Weiblich, erfolgreich und vergessen
Mit „Frei. Schaffend“ ist eine Ausstellung im Frankfurter Städel Museum untertitelt, die sich der Wiederentdeckung der schweizerisch-deutschen Malerin Ottilie Wilhelmine Roederstein (1859–1937) widmet und zuvor im Kunsthaus Zürich zu sehen war. Sie stellt eine selbstbewusste, sich gängigen Rollenmustern widersetzende Künstlerin vor, deren bewunderte Malerei fest im 19. Jahrhundert verankert war und sich wenig empfänglich für zeitgenössische avantgardistische Strömungen zeigte. Isa Bickmann spürt den Gründen für Roedersteins verblassten Ruhm nach.
Die Malerin Ottilie W. Roederstein im Städel Museum
Auf der Fotografie, die Ottilie W. Roederstein 1894 in ihrem Atelier in der Städelschen Kunstschule zeigt, steht sie mit Baskenmütze und im doppelt geknöpften Mantel an die Staffelei gelehnt, eine Hand in der Tasche, burschikos-lässig, selbstbewusst im Wissen, dass sie ihr Ziel erreicht hat: Sie ist Malerin geworden! Um sie herum sind ihre Werke versammelt.
Das Bildnis eines Jungen, der ihr gerade Modell sitzt, steht auf der Staffelei. Seit 1893 hielt Roederstein dieses Atelier und unterrichtete eine Damen-Klasse. Die Porträtmalerei war ihr Metier. Selbstbildnisse entstanden in großer Zahl: Man zählt über achtzig, in denen sie sich immer wieder selbst befragt: mit ernster Miene, in hochgeschlossener, eher männlich wirkender Kleidung und mit Hut, mal mit Zigarillo, mal ein Bündel Pinsel wie ein Schwert senkrecht in der Hand haltend, meist die hellblauen wachen Augen prüfend ins eigene Spiegelbild gerichtet. Roederstein präsentierte diese Selbstporträts auf dem Salons der Société nationale des beaux-arts in Paris, ein Sujet, das, wie Barbara Rök gezeigt hat, dort ungewöhnlich war und beweist, wie wichtig diese der Künstlerin gewesen sein mussten.
Roederstein hatte es sich in den Kopf gesetzt, Malerin zu werden und nutzte die besten Möglichkeiten, dies in die Tat umzusetzen. Doch die Hürden waren hoch: Zuerst galt es, das Ansinnen gegen den elterlichen Willen durchzusetzen.
Obendrein musste die Tätigkeit so professionalisiert werden, dass dabei mehr herauskam als das „Dilettieren“, das weiblichem Kunstschaffen 1879 zugestanden wurde. Vom heimatlichen Zürich reiste die als Kind deutscher Eltern geborene Zwanzigjährige nach Berlin zur verheirateten Schwester, um im so genannten „Damenatelier“ – denn zu einem akademischen Studium sollten Frauen erst viel später zugelassen werden – des Porträtmalers Karl Gussow zu lernen. Mit der ebenfalls aus der Schweiz stammenden Kollegin Annie Hopf zog es Roederstein drei Jahre später in die Kunststadt Paris. Auch hier war ein Studium nur in Damenateliers möglich. Bei den erfolgreichen Porträtisten Carolus-Duran und Jean-Jacques Henner, die im Realismus bzw. zwischen Realismus und Symbolismus zu verorten sind, erhielt sie Unterricht, zudem schulte sie sich in Eigenregie weiter. Sie traf sich sogar mit einer gemischten Studierendengruppe zum privat organisierten Aktstudium, was offiziell für Frauen nicht zugänglich war, studierte die alten Meister im Louvre und lebte in Paris ein unabhängiges Leben, eingebunden in die Freundschaften mit Kolleginnen wie Annie Hopf oder der Fotografin Jeanne Smith, deren jüngere Schwester Madeleine ihre erste Schülerin wurde. Roederstein stellte 1883 erstmals im Salon de la Société des Artistes Français aus. Für das Porträt „Madame Dimitri Monnier“ erhielt sie ebenda 1888 eine „mention honorable“, im folgenden Jahr auf der Weltausstellung die Silbermedaille für ihre im Schweizer Pavillon ausgestellten Gemälde, eine Auszeichnung, die sie als unverdient empfand und als „Armutszeugnis“ für ihr Land (Kat. S. 34, Anm. 35). Heute staunt man über so viel weibliche Demut und Bescheidenheit.
