Im Frankfurter Museum für Kommunikation wurde am 25.04.2024 eine umfassende Werkschau des Zeichners und Malers Volker Reicher eröffnet. Dort gibt es neben den frühen Donald Duck Zeichnungen, Mecki, dem Strizz oder Reiches liebenswerten Karikaturen auch eine ganz andere Seite zu sehen. Unter dem Titel „Killing is fun“ beispielsweise versammeln sich apokalyptische Höllen-Szenarien in Anlehnung an Hieronymus Boschs „Inferno“. Wir bedanken uns bei Andreas Platthaus, Literatur-Chef der FAZ, dass er uns seine geistreiche Eröffnungsrede über das Werk Volker Reiches zur Verfügung gestellt hat. Diese beginnt mit einem Zusammenspiel von Leben und Comic der besonderen Sorte, wenn Andreas Platthaus mit den Worten öffnet, mit denen Reiche eine Zeichnung Platthauses selbst untertitelt hat: „Derjenige, den Sie jetzt vor sich sehen, nimmt, wie wir hier aus berufener Zeichenfeder informiert werden, den Mund gerne voll: „Sie werden alles erfahren! Über alles!“
Derjenige, den Sie jetzt vor sich sehen, nimmt, wie wir hier aus berufener Zeichenfeder informiert werden, den Mund gerne voll: „Sie werden alles erfahren! Über alles!“ Nichts Geringeres habe ich tatsächlich heute Abend vor, aber seien Sie unbesorgt: Sie kommen vor Mitternacht nicht nur hier wieder heraus, sondern sogar in die Saalfluchten hinein, die auf zwei Ebenen dieses Hauses in nie dagewesener Vollständigkeit das Werk von Volker Reiche würdigen. Eines Mannes, der seine Figuren den Mund gerne voll nehmen lässt – denn was wäre mein projiziertes Alter Ego anderes als die Wunscherfüllung seines Zeichners, der seine Sprechblasen, wie Sie sich nachher überzeugen lassen werden oder es ohnehin längst wissen, bis zu einer Intensität füllt, die in der Comicgeschichte kaum ihresgleichen hat. Edgar Pierre Jacobs könnte man vielleicht nennen. Oder Robert Crumb in seinen glossolalischsten Momenten – nein, dieses Beispiel ist unfair, nehmen wir (Bild 4) etwas Harmloseres (harmloser, was den Textumfang, nicht was den Textinhalt angeht) und doch allemal noch für Crumb Typisches. Aber da kann sein Kollege Reiche mithalten. Für ihn gilt, untypisch kurz gesagt: Wes Herz voll ist des Mund geht über. Volker Reiche hat’s nicht nur mit den Comics, sondern auch mit den Klassikern, und Luther ist gewiss der Größte, den wir hierzulande haben. Immerhin legte er die deutsche Sprache Gott persönlich in den Mund, bei Volker Reiche hat es immerhin noch für einen Kater gereicht..
Nun aber genug mit dem kleinen Mundvoll zu Beginn, wie wir mit einem weiteren Klassiker sagen könnten. Schauen wir lieber einmal achtzehn Jahre zurück. Damals zeigte das Museum für Kommunikation schon einmal eine Volker-Reiche-Ausstellung, und schon damals hatte ich das Privileg, die Eröffnungsrede halten zu dürfen. Deren Thema war seinerzeit die Lautmalerei, die zwar etwas anderes ist als die Großsprecherei, aber auch Lautmalereien können gehörigen Lärm machen. Dass ich dieses expressive Bild erst heute zeige, hat seinen simplen Grund darin, dass es 2006 hier im Museum nur um Volker Reiches Comicserie „Strizz“ ging, während dieser akustischer Exzess aus einem anderen seiner Werkkomplexe stammt: den Geschichten um Willi Wiedehopf. Dass ich sie kaum minder schätze als die für meinen Arbeitgeber, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ entstandenen „Strizz“-Folgen, hat seine Ursache in einer zweiten lebensweltlichen Parallele neben unserer Freude an Redseligkeit: Wir sind beide Donaldisten, und diese Leidenschaft hört man Volker Reiche nicht nur an, sondern kann sie seinen Figuren abschauen.
