Stichproben sind wichtig für die Revolution

Stichproben sind wichtig für die Revolution

Neue Katalogbücher über Joseph Beuys
Joseph Beuys in Düsseldorf | © wikimedia commons

Man könnte meinen, nahezu alles ist über Beuys gesagt und gedruckt worden, erst recht, nachdem vor zwei Jahren sein 100. Geburtstag gefeiert worden ist. Doch laufend gibt es Neuerscheinungen. Ein vergriffener Bildband, der sich mit Beuys‘ USA-Reise 1974 beschäftigt, erlebte im letzten Jahr eine Wiederauflage. Kürzlich erschienen ist ein prächtiger Katalog zu Beuys und Hessen, der einen multiperspektivischen Blick bietet. Isa Bickmann hat in die Bücher geschaut.

Der feine Leineneinband zeigt die eilig nach rechts laufende Gestalt des Künstlers in schwarz-grauer, verschwommener Abbildung, als habe Gerhard Richter eine Fotovorlage in Malerei umgesetzt. Unverkennbar ist es Joseph Beuys, mit langem Mantel, Fellkragen und Hut. Seine Füße schweben in der Luft, er eilt geradezu tänzerisch vorwärts, der Hintergrund ist vollkommen verwischt. Die dynamische Bewegung scheint die Schnelligkeit eines künstlerischen Lebens und die Flüchtigkeit des Moments zugleich auszudrücken.
Den Einführungstext schrieb Klaus Staeck, der im Januar 1974 gemeinsam mit Gerhard Steidl, in dessen Verlag der Bildband erschienen ist, mit Beuys eine Reise in die USA antrat. Beuys war inzwischen ein bekannter Künstler, seine jüngeren Begleiter Staeck 35 und Steidl 23 Jahre alt. Es war für alle die erste Begegnung mit dem Land. Bis kurz vor der Abreise schien es nicht sicher, dass Beuys sein Visum erhalten würde. „Sympathisantentum“ lautete der Verdacht. Eine lange Befragung musste der Künstler dann bei der Einreise über sicher ergehen lassen. Natürlich wussten die Grenzkontrolleure mit der Auskunft, er sei „Social Sculptor“ nichts anzufangen, erzählt Staeck.

Beuys zeigte bei diesem USA-Besuch keine Ausstellung, sondern gab Lectures über seine Idee von „Sozialer Skulptur“ in überfüllten Sälen in der New School in New York, an der School of the Art Institute of Chicago und am Minneapolis College of Art and Design. „Ich habe Beuys nie so viel lachen gehört wie auf dieser Tour durch Amerika“, erinnert sich Staeck. Hunderte Fotos und viele Stunden Tonband- und Videomaterial kamen zusammen. Das Buch, 1987 erstmals in der Heidelberger Edition Staeck mit einem Ausschnitt des Fotos vom rennenden Beuys auf dem Cover erschienen, hatte der Künstler noch mitgeplant, indem er die Auswahl und Reihenfolge der Bilder festlegte.

Die nun bei Steidl erschienene Neuauflage des vergriffenen ersten Drucks besticht in gewohnter Verlags-Qualität mit griffigem, ungestrichenem Papier höherer Grammatur. So macht das Blättern durch die ikonischen Bilder Spaß: zum Beispiel Beuys mit Waschlappen im Gesicht und Hut, der bekannten Angler-Weste und überbelichtetem Hemd im Flugzeug. Das Motiv wird mehrfach wiederholt, mal rauschiger, mal mit besserem Kontrast, auch am Ende des Buches noch einmal – Beuys seriell wie ein Warholscher Siebdruck in Schwarz-Weiß. Dann der Zollbeamte, Beuys’ Tasche durchsuchend. Die einsame Gestalt in Schnee gesäumten Straßen und Seiten später ohne Hut mit über den Kopf gekämmten fettigen Haaren, während des Signierens des Multiples „Noiseless Blackboard Eraser“.
Im New Yorker Museum of Modern Art sieht man Beuys vor Georges Seurats „Un dimanche après-midi à l’Île de la Grande Jatte“ stehen: Ist ein größerer Kontrast innerhalb der bildenden Kunst vorstellbar? Vielleicht mag man darin auch die Bereitschaft des Künstlers lesen, sich auf den Widerspruch einzulassen.

Ebenfalls von hinten ist Beuys im Angesicht des riesigen fotorealistischen Porträts „Susan“ von Chuck Close zu sehen. Man möchte glatt in den Hinterkopf hineinsehen können, um seine Gedanken zu lesen. Die Folgeseiten zeigen immer wieder Beuys dozierend vor den Zuhörerinnen und Zuhörern. Dazwischen bietet sich, bildlich Assoziationen und Gedankensprünge liefernd, ein Blick auf die (pop-)kulturellen Eigenarten des Landes wie der laufende Fernseher, auf dem stapelweise das oben erwähnte Multiple liegt.
Raum nimmt das „Biograph Theater“ in Chicago ein. Hier sah der zum „Staatsfeind“ erklärte Bankräuber John Dillinger am 22. Juli 1934 einen Gangsterfilm und wurde dann vor der Tür des Kinos von FBI-Agenten niedergeschossen. Staeck und Steidl drehen einen Sekundenfilm mit Beuys, der die Flucht und Erschießung Dillingers nachstellt und später als Multiple erschienen ist, das heute zu einem vierstelligen Betrag angeboten wird. Das Bild des rennenden Künstlers auf dem Titel, aufgenommen übrigens von Gerhard Steidl, bezieht sich auf diese Performance. Beuys verspürte in Dillingers Biographie eine „Energie“, auf die er Wert legte und die auf seinen erweiterten Kunstbegriff abzielte.

