Synagogen in Deutschland

Synagogen in Deutschland

Eine virtuelle Ausstellung im Frankfurter Bunker
Ausstellungsansicht | © Initiative 9. November e.V.

Eine der größten Synagogen Deutschlands wurde 1938 in Brand gesetzt und abgerissen. Auf ihrem Grund wurde ein Hochbunker gebaut, der seit Jahrzehnten zum Ort der Erinnerung an die Judenverfolgung in Frankfurt wurde. Nun sind darin die Synagogen Deutschlands in einer virtuellen Rekonstruktion versammelt. Doris Stickler hat sie gesehen.

Die Friedberger Anlage war einst von einem prachtvollen Sakralbau gesäumt. 1907 mit architektonischen Elementen der Romanik und des Orientalismus erbaut, bot die Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft über 1600 Menschen Raum und zählte damit zu den größten deutschlandweit. Bei den Novemberpogromen 1938 fiel sie dem Vernichtungswahn der Nationalsozialisten auf besonders perfide Weise zum Opfer. Die Polizei bezichtigte Juden, die Brände gelegt zu haben, und nötigte die Gemeinde, das zerstörte Gebäude wegen Einsturzgefahr auf eigene Kosten abzureißen. Vier Jahre später mussten französische Zwangsarbeiter auf dem Gelände einen fünfgeschossigen Schutzbunker für „deutsche Volksgenossen“ errichten.

Diesen Bunker verwandelt die Initiative 9. November seit mehr als 30 Jahren in einen „Ort der Erinnerung, der Debatte, des Lernens und der Begegnung“. Nach der Sanierung der zweiten Etage konnte sie im vergangenen Jahr ein lang geplantes Projekt realisieren. Am 9. November 2021 wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zu „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ die Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ eröffnet. Dass die nun dauerhaft im Bunker beheimatete Ausstellung den kulturellen wie städtebaulichen Verlust auf sehr eindringliche Weise vor Augen führt, ist dem Leiter des Forschungsbereichs Digitale Rekonstruktion der Technischen Universität Darmstadt, Marc Grellert, zu verdanken.

Geleitet von der Frage „Wie stellt man etwas aus, das es nicht mehr gibt“, hat er 25 von den Nazis zerstörte Synagogen mittels digitaler Technik wieder zu sichtbarer Existenz verholfen. Weitere werden folgen. Die in einer diashowartigen Abfolge groß an die Wand projizierten Computer-Rekonstruktionen nehmen auf einen Rundgang um und in die originalgetreu nachgebildeten Bauwerke liberaler und orthodoxer Gemeinden mit, die die liturgische Vielfalt und architektonischen Stilrichtungen des 19. und 20. Jahrhunderts widerspiegeln. Der ehemaligen Synagoge in der Friedberger Anlage verleiht eine Virtuell-Reality-Brille frappierende Gegenwartsnähe. Setzt man sie auf, verschmelzen Realität und Imagination. Plötzlich findet man sich in einer Bankreihe wieder und ist fast versucht, die Hände auf das Holz zu legen, sieht das Sonnenlicht durch die Fenster fallen, steht dicht vor dem Toraschrein oder sitzt auf der Frauenempore mit Blick in den riesigen Synagogenraum.

Gegenüber den Projektionen liegen Bücher über die jeweilige Synagoge und die Vertreibung und Ermordung der Juden während der NS-Zeit aus, fasst eine Stelltafel das charakteristische der Gemeinde und das Schicksal ihrer Mitglieder zusammen. Nicht zuletzt machen interaktive Bildschirmpräsentationen mit dem Prozess der Rekonstruktion vertraut. Auf Pinnwänden ist die vielschichtige und aufwändige Arbeit umrissen, die der am Fachgebiet Digitales Gestalten der TU Darmstadt lehrende Marc Grellert und etwa 80 Studierende über Jahre hinweg geleistet haben. Allein in der Pogromnacht wurde nach Wissen des Digitalexperten „etwa die Hälfte der deutschlandweit rund 3000 Synagogen beschädigt beziehungsweise zerstört“.

Die Idee der virtuellen Rekonstruktion kam ihm nach dem Brandanschlag, den Rechtsradikale 1994 auf die Synagoge in Lübeck verübten. Da war der heute 58-Jährige noch Student. Nachdem in einem Uni-Seminar zunächst die drei Frankfurter Synagogen Börneplatz, Friedberger Anlage sowie die Hauptsynagoge in der ehemaligen Judengasse rekonstruiert worden waren, legten die Beteiligten 2000 das Konzept der Ausstellung vor. Bereits in Israel, Kanada und den USA gezeigt, ist sie nun in Frankfurt verortet. Neben dem zentralen Kern „Rekonstruktion“ umfasst sie noch weitere Bereiche. Eingeleitet mit der Geschichte jüdischer Sakralarchitektur vom Tempel in Jerusalem bis zu den Bauten im 20. Jahrhundert, folgt der Bereich „Wahrnehmung“, wo dunkle Plexiglasstelen die von 1933 bis 1938 erlassenen Verordnungen und Gesetze gegen Juden vergegenwärtigen. Im anschließenden Bereich „Eskalation“ sind mehr als 1000 Städte aufgelistet, in denen Synagogen in Brand gesetzt und verwüstet wurden – begleitet von Originalaufnahmen des Geschehens.

Im Kernbereich „Rekonstruktion“ werden die digitalen Bilder und animierten Kamerafahrten von Filmdokumentationen ergänzt. Hier kommen unter anderem Zeitzeugen und Repräsentanten jüdischer Gemeinden sowie am Projekt beteiligte Studierende und Lehrende der TU Darmstadt zu Wort. Überdies werden die nach 1945 neu errichteten Synagogen sowie Szenen aus dem heutigen jüdischen Leben gezeigt. Die große Bandbreite der vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, dem Kulturamt Frankfurt, der Stiftung Polytechnische Gesellschaft, der Stiftung Citoyen sowie vielen privaten Spendern geförderten Ausstellung lag Marc Grellert auch angesichts der aktuellen Entwicklungen am Herzen. Selbst Mitglied der Initiative 9. November will er mit dem Sichtbarmachen zerstörter Synagogen für wachsenden Antisemitismus, rechte Gewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung von Minderheiten sensibilisieren. Überdies versteht er das Projekt als Beitrag zum Gedenken an die Shoah.

Die Ausstellung „Synagogen in Deutschland – Eine virtuelle Rekonstruktion“ ist im Hochbunker, Friedberger Anlage 5-6, von Mai bis Ende November mittwochs von 17 bis 19 Uhr und sonntags von 11 bis 14 Uhr geöffnet. Für Gruppen sind Führungen nach Vereinbarung möglich.
Weitere Informationen unter https://initiative-neunter-november.de/ oder Email:

Eröffnung der Ausstellung „Synagogen in Deutschland – eine virtuelle Rekonstruktion“  | © Foto: Initiative 9. November e.V.

Letzte Änderung: 28.04.2022  |  Erstellt am: 26.04.2022

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