Das werden Sie heute auch noch in der Ausstellung sehen, wenn Sie es mir nicht jetzt schon glauben, denn der wie aus Entenhausen entsprungene Willi Wiedehopf zählt zu den prominenten Figuren, die dieses bald achtzigjährige Zeichnerleben hervorgebracht hat und die entsprechend Platz in der Retrospektive gefunden haben. Denken Sie aber nur nicht, dass Sie alles sehen können, was Volker Reiche sich ausgedacht hat, deshalb müssen Sie ja mir jetzt zuhören. War übrigens jemand von Ihnen auch schon vor achtzehn Jahren dabei? Keine Sorge, Sie werden sich nicht langweilen, denn was ich Ihnen heute unter anderem vorführen möchte, ist das, was vor achtzehn Jahren themenbedingt fehlen musste: das Restwerk, das ein Riesenwerk ist. „Statt Strizz“ gewissermaßen, und das in der Strizz-Stadt Frankfurt. Wobei es auch für „Strizz“-Exegeten unentbehrlich ist, sich dem Restriesenwerk des Volker Reiche zuzuwenden, denn in „Strizz“ steckt alles drin, was vorher war. Und mutmaßlich auch das, was noch kommen wird. Aber was man noch nicht sehen kann, darüber muss man schweigen. Stattdessen sei als Beleg für die Kulmination des reicheschen Gesamtschaffens in „Strizz“ ein gewisser Herr Leo angeführt, der seinen ersten Auftritt bereits mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte, ehe Volker Reiche ihn dann als den Firmenchef vorstellte, den wir alle kennen. Zuerst jedoch war Herr Leo Psychoanalytiker (den einige von uns auch real kennen könnten). Ich füge hier ein Dokument aus den Notizbüchern des Künstlers an, das belegt, dass sich Herr Leo im Gegensatz zu seinem Angestellten Strizz von den ersten Entwürfen zur Zeitungsserie bis zu deren Abdruck kaum verändert hat – logisch, er war ja auch schon in der Welt.
Oder nehmen wir, als ein anderes Beispiel, eine Szene aus einer „Mecki“-Seite des Jahres 1989. Da haben wir bereits mehr als ein Jahrdutzend vor „Strizz“ einige der Protagonisten aus Rafaels Stofftiermenagerie, im Falle von Herrn Krock sogar bereits ein Äquivalent zu dessen aufgeblähtem Spätzustand nach einer missglückten Waschaktion. Kenner werden wissen, wovon ich spreche.
Und sie werden auch „Snirks Café“ kennen, jenes Zwischenspiel aus dem Jahr 2014, als Volker Reiche „Strizz“ in der Zeitung zwar schon wieder aufgegeben, aber noch längst nicht aus unser aller Köpfe bekommen hatte, weshalb er auf inständiges innerredaktionelles Bitten und ausgiebiges außerredaktionelles Barmen für einige Monate ein Spin-off seiner Erfolgsserie veranstaltete: eben „Snirks Café“, in dem der Titelheld, den mit dem allseits bekannten Strizz nicht nur die Namensassonanz verband, sondern auch eine gewisse physiognomische Ähnlichkeit (und, wie Sie sehen können, ein postrafaelitischer Neffe namens Julian), eine Geschäftsidee entwickelte, die ihn schließlich bis in die Karibik führen sollte. Hier sehen wir ihn aber noch daheim in Frankfurt – es handelt sich um ein Panel der sechsten, also noch sehr frühen Folge – und zwar im Moment der Namensgebung seines Start-up-Unternehmens, die sich, wie wir lesen können, der snirkschen Erinnerung an einen Science-Fiction-Comic aus einem Blatt namens „Zebra“ verdankt. Nur eingefleischte Reiche-Fans werden wissen, dass es dieses Comic-Magazin tatsächlich gibt und dort jener Science-Fiction lief, der Snirk so beeindruckt haben muss. Auch dazu habe ich den Bildbeleg.
Allerdings ist diese Farbversion ein Auszug aus einem Band, denn nun nicht einmal die eingefleischtesten Reiche-Fans kennen können, weil er nie erschienen ist. Er wurde 2001 zusammengestellt, als es galt, eine Durststrecke des Künstlers zu überwinden: Nach fünfzehnjähriger Arbeit für die Programmzeitschrift „Hörzu“ an deren Comicserie „Mecki“ war Reiche gefeuert worden, und von „Strizz“ war da noch keine Rede, also wurden in der nunmehrigen freien Zeit gute alte Geschichten noch besser gemacht. Dabei kann man dann auch gleich einen Vorläufer für Kater Paul aus „Strizz“ bestaunen.
