Widerständige Existenzen
Knipsen kann jeder. Fotografieren aber ist Gestalten des Gesehenen – ein künstlerischer und damit auch ein politischer Vorgang. Die aktuelle Ausstellung der indischen Fotografin Gauri Gill ist nicht nur äußerst sehenswert. Sie entwickelt eine wichtige postkoloniale Perspektive auf die Dokumentarfotografie. Ursula Grünenwald hat die Ausstellung besucht.
Schon im ersten Raum ist das Anliegen der 1970 in Indien geborene Fotografin zu erkennen: Gauri Gill lässt die unterschiedlichen visuellen Kulturen ihres Landes in Austausch treten. In der Serie „Fields of Sight“ überzieht der mit ihr befreundete Künstler Rajesh Vangad ihre großformatigen Schwarz-Weiß-Ansichten von Dorfszenen und Landschaften mit kleinteiligen grafischen Figuren. Vangad, der der indigenen Gruppe der Warli angehört, entnimmt seine bildfüllenden schwarzen und weißen Ornamente der traditionellen Kunst seiner Community kommentiert dadurch die fotografischen Arbeiten seiner Kollegin. Gills Fotografien und Vangads Zeichnungen formen zwei unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, die sich, wie man begreift, ergänzen und miteinander kommunizieren.
Gauri Gill hat am College of Art in Neu-Delhi, an der New Yorker Parsons School of Design/The New School sowie an der Stanford University in Kalifornien Kunst und Fotografie studiert. Ihre Arbeiten waren auf der 58. Biennale von Venedig, im Museum Tinguely in Basel, im MoMA PS1 in New York sowie auf der Documenta 14 zu sehen.
Fotografien als Notizen
In der Serie „Notes from the Desert“ setzt Gill das Leben von Menschen in Szene, die am Rande der Wüste in der nordwestlichen Provinz Rajasthan ein Dasein in extremer Armut führen. Aufnahmen eines grob gemauerten Regals mit abgegriffenen Alltagsgegenständen oder eines Lagerplatzes der nomadischen Jogi-Gemeinschaft mit einem bis auf die Knochen abgemagerten Hund führen die prekäre Situation der Menschen vor Augen. Zugleich lässt das Provisorische der Behausungen erahnen, wie anfällig diese Menschen für zusätzliche Katastrophen in Form von Überschwemmungen, Erdbeben oder akutem Wassermangel sind. Tatsächlich leben einige von ihnen in den Ruinen ihrer Häuser, die von der letzten Flut zerstört worden sind. Wie können Menschen, so fragt man sich, die fast nichts besitzen, mit noch weniger auskommen?
Dass sie ihre Fotografien als Notizen bezeichnet, kennzeichnet diese als subjektive Annäherungen an eine fremde Realität. Dank persönlicher Freundschaften und die Zusammenarbeit mit örtlichen Aktivist*innen, gelingt es Gill, das Machtgefälle außer Kraft zu setzen, das entsteht, wenn Reisende aus der urbanen Mittelschicht Einwohner*innen armer Landstriche fotografieren. Ihre Aufnahmen entstehen im Alltagsgeschehen, wirken beiläufig und erheben keinen Anspruch auf einen besonderen Moment. Das fotografische Verfahren der Silbergelatine verbindet Alltagsnähe und situative Ästhetik mit tiefenscharfen, detailreichen Ansichten.
Folgt man dem Ausstellungsparcours, erfährt man leider erst relativ spät, in welchem Kontext Gills Fotografien entstehen. In einem Interview erklärt die Fotografin, warum sie einzelne Regionen aufgesucht und bestimmte Projekte begonnen hat. Erst mit diesem Wissen wird die Wahl ihrer Motive verständlich und man wird gewahr, wie in ihren dokumentarischen Aufnahmen Vertrauen und menschliche Beziehungen Voyeurismus und Exotismus in Schach halten. Man würde sich diese Informationen in Eingangsnähe wünschen. Auch digitale Stationen in den einzelnen Räumen wären hilfreich, um kulturelles und geografisches Hintergrundwissen zu ermitteln.