Paris blieb auch nach ihrer Rückkehr nach Zürich 1887 ein Bezugspunkt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hielt sie dort ein Atelier und stellte regelmäßig in der von Puvis de Chavannes, Carolus-Duran, Félix Bracquemond, Jules Dalou und Auguste Rodin 1890 wiederbelebten Société nationale des beaux-arts aus. Mit der Medizinstudentin Elisabeth H. Winterhalter, die sie 1885 in Zürich kennengelernt hatte, zog sie 1891 nach Frankfurt. Winterhalter war nach Abschluss ihrer Ausbildung in Frankfurt die Möglichkeit geboten worden, in Deutschland, das Frauen noch den Zugang zum Medizinstudium verwehrte, eine gynäkologische Praxis eröffnen zu können. Möglicherweise glaubte Roederstein, dass das kleinere Frankfurt für sie als Malerin weniger konkurrierende Künstler vorhielt, um an Porträtaufträge zu kommen, jedenfalls sind ihre Beweggründe, aus Paris wegzugehen, nicht ganz klar.
Roederstein wurde zu einer sehr erfolgreichen Porträtmalerin. 1908 konnte sich das Paar ein Haus in Hofheim am Taunus am heutigen „Roedersteinweg“ bauen. Auf dem Gelände errichteten sie auch ein Atelierhaus, das übrigens Hanna Bekker vom Rath, die ja Roedersteins Schülerin, Hofheimer Nachbarin und Freundin wurde, 1945 an den Maler Ernst Wilhelm Nay vermittelte, der ebenfalls mit Roederstein bekannt gewesen ist.
Ob es sich bei der Lebensgemeinschaft des Paares Roederstein und Winterhalter um eine so genannte „Bostoner Ehe“ handelte oder sie tatsächlich über eine Freundschaft hinausging, bleibt offen. Beide Frauen engagierten sich in der Ausbildung von Mädchen und Frauen, Roederstein über eine Malschule, Winterhalter unterstützte die Abiturförderung.
Auf Fotografien sieht man die Künstlerin stets mit einem etwas grimmigen Gesichtsausdruck, den sie kontrastiert, indem sie Mitfotografierten freundschaftlich den Arm um die Schultern legt. Der jüdische Künstler Ludwig Meidner beschrieb ihr Wesen 1934 in einem Brief wie folgt: „Liebes, sehr geschätztes Frl. Roederstein, verehrte Kollegin! In den letzten zwei Jahren gingen meine Gedanken häufiger zu Ihnen, weil mir gerade auch in Ihrer Person so sehr Wesen und Art des liberalen Zeitalters, das nun leider zu Ende geht, verkörpert scheint. Sie gehören zu einem Menschentypus, der vermutlich in den nächsten Jahrzehnten gänzlich von der Bildfläche verschwinden dürfte, um einer anderen Art Mensch Platz zu machen, die eher mit dem Menschenfressertum verwandt sein wird.“ (Zit. nach Kat., S. 172). Roederstein genoss in Frankfurt hohes Ansehen. Der Verwaltungsrat des Kunstvereins schrieb ihr zum 70. Geburtstag: „So verehren wir in Ihnen die grösste Künstlerin, die unsere Vaterstadt ziert. Wenig später zwang das Nazi-Regime Ottilie Roederstein in ihrer letzten Werkphase dazu, in die Reichskammer der bildenden Künste einzutreten.” Neben privaten Bildnissen und Stillleben malte sie Porträts uniformierter Hitlerjungen, erfährt man im Katalog. Auch das gehört zur Wahrheit dieser Künstlerin.