Zugleich aber hatte der Künstler auch wieder einmal Muße für etwas, das bislang bei ihm zu kurz gekommen war und bei mir bisher zu kurz gekommen ist in meinen Ausführungen über alles, was Volker Reiche angeht: die Malerei. Nicht die Laut-, sondern die echte Malerei. Wie es der Titel unserer Ausstellung verheißt und Ihnen im Obergeschoss dann auch konkret vor Augen geführt werden wird: „Volker Reiche – Comiczeichner & Maler“.
Beide produzieren Bilder. Aber die Bilder eines Malers sind uneindeutig, denn sie brauchen im Gegensatz zu Volker Reiches Comics keine Worte, weil die Malerei des Künstlers auf sich wechselseitig überlagernde Bilder setzt, also auch ein sequentielles Prinzip, beruhend auf Urbildern und Abbildern. Das ist noch ganz ähnlich wie bei „Strizz“, aber nehmen wir ein Gemälde wie „La muerte patetica“, um uns klarzumachen, was die beiden Ausdrucksformen unterscheidet. Urbild ist hier Robert Capas Fotografie eines Sterbenden im Spanischen Bürgerkrieg, von dem allerdings niemand weiß, ob er damals tatsächlich gestorben ist. Doch berühmter ist niemand im Augenblick – oder besser: Augenschein – seines Todes geworden, und so ist sein Gliederspiel, das man sich eher auf einem Kanapee vorstellen könnte als auf dem Schlachtfeld des Spanischen Bürgerkriegs, zu einer Konstellation geworden, die aus allen Kontexten gelöst werden kann, ohne dabei ihre Botschaft einzubüßen, die Rudolf Borchardt vergleichsweise eindeutig in folgende Worte gefasst hat, deren Kenntnis ich meinem Kollegen Dietmar Dath, auch er ein großer Reiche-Exeget, der von allem was versteht, verdanke: „Lass die Waffen, letzter Held, / aus den letzten Händen. / Die Geschicke dieser Welt / sind nicht mehr zu wenden.“
Wo Borchardt sprechen muss, um verständlich zu sein, ist Capas Foto im Original ein stummes Bild. Nicht einmal der Mund des Sterbenden ist offen. Dreifach schweigend fällt er auch im Gemälde „La muerte patetica“, das sich seiner Berühmtheit bedient. Doch dann tritt zwischen diese multiple Ausführung des Fallenden ein riesiger anderer Körper, der dieselbe Gelöstheit der Glieder vorführt, doch in allem sonst das Gegenteil von Capas Motiv darstellt: nackt statt bekleidet, in Rückenansicht gegeben statt frontal, den Kopf zurückgeworfen, den linken Arm erhoben, den rechten eng an den Körper geführt, den Schädel kahl, den Mund weit geöffnet. Und aus diesem Mund heraus ragt eine spitze rote Zunge, die ein quadratisches Zeichen freigegeben hat, das nun zwischen Hand und Kopf im Raum schwebt. Ein Schriftzeichen? Nein, eine Chiffre.
Weil die Botschaft chiffriert ist, verschlüsselt. Wird also doch gesprochen in diesem Gemälde? Aber wenn dem so wäre, was sagte das uns? Dieses winzige Symbol ist das Rätsel im Rätselbild „La muerte patetica“. Ist es Signatur, Siegel, Sprechblase? Wie steht es um etwas, das wir sehen, aber nicht entziffern können? Was will der rücklings Sterbende in der sonstigen Totenstille uns damit sagen? Oder handelt es sich nur um ein winziges Objekt, das seiner nunmehr schlaffen Hand entfallen ist? Viele Fragen vom Betrachter, keine Antwort vom Maler. Das ist der Unterschied zum Comic, in dem Geschichten erzählt werden, und Geschichten brauchen Verständlichkeit.
