Körper, Ornament, Rhythmus
Die Collage taucht seit ihrer Erfindung im frühen 20. Jahrhundert fortwährend in künstlerischen Produktionen auf. Gerade in den letzten Jahren erlebt sie eine Renaissance. So ist es folgerichtig, dass die verschiedenen Ausdrucksformen von Zerschnittenem und Zusammengesetztem in Themenausstellungen gebündelt werden. Isa Bickmann hat die Schau „Schnitt Schnitt“ in Darmstadt besucht.
Begrüßt werden die Besucher im Hauptsaal der Kunsthalle Darmstadt von Martin Brügers (* 1965) „Transfolded“. Als Material nutzte der Künstler die Teile eines abgerissenen Pavillons, der in Kleeblattform erbaut seit Anfang der achtziger Jahre auf dem Darmstädter Luisenplatz stand. Sechszehn Wandelemente nahm Brüger heraus und installierte sie wie einen Paravent. Der ursprünglich als abgeschlossener Sozialraum für die StraßenbahnführerInnen gedachte Ort verliert seine Funktion. Er wird gleich einem Ready-made in den Kunstraum transformiert. Brüger holt also den Stadtraum in die Kunsthalle, was eine Leitlinie dieser Gruppenausstellung darstellt. Entfaltet offenbaren die Bauteile ihren Innenraum, um im Innenraum der Kunsthalle zu stehen. Der Erwartungshaltung der BetrachterInnen etwas entgegenzusetzen ist stets Brügers Anliegen. Dies erweitert er noch durch eine auf den Bauteilen angebrachte Zugabe: Tritt man nämlich auf einen bestimmten Punkt, erlebt man eine Anamorphose, die sich als klare, gerade Linie über die Wandelemente zieht. Er sieht sie als Metapher dafür, „dass der Mensch zu den Dingen, denen er begegnet, einen ganz individuellen Standpunkt einnimmt […]“.
Weitere bemerkenswerte Positionen finden sich in diesem Raum der Kunsthalle: Annegret Soltau (* 1946) ist eine Pionierin einer feministisch geprägten Arbeit mit dem Körper. Fotovernähungen sind ihr Markenzeichen. In Darmstadt zeigt sie eine nagelneue Serie von 18 Collagen, die aus einer Fotosession mit einer Freundin entstanden sind und den Körper als ein Ort von „Leibesinseln“ (nach Ute Gahlings) betrachten lässt. Das weibliche Genital tritt gleichberechtigt neben Augen, Bein und Arm an. Winzige Zeitungsschnipsel auf den Rückseiten der Collagen sind durch die freie Installation an der Wand sichtbar und erweitern den Denkraum. Bezüge zu Brügers Installation, wie auch zu der Teppicharbeit von Eoin Mc Hugh im gleichen Raum und der Iranerin Nazgol Ansarinia mit politische Ereignisse hinterfragenden mosaikartigen Zeitungscollagen oder einer Auswahl von 20 Collagen, die zu einer Bilderwand zusammengesetzt wurden von Ulrich Horndash, kann man beliebig heranziehen. Das Serielle, Gesellschaftspolitische, der Körper, das Ornament, Farbe, Papier, Rhythmus als der Collagetechnik zuspielende Elemente finden sich beim einen oder anderen.
Dann springt die im ersten Raum angeschobene zeitgenössische Leitlinie zurück und man steht mitten in einem Kinoenvironment mit dem 1929 entstandenen, berühmten Stummfilm Dziga Vertovs, „Der Mann mit der Kamera“. Dass die Collage gerade in der Zeit der 1910er Jahre aufkommt, als der Film seine Erfolgsgeschichte beginnt, ist bedenkenswert, doch ihn am Beispiel des Vertov-Werks heranzuziehen, erklärt nicht seine Einbindung in die Ausstellung. Es wird nicht klar, warum gerade dieser, der „kollektive Phänomene“ (Jean-Luc Godard) wiederzugeben sucht, hier zu sehen ist. Denn die Großstadt ist nicht ein der Collage eigenes oder gar typisches Thema.
Auch eine andere historische Position – die zweifellos sehenswert und noch zu entdecken ist – lässt eher Fragen offen: Alfred Nungessers (1903-1983) Collagen vom ebenfalls im Darmstadt ansässigen Hessischen Landesmuseum ausgeliehen, verdichten Ausgeschnittenes bei dem Stadtarchitekturblatt „Stadtpanorama“ und vereinzeln es in „Der Genießer“ mit Männern, die sich um isolierte Frauenbeine scharren. Von Nungesser hätte man gerne mehr gesehen, während Raphael Danke (* 1972) mit 11 Arbeiten, C-Prints, Collagen und einer Skulptur in der Ausstellung vertreten ist und damit deutlich die gesamte Gruppenausstellung dominiert.
Ein einziges Exponat stellen dagegen Radenko Milak und Roman Uranjek aus ihrer Zusammenarbeit in der Serie „Dates“. Hier treffen Luther und Malewitch aufeinander, während der junge Städelschuler Alexander Tillegreen (* 1991) in einer Soundcollage ein Interview Mick Rocks mit Cyd Barrett (bis 1968 bei Pink Floyd) mit Musik von Erik Satie verbindet. Im Mittelpunkt steht die Herstellung der Octavillusion, jenes seltsamen Geistertons, der eine akustische Täuschung ist.
Ignoriert man, dass im Zeitalter von „Copy and paste“ das Digitale nahezu völlig aus dieser Ausstellung ausgeklammert wurde und dass die Auswahl der KünstlerInnen weniger konzeptuell ist als aus persönlichen kuratorischen Vorlieben geschah, wenn man also nicht nach einem roten Faden sucht, lohnt ein Besuch der Ausstellung wegen der Qualität der Einzelwerke von Nungesser, Soltau und Brüger.
Letzte Änderung: 16.08.2021
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.