Überleben
Wie Menschen unter widrigen ihr Leben gestalten, zeigt Gill in der Serie „Jannat“. Diese ist während wiederholter Besuche zwischen 1999 und 2007 in der Region Barmer entstanden. Im Mittelpunkt des 52-teiligen Zyklus‘ stehen eine alleinerziehende Mutter und ihre beiden Töchter. Momente menschlicher Nähe und rätselhafter Schönheit scheinen auf, wie in der großformatigen Fotografie „Jannat“, die nach dem älteren der beiden Mädchen benannt ist.
Dass Jannat bereits als junge Frau gestorben ist, berührt nicht zuletzt deshalb, weil die Todesursache unbekannt ist und zu befürchten bleibt, dass keine ausreichende medizinische Hilfe zur Verfügung gestanden hat. Die intensiven Grauschattierungen der Alltagsszenen der beiden Serien „Jannat“ und „Notes from the Desert“ führen den schmalen Grat vor Augen, der in der abgeschiedenen Wüstenregion zwischen Leben und Tod, Dasein und Verschwinden, besteht. Wie lange, so fragt man sich, können die Frauen, Männer und Kinder ihr Überleben sichern? Wäre es nicht besser, der unwirtlichen Region den Rücken zu kehren und ein anderes Auskommen zu suchen? Für den zentralamerikanischen Kontext haben die Humangeografinnen Lindsey Carte und Birgit Schmook den Begriff des „slow displacement“ vorgeschlagen, um damit den schleichenden Prozess erzwungener Migration zu bezeichnen, der die arme Landbevölkerung trifft. Weil sie ihr Überleben nicht mehr sichern können, müssen Menschen das angestammte Terrain verlassen und sich als Wanderarbeiter*innen verdingen. In Gills Schwarz-Weiß-Aufnahmen meint man, die indische Variante des „slow displacement“ zu sehen. Welche Möglichkeiten haben die Menschen in Rajasthan, diesem Prozess zu widerstehen?
Ästhetik des Verschwindens und Widerstehens
Wenn es die Bilder selbst sind, die Fragen stellen, sind Gills ästhetische Mittel in den Blick zu nehmen, die die Vorstellung des drohenden Verschwindens und der Widerständigkeit evozieren. Ihre Aufnahmen zeigen die Menschen stets aus einer respektvollen Distanz und häufig in einem weiten, unabgeschlossenen Raum. Sie sitzen beieinander, lachen, spielen und gehen allerlei Alltagstätigkeiten nach. Gills Inszenierung dringt nie in den persönlichen Nahbereich ein und räumt dadurch den Fotografierten die Option ein, sich zu zeigen – oder aber sich zu entziehen.
Für die großformatige Schwarz-Weiß-Serie „Traces“, die minimalistisch geschmückte Gräber zeigt, wählt Gill eine andere Strategie: Dank der Hängung in der Schirn schließt sie den allgegenwärtigen Tod mit dem Leben kurz. Den raumgreifenden Darstellungen ärmlicher Gräber im Wüstensand stellt sie überraschend die kleinformatigen Aufnahmen einer Geburt gegenüber. Zwar wirkt diese Engführung etwas konstruiert, doch schließt sich mit der Ansicht des Gebärens auf dem sandigen Boden ein existentieller Kreis. Im Mittelpunkt steht die Figur einer alten Hebamme, die die Geburt souverän begleitet. Sie wird als Freundin der Fotografin und Feministin vorgestellt. Gerne lässt man sich von Gill überzeugen, dass auch unter diesen widrigen Umständen das Leben über den Tod triumphiert.
