeln von Regentropfen, das Rauschen eines Baches, der Gesang der Vögel. Er ist Lebenskraft, und als solcher lügt er nicht.

Mit Freude (HD, 2009) kehrt Draschan zum psychedelischen, erweiterten, strukturellen, alchimistischen Kino zurück, das von To the Happy Few vorweggenommen wurde. In extremerer und verdichteter Form erzeugt er eine allumfassende audiovisuelle Erfahrung. Diese bezieht sich auf orientalische Philosophien und Kulte, sowie auf Suggestionen, die durch psychotrope Substanzen hervorgerufen werden, mehrere Sinne gleichzeitig ins Spiel bringen und schließlich zu einer Erweiterung und Verstärkung von Bewusstseinszuständen führen. In offensichtlicher Hommage für die Brüder John und James Whitney feiert Draschan das Geheimnis des Kosmos, die Verwandlung der natürlichen Elemente, die Schaffung eines faszinierenden Universums, das sich aus Konstellationen zusammensetzt, die sich vor unseren Augen unaufhörlich verändern. Wieder einmal dominiert die Figur des Kreises, das Mandala, eine symbolische Darstellung des Weges zur Erleuchtung, die schwindelerregend mit erlesenen Bildern der Popkultur abwechselt, in einem hybriden Fluss, der Natur und Kultur, Heiliges und Profanes, Organisches und Anorganisches nebeneinander stellt und sich durch unsere Sinne wie eine kosmologische Urenergie ausbreitet. Formen, Lichter, Farben und vor allem Rhythmen. In der Tat ist Freude nicht nur offen von bestimmten avantgardistischen Animationsfilmen inspiriert, sondern enthält auch Elemente von Analogien zu den audiovisuellen Darbietungen von VJing, der Kunst, Videos zur Verstärkung von Musikteppichen und damit zum Rhythmus der Musik zu mischen.

In Continental Divide (HD, 2010) erzählt Thomas Draschan nicht, sondern er zeigt. Der Animationsfilm zeigt in einer komplexen Collage Figuren, die auftauchen und verschwinden, „blockierte Zeit“ und in Folge Raum. Die Lebensdauer der Bilder endet durch ihr Gezeigt-werden, und wenn es auch stimmt, dass nicht das ganze Video eine Geschichte erzählt, so stimmt jedenfalls, dass jede einzelne Sequenz (noch besser: jedes Einzelbild) eine Geschichte suggeriert. Der Stillstand wird lebendig und scheint uns zu sagen, dass das ganze Kino Animation ist, und dass, wie Eisenstein theoretisierte, aus zwei unbeweglichen Zellen nicht tatsächlich eine Bewegung entsteht, sondern ein Bild der Bewegung. Draschan kennt das Paradoxon des Kinos und offenbart es, zeigt es. In diesem Video verschränkt, überlagert und animiert der Künstler präzise ausgeschnittene Figuren und lässt sie in der Surrealität einer hybriden Welt aus ungewöhnlichen Kombinationen beleben, die in Analogie an das hypnotische Werk von Harry Smith erinnern, dem Jonas Mekas den Titel Heaven and Earth Magic Future gab. Die Bilder von Continental Divide evozieren unterschiedliche Kulturen, organische, anorganische und natürliche Landschaften und Architektur, ein Schild fordert uns auf, zwei entgegengesetzte Richtungen einzuschlagen: zum Pazifik und zum Atlantik. Der Schmetterling, der uns in dieses vielgestaltige Universum einführt, bewegt sich fließend, was den kristallisierten Kontext noch beunruhigender macht und in seiner Unbeweglichkeit an die surrealen Milieus von Paul Delvaux erinnert, die Raoul Servais in Papillon de Nuit nachgestellt hat. Continental Divide ist ein Video, das so dicht mit Geschichten und Anthropologie gefüllt ist, dass man sich fragt, wie Draschan es geschafft hat, sie in einer solchen zeitlichen Begrenzung darzustellen. Das Werk ist von einer Symbolik durchdrungen, die sich auf die Metaphysik bezieht, eine mystische Gegenüberstellung von Ost und West, die durch die Erhabenheit der japanischen Ritualmusik im Hintergrund hervorgehoben wird.