Auf Basis des Archivs des Roederstein-Biografen Hermann Jughenn (1888-1967), einem kunstaffinen Beamten der Reichsbahn ohne kunsthistorische Ausbildung, das 2019 in das Frankfurter Städel Museum kam und nun zur aktuellen Ausstellung Dokumente und Fotografien beiträgt, konnte Barbara Rök mit ihrer Dissertation 1997, der eine Ausstellung im Stadtmuseum Hofheim 1999 folgte, eine erste wissenschaftliche Arbeit mit Werkverzeichnis über die Künstlerin vorlegen. Das sind die wenigen Stationen einer Rezeption nach Roedersteins Tod 1937: eine Gedächtnis-Ausstellung 1938 im Frankfurter Kunstverein, 1980 in Hofheim, die eben genannte 1999 in Hofheim und einige Gruppenausstellungen, die sich dem Schaffen von Künstlerinnen widmeten, wie z.B. 2013 im Museum Giersch in Frankfurt die Schau „Künstlerin sein!“
Wie kam es aber nun, dass Roedersteins Name so lange aus der kunsthistorischen Rezeption verschwand? Das hat wohl zwei Gründe. Neben der Misogynie des Kunstbetriebs liegt es vermutlich auch daran, dass die Künstlerin bewusst für den zeitgenössischen konservativen Kunstgeschmack produzierte, also für den Markt. Das machte sie zwar in ihrer Zeit sehr erfolgreich und sicherte den Lebensunterhalt, doch die Kunstgeschichte, die im Rückblick vorrangig auf die Innovationsleistungen von Avantgarden schaut, goutiert das nicht. Dabei war Roederstein tatsächlich eine begabte Malerin, die geschickt zeitgenössische Inspirationen nutzte – auch wenn sie in den Grundzügen altmeisterlicher Malerei treu blieb. In impressionistischer Manier porträtierte sie 1888 die Schwester Helene Roederstein mit Schirm. 1902 malte sie eine lesende alte Frau, die in ihrem Realismus an „Mutter und Schwester des Künstlers, in der Bibel lesend“ von Hans Thoma aus dem Jahre 1866 (Kunsthalle Karlsruhe) denken lässt. Einem Doppelbildnis, das an die Nazarener erinnert, verleiht sie eine leonardeske Hintergrundlandschaft. Sie malt goldene Heiligenscheine wie die idealistischen Symbolisten und verpackt das Ganze in eine unschuldige Süßlichkeit zur „Madonna unter Blumen oder Marienmond/Mois de Marie“ aus dem Jahr 1890. Es entstanden Profilbildnisse, die die Frührenaissance mit der neuen Sachlichkeit verschmelzen wie im „Porträt der Hanna Bekker vom Rath“. Ein stehender Akt von 1911 lässt an Toilettenbilder à la Degas denken. Nicht nur die Temperatechnik, die sie von ihrem Ateliernachbarn im Städel, Karl von Pidoll annahm, zeugt davon, wie wichtig ihr altmeisterliche Techniken waren. Sie interessierte sich sehr für Hans von Marées‘ Fresko-Stil. Auf der Höhe der Zeit war sie mit der matten Farbwirkung, die als progressiv galt, was im Katalog von Eva-Maria Höllerer dargelegt wird. Neben der für den Markt bestimmten Porträtmalerei suchte sie für eine Malerin ungewöhnlichere Motive wie z.B. religiöse Themen. Eine japonistische Serie entstand lange nach der französischen Japonismus-Mode und ist eher experimentell zu verstehen, d.h. sie war nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Roederstein besaß selbst japanische Holzschnitte. Die Beschäftigung damit hinterließ in der Signatur der Künstlerin Spuren. Sie signierte mit dem unter einander geschriebenen OWR und mit der Jahreszahl, wobei sie das W um 90 Grad drehte.
Was ihr OEuvre so faszinierend macht, ist die Verwendung von klaren und leuchtenden Farben, die sich gegenseitig bestärken und dem Inkarnat Leuchtkraft zukommen lassen. Und das anziehende Rot lenkt nicht ab, sondern verlebendigt den Gesamteindruck. Trotz dieser gemalten „Konservativen Moderne“ ist Roederstein selbst offen für die zeitgenössische Kunst und deren Vertreter. Sie wird Mitglied in der Jawlensky-Gesellschaft, die von Hanna Bekker vom Rath zur finanziellen Unterstützung des Künstlers initiiert wurde, was ihre Offenheit gegenüber der Avantgarde zeigt, auch wenn sie selbst immer nah am Naturvorbild zu bleiben versuchte. Sie gönnte sich höchstens mal einen abstrakten Hintergrund in mutigen Farben.
Wo anders könnte man dieser Malerin eine Präsentation bereiten als im Kunsthaus Zürich, dem sie als Sammlerin moderner Kunst Schenkungen zuteilwerden ließ, und im Städel Museum, das 25 Gemälde und 3 Zeichnungen der Künstlerin sein Eigen nennt? Jedenfalls belegt die späte Würdigung in diesen beiden Institutionen, in Zürich 2020/2021 stark betroffen durch Corona-Schutzmaßnahmen, einmal mehr, wie lange Zeit hochwertiges weibliches Kunstschaffen ausgeblendet wurde und dass die lineare Lesart von Kunstgeschichte letztendlich ein Mythos ist.
Nachtrag:
Empfohlen seien auch der vertiefende Text im Blog des Städel Museums zum Bergsteigen und Reisen der beiden ungewöhnlichen Frauen Roederstein und Winterhalter von Eva-Maria Höllerer. “https://blog.staedelmuseum.de/roederstein-auf-reisen/”:https://blog.staedelmuseum.de/roederstein-auf-reisen/
Letzte Änderung: 20.09.2022 | Erstellt am: 18.09.2022
Sandra Gianfreda, Alexander Eiling, Eva-Maria Höllerer Ottilie W. Roederstein
243 Abb.
208 S., geb.,
ISBN 978-3-7757-4794-3
Hatje Cantz, Ostfildern 2020
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