Leider gibt es keine Bildlegenden der von Staeck und Steidl geschossenen Fotografien. Nur Informierte wissen, dass Beuys mit Douglas Davis, dessen damaliger Newsweek-Bericht über den deutschen Besuch am Ende des Bandes abgedruckt ist, und Nam June Paik in der Galerie Ronald Feldman Fine Arts in New York ein Podiumsgespräch führte. Die Galerie hatte die Tour organisiert. Auch den Beuys-Meisterschüler Blinky Palermo auf einem der Bilder wird nicht jeder erkennen. „Beuys in America“ ist also eher als reines Bilderbuch zu nutzen. Aber wahrscheinlich wurde ohnehin davon ausgegangen, dass es wie auch die anderen Beuys-Publikationen des Verlags, die mit diesem Band erscheinen sind, eher eine Kennerschaft anspricht.
Mit Kritik an Amerika hielt er sich zurück, aber es sei nicht seine letzte Reise in die USA gewesen. Dies seien „Stichproben“, er möchte weitere nehmen, denn „Stichproben sind nämlich wichtig für die Revolution“, erklärte er Klaus Staeck. Dieses Interview ist im am Ende des Bandes nachzulesen. Ein paar Monate später, im Mai des Jahres 1974, führte Beuys den Tanz mit dem Kojoten in den neuen New Yorker Räumen des Galeristen und Freundes René Block auf, wobei er sich hier vor jeglichem Blick auf Amerika mit Filz abschirmte.
Die zum größten Teil in Schwarz-Weiß entstandenen Bilder bestechen durch grobe Körnung, was Flüchtigkeit und Flucht, Bewegung und Revolution, aber auch Stille, Schweigen und Rede, tagebuchartig abbildet. Das Serielle, die Wiederholung ist Bestandteil dieses Blickes. Es gibt nur wenige Farbbilder. Diese wirken wie dokumentarische Einschübe inmitten spontaner Eindrücke. Korrespondenzen im Nebeneinander von zwei Buchseiten erscheinen narrativ gesetzt, aber ohne Schlüssel. Das macht den Reiz der Bildfolgen aus.

Auch für Nichtkenner bietet sich dagegen der von der Hessischen Kulturstiftung, ihrer Geschäftsführerin Eva Claudia Scholtz und der freien Editorial Managerin Kristina Hinrichsen konzipierte Band „Beuys in Hessen“ an, denn hier hat man sich die ganze Bandbreite der Rezeption, Werkpräsentation, Zeitzeugnisse, Dokumentation und Analyse der Beuys’schen Präsenz in Hessen vorgenommen. Unzählige Male war Beuys in Hessen, nicht nur in der Documenta-Stadt Kassel. Auch sind Werkkomplexe in Darmstadt, Kassel und Frankfurt beheimatet. Zwischen den Texten des Bandes wurden immer wieder Foto-Strecken eingebunden, beispielweise von Barbara Klemm, die Beuys in Darmstadt beim Aufbau des „Blocks“ und im überfüllten Frankfurter Kunstverein beobachtete. Ihre in Berlin und beim Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe aufgenommenen Bilder verlassen allerdings hier die Stringenz des Gesamtkonzepts. Weitere Beuys begleitende Fotografien stammen von Hans Albrecht Lusznat, Camillo Fischer und Dieter Schwerdtle.
Kurzweilig erzählt René Block von der Entstehung des „Rudels“, das sich heute in der Sammlung der Neuen Galerie in Kassel befindet. Er hatte es für den damals überteuerten Preis von 110.000 DM auf dem Kölner Kunstmarkt (der heutigen Art Cologne) angeboten. Der hohe, aber an internationale Positionen anschließende Betrag war für Block eine „kulturpolitische Setzung“.

