Land versus Landschaft

Land versus Landschaft

Ausstellung: »Magnetic North«

Kaum geöffnet, war die Ausstellung „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910-1940“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt im Rahmen der Corona-Beschränkungen erneut geschlossen worden. Doch Ursula Grünenwald hatte das Glück, die Ausstellung während der kurzen Öffnungsphase im März besuchen zu können, und lobt die kritische Einbettung der rund achtzig Werke umfassenden Feier der kanadischen Landschaftsmalerei des frühen 20. Jahrhunderts.

Im Mittelpunkt der Ausstellung „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910-1940“ stehen die Werke der „Group of Seven“, einer Künstlervereinigung, die sich bei ihrer Gründung 1920 in Toronto das Ziel setzte, eine für Kanada national bedeutsame Malerei zu schaffen. Die sieben Künstler erhoben die Natur zum Motiv ihrer meist großformatigen, farbintensiven Bilder und bedienten sich professionellen Marketings, um ihr künstlerisches Anliegen voranzutreiben. So legte sich die ambitionierte Vereinigung, die in den USA, Großbritannien und Frankreich ausstellte, sogar ein Logo zu, um den eigenen Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Das Making-of einer künstlerischen Bewegung nachvollziehen zu können, deren Werke heute zum nationalen Kulturgut Kanadas zählen, macht die Ausstellung äußerst sehenswert.

Drei der Gründungsmitglieder, Arthur Lismer, James Edward Hervey MacDonald und Frederick Varley, so entnimmt man dem informativen Katalog, wurden in England geboren und ausgebildet. Die anderen vier, Franklin Carmichael, Lawren Harris, Alexander Young Jackson und Frank Johnston, waren gebürtige Kanadier. Mit der Gruppe eng verbunden waren außerdem die aus British Columbia stammende Malerin Emily Carr sowie der früh verstorbene Tom Thomson, dessen ausgedehnte Aufenthalte in den Wäldern der Provinz Ontario die Gruppe wesentlich inspirierten.

Tom Thomson, „The West Wind“, Winter 1916-1917, Öl auf Leinwand, Art Gallery of Ontario. Gift of the Canadian Club of Toronto, 1926.  | © Foto: Foto: Art Gallery of Ontario, 784

Angesichts der stilistischen Vielfalt ist es erstaunlich, dass sich die Gruppe so erfolgreich als ‚Marke‘ positionieren konnte. Die Gemälde von Thomson leben von einem pastosen Farbauftrag mit lebhaften Pinselstrichen, der vor allem in den kleinformatigen Ölskizzen des Künstlers zur Geltung kommt. Die farbintensiven Motive von MacDonald und Carmichael, die an den Postimpressionismus und die französischen Fauves erinnern, entfalten sich in einem Bildraum, dessen Flächigkeit und kulissenähnlicher Aufbau keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Arbeiten im 20. Jahrhundert entstanden sind.

Tom Thomson, „Abandoned Logs“, 1915, Öl auf Holzfaserplatte, 21,6 × 26,6 cm | © Foto: Purchase 1974 McMichael Canadian Art Collection 1974.3

Die unterkühlten Bergpanoramen von Lawren Harris lassen an die modernistischen Stadtansichten Charles Sheelers und abstrahierenden Landschaften Georgia O’Keefes denken. Tatsächlich reiste Harris 1938 ins US-amerikanische Santa Fe, um dort die von ihm bewunderte Künstlerin zu treffen. Die indigenen Motive, die Carr berühmt gemacht haben, fand die Malerin auf ihren zahlreichen Reisen in die Siedlungsgebiete der First Nations im Westen Kanadas. Carr, die Malerei in San Francisco, London und Paris studiert hatte, fand nach einer umfassenden Ausstellung 1927 in Ottawa zur Group of Seven. Ihre Waldbilder, die vielfach Totemfiguren abbilden, lassen die Ehrfurcht erahnen, die die Malerin beim Anblick der überdimensionalen, Tiere und Menschen abstrahierenden Holzfiguren empfunden haben dürfte. In diesem gelungenen Arrangement der Bilder würde man sich allenfalls einige Skizzen und Spätwerke wünschen, die einen Einblick in den Produktionsprozess und die Werkentwicklung der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler geben.