Die Technik des Zeitraffers

Eine faszinierende Hypothese von Giorgio Agamben, eine Neuinterpretation von Aby Warburgs Theorien, definiert Bilder als „Kristalle der Erinnerung“ und beharrt auf ihrem rein historischen Charakter. Von der Vergangenheit erdacht und fantasiert, überleben sie in der semantischen Schwebe und warten auf ein historisches Thema, das ihnen neue Energie verleiht und sie wieder relevant macht. Für Agamben sind die Bilder daher eine einzigartige Gelegenheit, mit den Mitteln der Kunst eine Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Dieser „historische“ Charakter der Bilder ist eines der Themen, denen Draschan am meisten verbunden ist. Als unermüdlicher Katalogisierer und Archivar will er die Schönheit und ihre Geschichte vor der Vergänglichkeit und dem Vergessen bewahren. Aus diesem Grund schuf er Wotruba (2k, 2014), einen Videodokumentarfilm über die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit in Wien. Realisiert mit der Technik des Zeitraffers, ist es Bild für Bild mit einem digitalen Fotoapparat fotografiert, und greift so den Stil seiner ersten filmischen Arbeiten und seiner an der klassischen Avantgarde orientierten Ausbildung auf. Draschans Beziehung zu neuen Technologien ist nicht nur funktional. Wie schon bei Preserving Cultural Traditions ist die Beziehung zum Medium vor allem von der Anziehungskraft ihrer Besonderheit und ihrem spezifischen Potenzial geprägt. Hier in Wotruba ist es auch ein Medium, das die Erhaltung der Schönheit ermöglicht. Eine zeitgenössische, zugleich archaische Schönheit, die eines modernen Stonehenge, dem sich Draschan mit Ehrfurcht nähert und seine Erhabenheit und architektonische Komplexität für sich selbst sprechen lässt. Neben dem Blick des Besuchers kann man Draschans Blick einfangen, der entlang der imposanten Blöcke fließt, die Erde und Himmel vereinen. Die unendlichen Aufnahmen, aus denen sich dieser Videodokumentarfilm zusammensetzt, wie auch die Struktur der Kirche selbst, verweisen einmal mehr auf die Leidenschaft für die Montage, auf das „Denken in Stücken“, welches für den gesamten Korpus von Draschans Werken typisch ist, in denen jedes Medium seine eigene Nützlichkeit hat, um die Komplexität des Menschen, der Natur, des Kosmos zu bezeugen, selbst wenn man von einem kleinen, unendlichen Fragment ausgeht; genau wie die Erinnerung, die für Agamben „ihre Möglichkeiten in die Vergangenheit zurückführt“.5

Die endlose Masse von Erinnerungsbildern, die Draschans filmisches Universum bevölkert, explodiert in all ihrer Schönheit und Widersprüchlichkeit, transformiert und umgestaltet durch die kreative, dringliche Notwendigkeit des Künstlers, der in einem Zustand ständiger Sublimierung den Betrachter in seinen Strudel „ekstatischer Visionen“ hineinzieht.

1 P. Montani, „Introduzione” in S. M. Ejenštejn, La natura non indifferente, Marsilio, Venezia 1992, S. XI. (Übersetzung der Autoren) *Deutsche Ausgabe: Sergej Eisenstein: Eine nicht gleichmütige Natur, hrsg. v. Rosemarie Heise, übers. v. Regine Kühn. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin (Ost) 1980.

2 Der Begriff „obraznost” (Bildlichkeit) stammt von „obraz”, was sowohl Bild als auch Form bedeuten kann.

3 Zitat aus einem Videointerview des Künstlers Thomas Draschan mit den Autoren im Rahmen dieses Aufsatzes.

4 H. Bergson, Materia e memoria, hrsg. v. A. Pessina, Laterza, Bari 2006, S. 118. * Deutsche Ausgabe: H. Bergson, Materie und Gedächtnis: Versuch über die Beziehung zwischen Körper und Geist, hrsg. v. M. Drewsen, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2015.

5 5 G. Agamben, „Il cinema di Guy Debord” in E. Ghezzi, R. Turigliatto (Hrsg.), Guy Debord (contro) il cinema, Il Castoro, Milano 2001, S. 105.

Letzte Änderung: 22.04.2024  |  Erstellt am: 22.04.2024

Das „Außersichkommen“ ist kein „Herauskommen ins Nichts“,
sondern es ist unweigerlich ein Übergang in etwas anderes,
in etwas qualitativ anderes, in etwas dem Ausgangszustand Entgegengesetztes.
(Sergej M. Eisenstein)

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