Marx oder Yoga

Marx oder Yoga

Olaf Nicolai auf der Mathildenhöhe Darmstadt
Olaf Nicolai | © Foto: Hans-Günther Kaufmann

Würde man WissenschaftlerInnen bitten, unterhaltsame Anekdoten aus ihrem Fach zu erzählen, erhielte man wohl Geschichten, wie sie von Olaf Nicolai aufbereitet werden, bewege sich durch die Wohnung des Literaturwissenschaftlers Mario Praz, begebe sich mit Foucault auf einen LSD-Trip ins Death Valley oder stöbere sich durch die Bibliothek einer römischen Galeristin. Isa Bickmann hat die Ausstellung des Wilhelm-Loth-Preisträgers im Museum Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe besucht.

Nichts ist je so schön explodiert wie die Villa Boulder Reign am Ende von Michelangelo Antonionis Film „Zabriskie Point“ aus dem Jahre 1970, der nach dem Ort im US-amerikanischen Death Valley benannt wurde. Mehrfach wird ihre Sprengung aus verschiedenen Kamerapositionen eingefangen (freilich war es nur ein Modell), und mit einsetzender Musik von Pink Floyd werden weitere Dinge in Zeitlupe in die Luft gejagt: Kleiderständer, Kühlschränke und anderes mehr. Olaf Nicolai zieht die legendäre Haussprengung in die Länge, unterlegt sie mit Robert Lippoks Gustav-Mahler-Variationen und spielt mittels dieser Collage auf die Ästhetik von Gewalt und Zerstörung an: „Und jedem Anfang wohnt ein Ende inne…“ (2001). Nicht von ungefähr kommt hier der Gedanke zu 9/11 und dem zunehmenden Verlust jenes Schreckens durch den eigenen tausendfachen Blick auf Abbildungen der explodierenden Zwillingstürme und zu Karlheinz Stockhausens berüchtigtem Kunstwerk-Vergleich.

Installationsansicht „Olaf Nicolai – A light vapour emanating from bound matter as spirits running, along“ Museum Künstlerkolonie, Mathildenhöhe Darmstadt | © Foto: Foto: Gregor Schuster, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Damit ist das Zabriskie-Point-Motiv aber noch nicht auserzählt. Nicolai selbst, so berichtet er, sei bei seinem Besuch des Death Valley 2008, wo die sogenannte „Orgienszene“ des Films gedreht worden ist, „wohl dort der einzige gewesen, der den Film überhaupt kannte“. Versehentlich ohne Lichtquelle ausgestattet, suchte der Künstler den tagsüber wegen seiner bizarren Naturschönheit hochfrequentierten Ort in nächtlicher Einsamkeit auf und musste auf die Blitzlichtfunktion des Mobiltelefons zurückgreifen, um sich zurechtzufinden. Es entstand eine 80-teilige Fotoserie von dem Drehort jenes „Love-in“, der Antonioni den Vorwurf „unamerikanischer Umtriebe“ einbrachte. Nicolai war nicht nur auf Antonionis Spuren, sondern auch auf denen Michael Foucaults. Der Philosoph fuhr 1975 nicht wegen Antonioni nach Zabriskie Point, sondern wegen der sensationellen Landschaft; sein Assistent Simeon Wade hatte ihn überredet. Es wurde Foucaults erster LSD-Trip. Wades Bericht darüber konnte erst 2019 veröffentlicht werden. Nicolai bat dessen Verlag, den Zabriskie Point betreffenden Textauszug anlässlich der Ausstellung „That’s a God-forsaken place; but it’s beautiful, isn’t it“ (Kunsthalle St. Gallen, 2018) nutzen zu dürfen. Auf sein Verwertungsrecht bedacht gestattete ihm der Verlag jedoch nur 250 Wörter. Statt aber nun einen Abschnitt herauszugreifen, markierte der Künstler einzelne Wörter und ließ den Rest des Textes mit verschwommenen Buchstaben unlesbar werden. Er führt die AusstellungsbesucherInnen nun auf eine Art „Lesetrip“. Diese drei über den Zeitraum von über zehn Jahren geschaffenen Werke spinnt Nicolai in ein komplexes Netz aus Filmgeschichte, Ortserkundung, Musik, Philosophenbiografie und Kapitalinteressen der Kulturwirtschaft. Die Recherchen vermittelt er über Film, Fotografien, Bild- und Textdokumente sowie der Anmutung eines Drogenrauschs bei der unmöglichen Lektüre einer Erinnerung an den Foucaultschen LSD-Trip.

Installationsansicht „Olaf Nicolai – A light vapour emanating from bound matter as spirits running, along“. Museum Künstlerkolonie, Mathildenhöhe Darmstadt | © Foto:  Foto: Gregor Schuster, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Ohne erläuternde Texte gibt sich die Einzelausstellung, die Olaf Nicolai anlässlich der Verleihung des Wilhelm-Loth-Preis 2018 erhält, an vielen Stellen nur bis zu einer Grenze zugänglich. Dieser Eindruck stellt sich bereits im Foyer des Museums Künstlerkolonie ein mit dem 2016 in Innsbruck durchgeführten Projekt, das Synästhesien thematisiert. Die Sängerin Noa Frenkel interpretierte Steine, reagierte mit ihrer Stimme auf deren abstrakte Muster, auf den darin liegenden Zufall und verschickte diese „musikalischen Zeichnungen“ als vertonte Postkarten an den Künstler. Man kann sich aber auch einfach nur auf die auf einem monumentalen Holzregal ausgestellten Steine einlassen, einen Kamerazoom auf deren Schönheit verfolgen und der Musik lauschen.