Zeichen wie das von dem Sterbenden in unserem Gemälde ausgehende sind Legion in dem Bilderzyklus „Friendly Fire“, den Volker Reiche vor mehr als zwanzig Jahren begonnen hat, als man ihm unfreundlich gekündigt hatte. Schon auf den frühesten Bildern daraus, auf „Good Ol Acid Gun“ oder „Collateral Damage“, finden sich ähnlich enigmatische Symbole wie auf dem ein Jahrzehnt jüngeren „La muerte patetica“. Sie alle sind so etwas wie eine Signatur, aber es ist nicht die des Malers. Sie sind ein Zeichen für das, was unverständlich bleiben muss an diesen Bildern, die sich dem widmen, was Menschen unverständlich macht. Es sind die Zeichen der unsere Existenz grundierenden Gewalt.
Der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch auf seiner Bahn. Die Schrift an der Wand wäre besser ungelesen geblieben, denn selbst wenn dadurch das Schicksal Belsazars keine andere Wendung genommen hätte, wäre er doch zumindest darum herumgekommen, sehenden Auges in seine düstere Zukunft zu gehen. Je mehr Schleier vor unserem Dasein liegen, desto weniger verspüren wir den Tod. Und desto leichter lebt es sich. Deshalb ist die Mystifizierung der Bilder aus „Friendly Fire“ durch die ihnen beigegebenen unleserlichen Inschriften ein höchst humaner Akt. Anders als das übrigens, was die Bilder zeigen. Aber Eindeutigkeit ist eben nicht herstellbar, wo der Verständnisanspruch des Comics geopfert wird. Oder der Wahrheitsanspruch der Fotografie.
Es gibt noch andere berühmte Figuren in Reiches malerischem Werk. Hier haben wir zwei solche Akteure – oder eigentlich sogar drei, aber der dritte ist uns denn doch unbekannt, weil das, was der aus „Strizz“ vertraute Kater Herr Paul gemalt hat und dem Nachbarhund Tassilo präsentiert, nicht einfach ein Abbild seiner selbst ist, sondern ein Wunschbild: Paul als Bestie. Kein Wunder, dass der Pinsel des Malers im Gemälde noch blutrot tropft. In diesem Motiv liegt eine selbstironische Aussage – nicht von Seiten des Katers Paul natürlich; der ist unzugänglich für derartiges. Nein, wir sehen hier gerade mit dem Wissen um die martialischen „Friendly Fire“-Bilder, in denen nicht selten auch Figuren auftreten, die die Züge Volker Reiches tragen, in der Leinwand auf der Leinwand ein verschlüsseltes Selbstporträt des eigentlichen Malers. Dass man gewisse Identifikationsmomente zwischen ihm und seinem Kater aufspüren kann, ist dem Publikum von „Strizz“ schon immer klar gewesen. Hier offenbart sich im malerischen Ehrgeiz der Gleichklang zweier abenteuerlicher Herzen, die sich gern gefährlich geben. Volker Reiches Gemälde sind ein Korrektiv zur Zugänglichkeit von „Strizz“ und den anderen Comics.
Ein Charakteristikum dabei ist die Stille des porträtierten Schreckens: Leise- statt Lautmalerei. Wobei es auch im Comicschaffen Stille gibt, allerdings steht sie dort für Harmonie. Da existiert ein Moment in „Snirks Café“, der außergewöhnlich ist, weil der Comicstrip schweigt. Es ist die zwanzigste Episode und die erste ohne die redselige Hauptfigur Kilian Fischer alias Snirk, aber vor allem ist es eine Episode ganz ohne Worte. Und das will bei Volker Reiche etwas heißen. Nicht, dass es keine weiteren Beispiel für Stummcomic-Kunst bei diesem Erzähler gäbe, aber wenn wir uns zwei Beispiele aus relativ frühen „Strizz“-Tagen anschauen, dann sind darin doch immer nur einige Bilder still, und am Ende wird doch wieder geredet. Nicht so in der einmaligen Szene aus „Snirks Café“: Auftritt für Kurti, einen grundgütigen schwergewichtigen Rentner, der keine Lust zu sprechen hat. An einem schönen Tag geht er mit dem Rollator spazieren und beschert einem kleinen Vogel ein neues Nest. Soweit so wenig. Vor allem so wenig typisch für Volker Reiche. Und doch so reich. Reich an Charakterisierung dieser bemerkenswerten Nebenfigur Kurti, die kein Vorbild in der Comic-Historiographie kennt, obwohl sie doch die ideale Comicfigur ist, weil sie sich allein über Zeichnungen ausdrückt. Reich aber auch formal, weil hier auf dem knappen Platz einer täglich erscheinenden Fortsetzungsfolge die Möglichkeiten einer Seitenarchitektur vorgeführt werden, die durch den ständigen Wechsel von ungerahmten und gerahmten Panels die Lektüre so rhythmisiert, als läsen wir eine Partitur. Und reich vor allem, weil die Stille des schönen Frühlingstags als Zäsur in der Serie fungiert: Durch die kurzfristige Stillstellung der ansonsten stets ausufernden Ausführungen ihres Protagonisten wird Atem geschöpft für die entscheidende Wendung der Geschichte, die aus dem Alltagsgeschehen ein Abenteuer machen wird, das Snirk aus Frankfurt nach Curacao führt und von der Existenzgründung zum Voodoo (na ja, als ob das so verschieden wäre).
