Zwischen Kindheitserinnerung und Revolution
Die in Genf lebende Künstlerin Latifa Echakhch hat in der Kunsthalle Mainz eine Schau eingerichtet, mit der sie über ortsspezifische Bezüge – hier ist es der Freiheitsbaum der nur kurze Zeit existierenden Mainzer Republik (1793) – auf aktuelle gesellschaftspolitische Kontexte verweist. Isa Bickmann hat die zurückhaltend installierte Ausstellung besucht.
Zuerst trifft man auf drei blattlose, mit Bändern geschmückte Bäume. In Halle 2 und 3 zwingen auf dem Boden liegende übergroße Blätter aus bemalter Leinwand zu einem Zickzackparcour, wenn man nicht versehentlich darauf treten will. Die Räume der unteren Ausstellungsfläche der Mainzer Kunsthalle sind von Latifa Echakhch in einer Kargheit bespielt, die zum Innehalten anregt, um beispielsweise den Fleck verlaufener Tinte auf dem Boden aus der Nähe betrachten zu können, sie lässt einen jedoch in Zeiten gewohnter visueller Überforderung etwas verwundert zurück.
Man findet keinen Text über die Künstlerin, der es unterlässt, ihren Migrationshintergrund hervorzuheben: in Marokko 1974 geboren, in Frankreich aufgewachsen, heute in Genf lebend. Im Kindesalter die Heimat verloren und auf einmal die Sprache nicht mehr verstanden zu haben, bleibt untrennbar mit ihrer Biografie verbunden. Es erscheint daher einleuchtend, dass Heimat, Herkunft, Erbe ihre Themen sind. Aber ist dieses Wissen notwendig, um ihre Mainzer Arbeiten zu verstehen? Es erklärt vielleicht einige arabische Dekore auf einem der persönlichen Gegenstände, die sie in den Räumen der oberen Turmebenen mit Tinte übergossen hat, könnte allerdings durchaus beiseite gelassen werden.
Echakhchs im ersten Raum der Kunsthalle so spärlich inszenierte Bäume sind eine Reminiszenz an den Ausstellungsort. Die seit ihrer Installation im Juli in Betonfüßen sterbenden Gewächse sollen an ein kurzes Kapitel der Mainzer Geschichte als „Rheinisch-Deutscher Freistaat“ 1792/1793 erinnern, jenen neun Monaten französischer Okkupation, die den Mainzern den Revolutionsgedanken näher brachte und seinen Ausdruck in überall aufgestellten „Freiheitsbäumen“ fand. Mit Bändern in den französischen Farben und einer Jakobinermütze geschmückt hat Goethe einen solchen 1792 in Schengen an der Mosel dargestellt (Goethe Museum Düsseldorf).
Revolution, Demokratie und ihr eigenes intensives Interesse an Botanik verbindet die Künstlerin mit dem Ort ihrer Ausstellung. Dazwischen ein Video, eine Arbeit von 2005, die zeigt, wie Streiks für den Erhalt der 35-Stunden-Woche im Nachgang von grünen Straßenkehrmaschinen gesäubert wurden – ein höchst funktionales Reinigungssystem der französischen Hauptstadt, das auch bei Staatsbesuchen in Paris zu beobachten ist, wenn die grünen Wagen die Hinterlassenschaften der berittenen Republikanischen Garden aufnehmen. Freilich kommt mit der maschinellen Säuberung jegliches romantisches Gefühl angesichts von Streik, Protest und Revolution abhanden. Es bleibt im Videobild ein leerer, weil noch gesperrter nasser Boulevard, als wäre nichts geschehen. Die Künstlerin will die Frage stellen, wie die Idee der Revolution überleben kann. Wie steht es dabei um die Hoffnung? Sie sagt, dass sich in dieser Hinsicht ihre Gefühle ständig ändern. Damals, als das Video entstand, meinte sie, man müsse mehr machen, heute angesichts der Bewegung der Gillets Jaunes sieht sie das anders.