Installationsansicht „Olaf Nicolai – A light vapour emanating from bound matter as spirits running, along“. Museum Künstlerkolonie, Mathildenhöhe Darmstadt | © Foto: Foto: Gregor Schuster, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Im angrenzenden Ausstellungsraum wandert man durch eine dichte Abfolge von Projekten des Künstlers, eine retrospektiv angelegte Versammlung vornehmlich seiner Publikationen und Textarbeiten. Die Holzeinbauten lassen Teile der Jugendstilfenster des Hauses unverdeckt und sind somit deutlich als temporäre Installation sichtbar. Sie dienen zur Präsentation seines publikatorischen Tuns. Deutlich wird der Wert, den er diesem zugesteht: Typografie, Form, Farbe der Umschläge zeigen, wir haben es mit einem Freund des Buches zu tun. Nicolai ist promovierter Germanist. Die Sprache ist bei ihm ein Medium, eine Quelle, die er visuell und performativ aufbereitet, um blinde Flecken aufzudecken und ihre ganze Komplexität herauszulösen. Hinzu kommt Musik, die von ihm beauftragt als Reaktion auf Steine oder politische Ereignisse entsteht oder er dreht Filmszenen, die nie geschriebene Bauhausbücher thematisieren.

Installationsansicht „Olaf Nicolai – A light vapour emanating from bound matter as spirits running, along“. Museum Künstlerkolonie, Mathildenhöhe Darmstadt | © Foto: Foto: Gregor Schuster, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Heraus fällt gleich am Anfang die Arbeit „Blond“: In einer Kommodensituation stehen lauter Fotografien von Menschen mit blonden Haaren. Ein künstliches Blond, versteht sich, gefärbt in einem 2003 im Stadtzentrum von Tilburg in den Niederlanden eingerichteten temporären Friseursalon. Nicolai bot kostenlose Blondierungen durch eine ausgebildete Friseurin an, im Gegenzug durfte er die danach entstandenen Fotografien künstlerisch verwenden. Die Idee vom Geben und Nehmen von Persönlichem scheint geradezu prognostisch, wenn man bedenkt, dass man heutzutage vieles im Internet kostenlos nutzen darf, im Gegenzug aber seine Daten und Informationen über sein Surfverhalten großen Technologieunternehmen freigibt. Daneben hat das Blondsein eine politische Nuance, die sich kurz nach Ende des Projekts deutlich zeigen sollte: Der blondgefärbte Geert Wilders erlangte mit rechten, islamfeindlichen Parolen Popularität.

Kunsthistoriker und Romanisten kennen Mario Praz als Verfasser der „Schwarzen Romantik“, und Visconti diente er als Vorbild für den Helden in einem seiner letzten Filme, „Gewalt und Leidenschaft“. Der nur wenigen Eingeweihten bekannte Literaturwissenschaftler und Kunsthistoriker lebte seine Leidenschaft für das überladene Interieur aus, was man noch heute als Rombesucher in seinem zur Casa Museo Praz gewandelten Wohnhaus erleben kann. Nicolai schlägt die Brücke von Praz zu der von ihm geretteten Kunstbibliothek der römischen Galeristin Maria Calao und greift hier den schönen Gedanken auf, dass eine Bibliothek auch als Porträt einer Person betrachtet werden kann.

Nicolais publikatorisches Tun ist stets verbunden mit performativen, mitunter auch bildhauerischen, Musik einbindenden, filmischen und fotografischen Arbeiten. Bei der Ausstellung auf der Mathildenhöhe ging es ihm darum, „die Funktion der Publikationen, die meine Arbeiten begleiten, vorzustellen“. Angesichts der viermonatigen Laufzeit im Darmstädter Museum wäre eine Präsentation seiner vielen performativen Arbeiten gar nicht machbar gewesen. Einige wenige Ausnahmen bietet das Beiprogramm. Es gelingt aber, die wichtigen Projekte der letzten Jahre vorzustellen: Das Bumerang-Schnitzen und -Werfen vom Dach des Deutschen Biennale-Pavillons („Giro“, Venedig 2015), „Escalier du Chant“ in der Pinakothek der Moderne in München (2011) oder „In the woods there is a bird; his song stops you and makes you blush“, eine Tonarbeit, die sich mit den Hintergrundgeräuschen von Demonstrationen, Unruhen und Kundgebungen beschäftigt und für die documenta 14 (2017) entstanden ist.

Nicolais Methode besteht darin, für ein Thema, oder besser: ein Recherchethema, die angemessene Präsentationsform zu finden. Wissenschaft ist nicht nur Analyse, sie kann auch ein kreativer Prozess sein, entsprungen aus einem quasi künstlerischen Geisteszustand, wie es im Ausstellungstitel „A light vapour emanating from bound matter as spirits running, along“ hinreißend poetisch anklingt. Die Werkauswahl für Darmstadt zeigt Nicolai als forschenden Künstler mit Liebe zum Buch, zur Geistesgeschichte und zu Neuer Musik. Man kann sich auf seine Recherchen einlassen, für ein wenig tieferes Verständnis gehört das Lesen des Begleithefts allerdings unbedingt dazu. Die vielen in der Ausstellung präsentierten Publikationen zeugen davon, dass es Nicolai wichtig ist, die Betrachter über Zuhören und Lesen intensiver in die Sache einsteigen zu lassen. Man kann vom Künstler lernen: z. B. dass der Ort, wo Marx und Engels das Kommunistische Manifest schrieben, heute ein Yogastudio beherbergt, was dazu führt, dass Nicolais Publikation dazu als Poster ausgeklappt zum Praktizieren des Sonnengrußes anleitet oder als Buch gebunden das Manifest lesen lässt. Beides geht nicht. Entweder stimmt beim einen oder beim anderen die Reihenfolge nicht. Wir haben die Wahl: schauen oder lesen.

Letzte Änderung: 07.08.2021

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