James Edward Hervey MacDonald, „Falls, Montreal River“, 1920 Öl auf Leinwand, 121,9 × 153 cm, Art Gallery of Ontario, Kauf 1933. | © Foto: Art Gallery of Ontario 2109

Der vielleicht wichtigste Satz der Schau ist in einem der Wandtexte mit der Überschrift „Land oder Landschaft“ zu finden. Dort heißt es: „Die ästhetisch geordnete ‚Landschaft‘, die erhaben, pittoresk oder romantisch sein kann, ist im Kern ein europäischer Begriff.“ Dieser kunstgeschichtliche Befund lenkt den Blick von der euro-kanadischen Perspektive der Group of Seven hin zu dem Naturbegriff der First Nations. In dem von der Schirn produzierten Podcast „Critical Land. Mythos der unberührten Natur“ erläutert die Kunstwissenschaftlerin Carmen Robertson, wie eng die Vorstellung der unbewohnten Landschaft, der ‚terra nullius‘, einem kolonialen Denken verbunden war und ist. Während das Malen von Landschaft in der europäischen Tradition die Natur zu einem Objekt werden lasse, gingen, so Robertson, die Menschen der First Nations von einer relationalen Verbindung zwischen sich und dem Land aus. Die Beziehung zum Land und seinen Lebewesen sei „keine Sache, kein Besitz“, sondern eine „lebende Entität, um die man sich kümmern muss und die sich um einen kümmern wird“. Man kann nur tiefes Bedauern darüber empfinden, dass es so lange gedauert hat, bis – zuletzt dank der weltweiten Fridays-for-Future-Bewegung – das instrumentelle Naturverständnis des Westens an Boden verloren hat und die Vorstellung einer nachhaltigen Lebensweise im Mainstream angekommen ist. In der Ausstellung wird die Tragweite der Unterscheidung von Land und Landschaft durch zwei zeitgenössische Filmarbeiten unterstrichen, die die Kuratorin Martina Weinhart der Malerei zur Seite gestellt hat.

Der 2013 veröffentlichte Dokumentarfilm von Lisa Jackson zeigt die Reise von Angehörigen der Nakwaxda’xw und Gwa’sala First Nations in ihr früheres Siedlungsgebiet, Inseln vor der Küste von British Columbia, von dem sie 1964 durch Intervention des kanadischen Staates vertrieben worden waren. Der knapp einstündige Film dokumentiert die gravierenden Folgen des rücksichtslosen Umgangs mit der indigenen Bevölkerung und ihrer Kultur. Die mit Trauer unterlegten Erinnerungen der älteren Generation, die als Kinder von ihren Familien getrennt wurden, um in Internaten im Sinne der euro-kanadischen Zivilisation erzogen zu werden, verbinden sich mit den ruhigen Bildern der Bootsreise zu einem stillen und doch vielschichtigen Panorama. Die zweite Filmarbeit, die Collage „Mobilize“ von Caroline Monnet, die 2015 entstanden ist, entfaltet einen atemberaubenden Reigen aus Aufnahmen von Menschen, die sich in traditionellen und modernen Verkehrsmitteln, wie Kanus und Flugzeugen, fortbewegen.

Franklin Carmichael, „Autumn Hillside“, 1920 Öl auf Leinwand, 76 × 91,4 cm, Schenkung der J.S. McLean Collection, Toronto, 1969; gestiftet von der Ontario Heritage Foundation, 1988. | © Foto: Art Gallery of Ontario L69.16

Die Bilder werden von einem mitreißenden Rhythmus getragen, den die Performerin Tanya Tagaq mittels Kehlkopfgesang erzeugt. Zu den filmischen Exponaten gehört auch der einstündige Stummfilm „In the Land of the Head Hunters“ des Fotografen Edward S. Curtis von 1914. Der Film, der eine fiktive Liebesgeschichte beschreibt und mit Laienschauspielerinnen und -schauspielern der Kwakwaka’wakw Nation besetzt ist, scheiterte zwar in kommerzieller Hinsicht, erlaubt aber einen historischen Blick auf das indigene Leben zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mithilfe der Filme erhält die Ausstellung eine alltagskulturelle und historische Dimension, die mehr als ein Jahrhundert umfasst und gerade dank ihrer konzentrierten Form ein virulentes Gegengewicht zu der Malerei der Group of Seven schafft.