Ein ausgelaufenes Tintenbehältnis scheint das Resultat eines Unfalls zu sein, die Tinte hat die Künstlerin jedoch bewusst aus der Höhe tropfen lassen, wie sie erklärt. Zudem handele es sich um die doppelte Menge Sepia, als ursprünglich im Glas enthalten war. Die Lache ist als Statement zu verstehen, geboren aus Absicht (Vergießen) und Zufall, wie sie es auch auf den großen Bildern im Raum praktiziert. Die ungrundierten Leinwände saugten die Tinte auf, was zum Verlauf in feinste Verästelungen an den Rändern führte. Echakhch gestaltet hier spielerisch und verweist auf ein natürliches Phänomen, das ihr Vorbild war: Crown Shyness, Timidé botanique, d.h. die „Schüchternheit der Bäume“, im Bereich der Kronen Abstand vom Nachbarn zu halten, so dass sich vom Waldboden aus gesehen, Freiräume zwischen den Blattwerken bilden, in denen sich der Himmel zeigt.
Man mag nicht nur an Alexander Cozens kurz vor der Revolution erschienene „A New Method of Assisting the Invention in Drawing Original Compositions of Landscape“ (1786), eine Anleitung zur Steigerung der Imagination aus dem Tintenfleck, denken, sondern „couler beaucoup d’encre“ steht auch für überflüssig viel (mit Tinte) Geschriebenes und heute für endlos viele Kommentare im sozialmedialen Zeitalter. So schlägt die Künstlerin einen Bogen von der Revolutionszeit bis in das Heute, romantisiert und dekonstruiert zugleich den Freiheitsgedanken mit Hilfe ihres Materials aus Blättern, Bäumen und Tinte. Das scheint sich auch in den gedichtartigen Zeilen zu spiegeln, die sie den Gemälden als Titel beigibt (in der Abb. von links nach rechts: The green leaves stick to my soles. Several of its agglutinateenough to make steps heavier enough to slow me down., Turn to the right and then walk five steps before turning to the left. The wind blows through the grass., The path is divided into two opposite parts, each darker than the other. Do not know the direction taken before. Close my eyes and move on. – alle Gemälde 2019, Leinwand, Tusche, 200 × 150 cm.) Sie wechselt dort zwischen romantisch-düsteren Natureindrücken und Gedanken über körperliche Gefühle, wie man sie bei einem Cross-Lauf durch den Wald haben könnte. Ein Blick in ihren Instagram-Account belegt übrigens, dass sie Sportlerin ist.
Was sie zur Kunst gebracht habe, so sagt sie, seien Objekte gewesen, Objekte der Kindheit in der neuen französischen Heimat, wo der Alltag sie laufend mit für sie Fremdartigem in Kontakt brachte. Viele der auf dreizehn schwarzen Sockeln präsentierten Gegenstände, die sie mit Tinte übergossen hat – und damit zum Teil verbirgt – haben persönliche Bezüge, die sich aber auch ohne Weiteres bei der Betrachterin einstellen: das Garn der Mutter, ihre Stickerei; Kitschromane, Muscheln, alte Fotografien mit gezacktem Rand, Luftpostbriefumschläge usw. Hinzu kommen in Mainz gefundene Second-Hand-Dinge wie ein zerteilter Globus oder eine Anleitung zum Orgelspiel. Diese Objektwelt der Erinnerung, die das Private zum Teil des Gesellschaftlichen macht, zerstört Echakhch quasi ikonoklastisch durch Schwärzung.
Vom Blick in die Geschichte der Revolution bis hin zu Kindheitserinnerungen spannt die Künstlerin ein politisch durchwirktes Band. Echakhch verbindet Erinnerung in Form romantisch anmutender Objekte, die sie in sparsamer Geste anordnet, mit der Frage nach dem Wesen von Freiheit und lässt auf diese Weise die Bedeutungen der Dinge aufbrechen.
Letzte Änderung: 11.08.2021
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