Synergie durch Innehalten
Zu den Wandelkonzerten, die vor etwa einem halben Jahrhundert den Rahmen der zeitgenössischen Musik erweiterten, tritt in den letzten Jahren immer öfter ein kollaboratives Denken, das es Künstlern verschiedener Disziplinen erlaubt, sich gegenseitig aufeinander zu beziehen, ohne die anderen zu spiegeln. Michael Hoeldke berichtet von einer Vernissage in Trebel, die von ferne an die Happenings vom Black Mountain College erinnert.
Im wendländischen Trebel befindet sich, direkt an der B493, ein kleiner Gebäudekomplex mit Namen „Künstlerische Werkstätten Trebel“, eine ehemalige Gaststätte, jetzt als Atelier, Galerie und Veranstaltungsort betrieben vom Künstler Ernst von Hopffgarten.
Unter dem Titel „Fläche – Raum – Zeit“ wurde dort am 8. Juli 2022 eine Ausstellung eröffnet: Graphiken von Ernst von Hopffgarten, Objekte von Heinz Jahn, und es wurde Elektroakustische Musik des Komponisten Clemens von Reusner uraufgeführt.
Die drei Titelelemente könnten ihre Entsprechung in den Kategorien „Graphik“ – „Objekte“ – „Musik“ ihrer Schöpfer Hopffgarten – Jahn – Reusner finden, wenn man es sich einfach machen würde. Zum Glück wurde dies durch einen äußerst sensiblen Einführungsvortrag der Berliner Kunsthistorikerin Dorothée Bauerle-Willert verhindert, die eigens für diesen Termin angereist war. Sie illuminierte den Werdensprozess von Kunstwerken, nahm Bezug auf jeden einzelnen der drei Künstler, es wurde klar, dass es mit einer einfachen Analogisierung der drei Kategorien zum Titel der Ausstellung nicht getan ist; denn jede der drei breitet sich in verschiedenen Dimensionen aus, braucht ihr Maß an Fläche, an Raum, an Zeit.
Indes: Die Zeit bleibt das gewichtigste Phänomen. Die Besucher der Vernissage sollen beim Betrachten der Ausstellung das gut einunddreißigminütige Musikstück „transient“ des Komponisten Clemens von Reusner anhören und dabei Unterhaltungen möglichst vermeiden.
Der intensivste Teil der Veranstaltung wird so zu einer meditativen Zäsur. Die Zeit scheint stehenzubleiben – für etwa einunddreißig Minuten – ein Paradoxon? Gebietet man der Zeit zu warten und verleiht diesem Innehalten eine Zeitspanne, die wievielte Dimension gestattet dieses Innehalten? Vergeht Zeit, wenn man sie anhält? Nur die Künste erlauben solch ein antithetisches Szenario. Man begibt sich in einen Mikrokosmos, in dem Zeit und Raum gewissermaßen fusionieren, einander zuarbeiten, Gesehenes und Gehörtes Eindrücke vermitteln, die man bei Einzelausstellungen oder einem Konzert nicht gehabt hätte.
Von Hopffgartens Graphiken erscheinen hier als Serien – die Matritze einer Druckplatte wird bei weiteren Drucken durch Hinzuziehen weiterer Objekte und Motive verändert und erscheint als Thema mit Variationen, als Zyklus und markiert dabei eine zeitliche Abfolge. Die stark variierende Hängung bringt eine eigene Topographie, es entstehen Höhen und Täler, Häufungen, Distanzierungen. Die Zweidimensionalität der Graphiken erfährt eine Weitung durch den Betrachter, wenn er nach oben, nach unten und seitwärts schauen muss. Oft spielen die Graphiken mit Elementen, die man sowohl konvex als auch konkav deuten kann, sie mögen sich nicht an die zugewiesene Zweidimensionalität halten.
Ernst von Hopffgarten ist an diesem Ort sowohl Aussteller als auch Ausgestellter, seine Werke verleihen dem Raum oft allein Schwere und Bedeutung. Werke, die durch diese Veranstaltung nun eine zusätzliche Spannung erfahren, durch Begegnung mit den Schöpfungen Jahns und Von Reusners, durch das Spiel mit den Ausdehnungen: Fläche, Raum und Zeit.
Die Objekte Heinz Jahns brauchen ebenfalls ihre Fläche, in der Horizontalen, in der Vertikalen, und man braucht seine Zeit, um sie zu erlaufen mit der gebotenen Behutsamkeit. Man stellt fest, dass alle Objekte aus farbigen Fäden unterschiedlicher Stärke bestehen, sei es als farbige Knäuel, sei es als zarter Raumteiler, bestehend aus zwei Fäden, die wie zweidimensionale Flügel vom Boden zur Decke in die dritte Dimension wachsen; oder sie erscheinen als übereinander geschichtete Ringe, die vasenähnliche Standobjekte bilden.