Acts of Appearance
Den Inbegriff alltäglicher Widerständigkeit bildet jedoch die 2015 begonnene Serie „Acts of Appearance“. Ihre farbliche Intensität und die hohe performative Qualität räumen radikal mit jeder karitativ unterlegten Armutsfotografie auf. Für die Serie hat Gill traditionelle Kunsthandwerker gebeten, für die Dorfbewohner*innen, die sich von ihr fotografieren lassen wollen, Masken herzustellen. Die Motive konnten die Menschen selbst bestimmen. Sie haben Hirsche, Schlangen, Insekten oder Raubvögel gewählt und sich in alltäglichen Situationen, wie Kartenspielen, Kochen und am Verkaufstresen ablichten lassen. Die Masken wahren die Identität der Fotografierten. Man kann nur vermuten, dass den Dorfbewohner*innen die Wahl ihres Kopfschmuckes Vergnügen bereitete und das Gefühl vermittelte, die eigene Erscheinung nach den persönlichen Vorlieben zu gestalten. Gill übersetzt die Frage nach der Handlungsmacht, der „agency“, ins Fotografische: Wer zeigt sich wie? Wer fotografiert wen? Wer betrachtet wen? Die Gestaltungs- und Deutungshoheit liegt nicht länger bei denjenigen, die in Besitz der Kamera sind, sondern bei den maskentragenden Dorfbewohner*innen.
Diaspora und Mädchenrechte
Das Prinzip der vertrauensvollen Distanz wendet Gill auch bei ihren Reisen in die USA an. Für die Serie „The Americans“ fotografierte sie zwischen 2002 und 2007 Menschen der indischen Diaspora. Ihre Farbfotografien zeigen Wohnungen, Freizeitvergnügungen und Arbeitsverhältnisse der arrivierten indischen Community.
Die Mädchen, die sich für die Serie „Balika Mela“ vor Gills Kamera gewagt haben, blicken mit der für Teenager typischen Mischung aus Selbstbewusstsein, Unsicherheit, Hoffnung und ein bisschen Trotz in die Kamera. Auch ihre Offenheit wäre ohne das besondere Talent der Fotografin, persönliche Beziehungen und lokale Kooperationen einzugehen, kaum denkbar. Die Serie ist nach dem gleichnamigen Festival für Mädchen benannt, das eine regionale Organisation in der Wüstenstadt Lunkaransar ins Leben gerufen hatte, damit sich Mädchen außerhalb ihrer Heimatdörfer austauschen, vergnügen und bilden können. In der windigen und staubigen Umgebung des Festivals errichtete Gill ein Zelt und stattete es mit einfachen Requisiten des lokalen Fotostudios aus, wie dem Katalog zu entnehmen ist. Koffer, Zeitschriften und sogar ein Motorrad sind die Objekte, mit denen sich die Mädchen alleine oder zu zweit abbilden lassen.
Das eigene Sehen justieren
Gills Fotografien wirken wie Fenster in eine andere Welt. Man verlässt die Ausstellung nicht nur mit der Erkenntnis, Einblicke in eine Realität bekommen zu haben, von deren Existenz man ohne die Fotografin nie erfahren hätte. Gills Inszenierungen verändern darüber hinaus auch das eigene Sehen: Ihre „Acts of Resistance and Repair“ sind keine neokolonialen Elendsbilder oder instrumentalisierende Darstellungen von Menschen des Globalen Südens, die entwicklungspolitisch sinnvollen Tätigkeiten nachgehen. Wenn wir die Bildregime der westlichen Medien und der internationalen Nothilfe für einen Moment beiseite lassen, werden wir gewahr, dass Gill uns Menschen zeigt – Menschen, die ihrem Alltag nachgehen, spielen, Bildung erwerben, Träume haben und dort Widerstand leisten, wo es notwendig ist. Am besten ist es, die Ausstellung mehrfach zu besuchen und sich im Prozess des wiederholenden Sehens auf die sachte Neujustierung des eigenen Blicks einzulassen. Nur dann kann man Gill auf ihren Reisen angemessen begleiten.
Die Ausstellung endet in Frankfurt am 8. Januar 2023. Ab dem 26. Januar 2023 ist sie im Louisiana Museum in der Nähe von Kopenhagen zu sehen.
Schirn Frankfurt
Letzte Änderung: 04.01.2023 | Erstellt am: 02.01.2023
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