In dieser Episode, erschienen am 18. März 2014 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, zeigt sich die ganze Meisterschaft des Comiczeichners und -erzählers Volker Reiche. Deshalb muss man um sie auch gar keine großen Worte mehr machen, man muss einfach nur hinsehen. Wie Reiche da die Figur anschneidet oder drei Bilder lang nur ein Werkzeug in den Blick nimmt, das zeigt die ganze Erfahrung eines Künstlers, der seit vierzig Jahren zu den Großen seines Metiers in Deutschland zählt. Wobei es lange gedauert hat, bis er dafür auch den verdienten Ruhm geerntet hat. Denn Reiche folgte in seinen Anfängen, in den siebziger Jahren, dem Vorbild der amerikanischen Underground-Comics des deshalb auch bereits doppelt von mir eingeführten Robert Crumb, die ihn dadurch beeindruckten, dass sie sich all jenen Themen gewachsen zeigten, die zuvor als inadäquat für Comics galten: Politik, Gewalt, Sex, Drogen. Crumb machte den Comic als Erzählform im Alleingang erwachsen, aber das hatte seinen Preis: Bei den etablierten Verlagen waren solche Geschichten nicht unterzubringen, deshalb publizierte er sie anfangs auf eigene Rechnung oder in Zeitschriften, die seine Comics als politisches Statement schätzten.
Diesem Vorbild folgte Volker Reiche in Deutschland, als er mit „Hinz und Kunz“ ein eigenes unabhängiges Comicmagazin mitbegründete und in den Satireblättern „Pardon“ und „Titanic“ veröffentlichte. Auch darüber werden sie in der Ausstellung viel mehr erfahren. Und über Reiches Bewunderung für Crumb, dessen berühmteste Serie nicht zufällig ebenfalls einen Kater zum redseligen Protagonisten hat: „Fritz the Cat“, dessen Titelheld in seiner Gestaltung gemäß der zeichnerischen Ästhetik von Disney-Comics ein willkommenes Vorbild für Herrn Paul geliefert hat.
Doch Volker Reiches Interesse galt auch immer schon – und darin unterscheidet er sich von seinem Vorbild Crumb – dem Herz des Comicgeschäfts: jenen allgemein bekannten Serien, die von einem Millionenpublikum gelesen werden. Wenn Crumb zwar auch ein begeisterter Leser der Donald-Duck-Geschichten des Autors Carl Barks war, dachte er doch nie daran, selbst derartige Comics zu zeichnen, denn auch wenn Fritz wie eine Disneyfigur aussieht, benimmt er sich ganz anders – jedenfalls ganz gewiss nicht massentauglich. Reiche dagegen machte genau das: Er zeichnete nicht nur wie, sondern für Disney. Ende der siebziger Jahre erstellte er insgesamt sechs Duck-Geschichten für einen holländischen Verlag. Der Haken daran: Reiche blieb anonym, denn seinerzeit trugen noch alle Entenhausener Geschichten die Signatur des längst verstorbenen Walt Disneys, die als Markenzeichen galt. Aber Reiche lernte von der barksschen Dynamik, etwa den energischen Begrüßungsritualen der Familie Duck, denen er prompt eine ganze Willi-Wiedehopf-Episode widmete (vom bereits erwähnten disneyfizierten Aussehen Willis ganz zu schweigen). Oder der spezifisch spöttische Blick von Carl Barks auf die Produktionsweisen moderner Kunst, die Volker Reiche deutlich respektvoller, aber im Gestus klar als Reprise erkennbar, für die künstlerische Praxis von Strizz’ Gattin Irmi entlehnt hat. Nicht zuletzt erweist sich Reiche damit als treuer Frankfurter Schüler von Adornos „Ästhetischer Theorie“, hier von ihm explizit gemacht in „Manu und Saul“, einem Bauzauncomic für den Neubau des Jüdischen Museums. Auch wer wissen will, was es damit auf sich hatte, wird in dieser Ausstellung fündig.