Die monochromen Graphiken von Hopffgartens stehen in starkem Kontrast zu den farbigen Objekten Jahns, sie konterkarieren einander. Die Fröhlichkeit und Dekoration signalisieren-den Farben vermögen gleichzeitig zu stören und zu erfreuen. Wichtig ist der Perspektivwechsel, um beides wahrzunehmen.
Diese Vernissage zeigt sich als raumgreifende Interaktion zwischen den Künstlern, den Werken und der Rezeption durch die Gäste.
Clemens von Reusners elektroakustisches Musikstück „transient“ wird vermittels einer grazil erscheinenden Mehrkanalanlage regelrecht in den Raum projiziert; die vierkanalige Wiedergabe schafft ein Klangerlebnis, das die Wände des Ausstellungsraums zu erweitern scheint und als Grenzen bedeutungslos werden lässt. „transient“ taucht die Exponate in eine Art akustisches Licht, und ihr dialektisches Verhältnis erscheint in neuer Sinnfälligkeit. Ein Klang kann den Blick verändern. Poetische Klänge zumal.
Immer wiederkehrendes musikalisches Objekt der Komposition: Der berühmte Anfang der „Promenade“ aus Mussorgskis Zyklus „Bilder einer Ausstellung“. Dies freilich nicht als platt wiederkehrendes Zitat, sondern in Fragmenten, mal dominant, mal als beiläufige Einstreuung. Mal schreitet man durch die Ausstellung, an anderer Stelle macht man nur einen Schritt, um sich zu positionieren.
Obwohl nicht direkt auf die Exponate komponiert, finden sich doch Entsprechungen in dieser Musik: Variation von Vorlagen, raumgreifende Entwicklungen, „monochrome“, sinusähnliche Klänge, Freundliches und Farbenreiches, Bedrohliches. Den Gedanken sei das Fliegen erlaubt. Die Besucher können durch die Musik schreiten, die Musik durchschreitet die Besucher.
Die drei Künstler begegnen einander an diesem wunderbaren Ort in Trebel, ohne dabei ein Trio zu bilden, und nehmen doch Bezug aufeinander. Und dies mitnichten nur freiwillig; denn die Räumlichkeit in Trebel, Hauptstraße 3, wird, wenn sich die Präsentation der Graphiken von Hopffgartens mit den Objekten Jahns und der Musik von Reusners trifft, intensiv genutzt. Dann wird es ein wenig eng, dann reibt sich der Farbenreichtum der Objekte an der Monochromie der Graphiken, dazwischen die zweckmäßigen Komponenten der Wiedergabeanlage, die sich Raum nimmt, um akustisch eigene Räume schaffen zu können. Man ahnt, da hat es Wünsche gegeben, den unterschiedlichen Werken mehr Distanz oder Nähe zuzugestehen, Wünsche, die sich gewiss nicht alle erfüllen ließen.
Die ausstellenden Künstler mussten gewiss Rücksicht üben, einander Fläche, Raum und Zeit geben. Die „installierte Ausstellung“ wird zur Performance, erhält etwas eigentümlich Aktives.
Das Rücksichtnehmen ist aber nicht auf das Triangel der Präsentatoren beschränkt. Die Wiedergabe der Komposition „transient“ hätte man als Hintergrundambiente missverstehen können, wäre das Publikum bei der Aufführung zu laut gewesen. Der Komponist Clemens von Reusner gab vor Beginn des Stücks die Anregung, bei der Wiedergabe umherzugehen, um die räumliche Gestaltung in „transient“ besser wahrnehmen zu können, gleichzeitig aber auf Unterhaltungen während der Aufführung zu verzichten, um das Verfolgen der Komposition zu ermöglichen. So war man als Gast gehalten, sich vorsichtig und leise zu bewegen, um nicht Exponate oder andere Besucher zu touchieren oder das sensible Szenario sonstwie zu beschädigen. Kann man die drei Künstler Von Reusner, Von Hopffgarten und Jahn wohl kaum als ein Ensemble bezeichnen, das Treffen in diesem Raum ist doch ein gelungenes Zusammenwirken, die erzeugte Synergie überträgt sich auf das Publikum. Man hält oft inne, um anderen Schreitenden Fläche, Zeit und Raum zu geben. Schopenhauers Parabel von den Stachelschweinen rückt in den Focus. Ohne erhobenen Zeigefinger.
Letzte Änderung: 01.08.2022 | Erstellt am: 01.08.2022
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