Die Schau nimmt eine für den amerikanischen Kontinent signifikante Konstellation in den Blick, wenn sie nach der Rolle fragt, die der Kunst bei der Schaffung nationaler Identitäten und der visuellen Repräsentation der Enteignung von Land im 19. und 20. Jahrhundert zukam. Vergleichbare künstlerische Bewegungen wie in Kanada sind u. a. in den USA, Mexiko und Brasilien, wenngleich mit unterschiedlichen politischen Nuancierungen, zu finden. In den USA schuf die Hudson River School nach dem Ende des Bürgerkriegs 1865 Ansichten weiträumiger, scheinbar unberührter Landschaften, die zur Erforschung und Erschließung durch die Europäerinnen und Europäer einzuladen scheinen. Dass die dargestellten Landschaften seit Jahrtausenden besiedelt und ihre Einwohnerinnen und Einwohner entweder vertrieben oder ermordet worden waren, wird in den Bildern nicht sichtbar. Die seit dem späten 19. Jahrhundert boomende Landschaftsfotografie warb im Auftrag der expandierenden Eisenbahngesellschaften um neue Siedlerinnen und Siedler für den Südwesten und versuchte, betuchte Touristen von der Ostküste in die neu entstandenen, vorgeblich menschenleeren Nationalparks zu locken. Im postrevolutionären Mexiko der 1920er Jahre war die linksgerichtete Regierung bestrebt, mithilfe der Kunst eine nationale Identität zu stiften, die die indigene Bevölkerung einschließen und das kraftvolle historische Erbe zu betonen sollte, um die junge Nation gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Norden zu positionieren. Diese Bewegung wurde von Künstlerinnen und Künstlern, wie der Malerin Frida Kahlo, der Fotografin Tina Modotti und dem Muralisten Diego Rivera getragen.

Der informative Katalog der Frankfurter Ausstellung vertieft die kunstgeschichtliche Diskussion über national überformte Landschaften und den kolonialen Landraub. Georgiana Uhlyarik erinnert in ihrem einleitenden Essay daran, dass der Wohlstand Kanadas damals wie heute auf der Nutzung natürlicher Ressourcen beruht. „Magnetic North“ lässt die enormen Widersprüche zu Tage treten, die das nordamerikanische Land – wie alle westlichen Staaten heute – zu bewältigen hat: Die liberale Demokratie Kanadas, die weltweit als Vorbild für eine fortschrittliche Einwanderungspolitik gilt, blickt auf einen bis weit in die jüngere Gegenwart hineinreichenden menschenrechtsverletzenden Umgang mit der Bevölkerung der First Nations zurück. Dem Image des Landes, Hort unberührter Wildnis und Sehnsuchtsort für Zivilisationsmüde zu sein, steht die Tatsache gegenüber, dass sich seine Wirtschaftskraft der Ausbeutung natürlicher Rohstoffe verdankt. Kanadische Unternehmen sind weltweit, auch in politisch fragilen Ländern, tätig und agieren in rechtlichen Grauzonen, um Abbaurechte gegenüber der lokalen indigenen Bevölkerung durchzusetzen, wie Berichte von Amnesty International unter anderem aus dem zentralamerikanischen Guatemala zeigen. Wohlstand und Demokratie in den Ländern des Globalen Nordens gründen auf einer kolonialen Geschichte, die ihre Fortsetzung in der ökonomisch, sozial und ökologisch prekären Gegenwart der ehemals Kolonisierten findet.

Die Ausstellung vermag es, jene Widersprüche in den Blick zu rücken, ohne dabei die Kunst hinter die politischen Fragen zurücktreten zu lassen. Sie feiert die Malerei und rahmt sie zugleich kritisch. Bis die Ausstellung wieder besucht werden kann, bieten Webinare, Digitorials, eine Video-Tour und der bereits erwähnte Podcast auf der Website der Schirn vertiefende Einblicke.

Lawren S. Harris, „Mt. Lefroy“, 1930 Öl auf Leinwand, 133,5 × 153,5 cm Purchase 1975, McMichael Canadian Art Collection, 1975.7 | © Foto: Family of Lawren S. HarrisEmily Carr, „Blunden Harbour“, um 1930 Öl auf Leinwand, 129,8 × 93,6 cm | © Foto: National Gallery of Canada, Ottawa, Foto: NGCCaroline Monnet, „Mobilize“, 2015, Single Channel Video, 3 Min. Filmstill, National Film Board of Canada | © Foto: Caroline Monnet

Letzte Änderung: 02.02.2022

Martina Weinhart (Hrsg.) Magnetic North Mythos Kanada in der Malerei 1910 – 1940
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