Es hat etwas Verstörendes, dass just Adorno nichts mit Comics anfangen konnte – auch weil sie ihm zu gefällig schienen. Wir aber sehen nun etwas besser, woher dieser wunderbar gefällige runde Strich stammt, den Volker Reiche pflegt. Vervollkommnet hat er ihn noch mehr als an den lediglich sechs Donald-Duck-Geschichten durch die Arbeit an „Mecki“, die insgesamt mehr als zwanzig Jahre währte (mit der bereits erwähnten Unterbrechung, als man meinte, ihn feuern zu müssen, woraus erst „Friendly Fire“ erwuchs und dann „Strizz“ – worauf ihn die „Hörzu“ rasch reumütig zurückholte). Die dank „Mecki“ erworbenen graphischen und erzählerischen Fertigkeiten hatte Reiche so sehr perfektioniert, dass er im Januar 2002 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ jenen täglichen Fortsetzungscomic namens „Strizz“ anbieten konnte, dessen Abdruck dann schon drei Monate später begann. Der Rest ist deutsche Comicgeschichte. Acht Jahre lang, bis zum 31. Dezember 2010, erschien dieser Strip, er machte Reiche berühmt und brachte ihm nicht nur alle wichtigen Preise ein, die es für Comics in diesem Land zu gewinnen gibt, sondern vor allem die Begeisterung einer riesigen Leserschar, die „Strizz“ nach dessen Einstellung noch jahrelang nachtrauerte.
Deshalb und weil Reiche als ausgefuchster Comicmacher genau wusste, was man an derart beliebten Figuren wie dem „Strizz“-Personal hat, tauchte es auch immer wieder anderweitig auf: in „Manu und Saul“ etwa oder in „Snirks Café“, jeweils in Form von Cameo-Auftritten wie denen von Herrn Paul, dem Favoriten der Reiche-Leser. Andere Kollegen aus dem ursprünglichen Strip wie Omi Paula oder der Prekariats-Kater Wolle hatten auch entsprechende Rollen inne und sorgten dadurch dafür, dass beim Publikum der Nachfolgeprojekte die Erinnerung an „Strizz“ nicht einfach verblasste. Erinnerung ist nämlich ein zentrales Motiv von Volker Reiches Comics – inhaltlich, wie sein atemraubender autobiographischer Comic „Kiesgrubennacht“ 2013 bewiesen hat (über ihn zu sprechen, würde den Abend sprengen; schauen Sie sich das ihm gewidmete Kapitel in der Ausstellung an, und vor allem: Lesen Sie ihn!), und formal, wie man an der unmittelbar nach „Kiesgrubennacht“ entstandenen Serie „Snirks Café“ zeigen kann. Die sich dann wieder als Sprungbrett für mehrere kurzfristige „Strizz“-Wiederaufnahmen erwies, in denen umgekehrt das „Snirk“-Personal auftrat. Diese „Strizz“-Reprisen dürfen wir in größeren Abständen immer wieder genießen, als gezeichnete Begleitmusik zu großen Sportereignissen wie Fußballturnieren oder Olympia. Und so schließe ich meine Ausführungen über alles, was mit Volker Reiche zu tun hat, mit einem Ausblick auf den kommenden August, wenn in Paris die Olympischen Spiele anstehen. Und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die nächste Wiederaufnahme von „Strizz“. Nicht die letzte, wenn es nach mir geht. Sicher auch nicht die letzte, wenn es nach Ihnen geht. Und ganz gewiss nicht die letzte, wenn es nach Volker Reiche geht – wie ich von ihm weiß. Und ich weiß ja angeblich über alles Bescheid. Bescheiden ist das nicht. Aber das kann man ja auch gar nicht sein, wenn einem so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird wie von Ihnen. Danke dafür. Und danke an Volker Reiche.
Letzte Änderung: 08.08.2024 | Erstellt am: 26.04.2024
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