Seit kurzem ist „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ im Frankfurter MMK endlich wieder sichtbar. Viel ist über die Installation schon geschrieben worden. Im Buch komprimiert und aktualisiert der langjährige Kurator des Frankfurter MMK, Mario Kramer, die Interpretationen.
Während die Schriftstellerin Felicitas Hoppe eine persönliche Meditation auf Beuys‘ Kasseler Werk liefert, schreibt Fayer Koch Briefe an Beuys und thematisiert darin die langjährigen Anwürfe, dass sich der Künstler nie von völkisch-reaktionärer Gesinnung distanziert habe und sein Sammler Karl Ströher, der den „Block Beuys“ kaufte, ein Profiteur des Nazi-Regimes war. Ein kluger Beitrag des Kunsthistorikers Philip Ursprung, der zu den lesenswertesten des ganzen Bandes gehört, rückt hier einiges hinsichtlich der Person des Künstlers in ein neues Licht. Die Vitrine „Auschwitz Demonstration“ ist Teil des „Block Beuys“ und enthält Modelle seines 1958 für ein Auschwitz-Mahnmal auf dem Gelände des Lagers entstandenen Wettbewerbsbeitrags. Diese Aufgabe, so Ursprungs These, führte ihn zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Holocaust und zu einer Arbeit, die das „kollektive Gedächtnis“ ansprach. Die oft genannte persönlichen Krise 1959, die zur Änderung im Werk Beuys geführt haben soll, ersetzt Ursprung mit Beuys Auseinandersetzung mit dem Holocaust, mit der er sich aus der posttraumatischen Depression als Folge der Kriegserfahrungen geholt hat. Dass Krisen als zugehörig zur Mythologisierung von Künstlerbiografien dargestellt werden, hier muss man nur auf Beispiele im 19. Jahrhundert schauen, ist grundsätzlich zu hinterfragen. Deren Basis liegt in der „Behauptung, dass schöpferische Innovation letztlich in Krankheit wurzle und degradiert Kunst zum Symptom.“ (S. 124) Doch noch bleiben viele Fragen hinsichtlich Beuys‘ Haltung offen.
Lebendig ist das Gespräch mit der aus Südafrika stammenden Künstlerin Shelley Sacks, wie überhaupt die Varianz an Textarten aus Dialog, Erinnerung, literarischer Form und kunsthistorischem Beitrag den Reiz des Bandes ausmachen. Der Beuys-Sammler Ludwig Rinn kommt zu Wort, porträtiert wird der Wiesbadener Sammler und Editor Michael Berger.
Im letzten Drittel gibt es eine wunderbare Fotostrecke von Michael Gärtner, die sich den 7000 Eichen widmet, so wie diese inzwischen in Kassel gediehen sind. Heute verspürt man Dankbarkeit für Beuys Idee einer „Stadtverwaldung“, wenn man an einem sehr heißen, klimakrisenhaften Sommertag vor dem Fridericianum in Kassel Schatten sucht und diesen unter einem der beiden Beuys-Bäume findet. „Ökologische Weltverbesserung“ nennt es Harald Kimpel in seinem Text. Bei Umsetzung und Finanzierung des Projektes als auch bei den Nachfolgekosten gab es immer wieder Krisen. Das kann man in Martin Grohs Beitrag nachlesen und ist überrascht, dass zu den Spendern auch der frühere Bundeskanzler Kohl gehörte. Man fühlt sich an heutige Zeiten erinnert, wenn man von den damaligen Protesten der Autofahrer-Fraktionen für mehr Asphalt und gegen Eichen liest. Immer wieder kam es deswegen zu Vandalismus. Dieser Teil des Buches macht deutlich, dass Beuys hier ein nachhaltiges Projekt von soziokultureller Wirkung gelungen ist. Eine soziale Skulptur par excellence! Für oder gegen Beuys, was die siebziger Jahre beschäftigte, kann an dieser Stelle keine Frage mehr sein.

Letzte Änderung: 15.11.2023  |  Erstellt am: 15.11.2023

Joseph Beuys in America | © wikimedia commons

Klaus Staeck, Gerhard Steidl (Hg.) Joseph Beuys in America

Herausgegeben von Klaus Staeck und Gerhard Steidl
224 Seiten, 187 Abbildungen

Fester Einband / Leineneinband
21 × 29.7 cm
Deutsch / Englisch
ISBN 978-3-95829-913-9
Steidl, Göttingen 2022

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Four Books in a Box | © wikimedia commons

Gerhard Steidl, Klaus Staeck (Hrsg.) Four Books in a Box

Beuys in America, Das Wirtschaftswertprinzip, Periphery Workshop, Honey is flowing in all directions
224 Seiten, 187 Abb., geb. im Schuber
ISBN-13: 9783969990988
Steidl Verlag, Göttingen 2022

Der Band ist auch Teil einer auf 900 Stück limitierten Edition mit einer von Gerhard Steidl signierten und limitierten Fotografie des rennenden Beuys im Schuber. Zusammen mit dem „Wirtschaftswertprinzip“, Honey is flowing in all directions“ und „Periphery Workshop“ zur documenta 6 1977.

https://steidl.de/Buecher/Four-Books-in-a-Box-0110141843.html

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Beuys in Hessen | © wikimedia commons

Hessische Kulturstiftung, Claudia Scholtz (Hrsg.) Beuys in Hessen

Ein Lesebuch
256 S., 256 Seiten mit 105 farbigen und 111 s/w Abb.. geb.
Beiträge von René Block, Martin Groh, Mechthild Haas, Kristina Hinrichsen, Felicitas Hoppe, Angeli Janhsen, Harald Kimpel, Fayer Koch, Mario Kramer, Gabriele Mackert, Christoph Otterbeck, Dörte Schmidt, Philip Ursprung
ISBN-13: 9783868326666
Wienand Verlag, Köln 2023

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