In Fridas Badewanne
Erstmalig wird die 1942 in Mexiko-City geborene Fotografin Graciela Iturbide mit einer Retrospektive in Deutschland geehrt. Ihr in über fünf Jahrzehnten entstandenes Œuvre gilt als grundlegend für das Verständnis der lateinamerikanischen Fotografie. Isa Bickmann spürt Iturbides ikonenhaften und intimen Bildern nach.
“Lo que el agua me dio” (Was mir das Wasser gab) heißt ein 1938 entstandenes Gemälde Frida Kahlos. Aus der Perspektive der Künstlerin zeigt es ihre Füße aufgestellt am Badewannenrand. Auf dem Wasser tummeln sich Hieronymus-Bosch-artige Wesen und Objekte im Miniaturformat. Die Zeit ihres Lebens von starken Schmerzen geplagte Frida Kahlo, eine der bekanntesten Protagonistinnen der weiblichen Kunstgeschichte und einflussreiche Identifikationsfigur des Feminismus, malte hier ein sehr persönliches Bild voller versteckter Symbolik. Weibliche Selbstdarstellung stellt sich gegen den männlichen Blick auf den Frauenkörper – man denke da an das Gemälde der Ophelia von John Everett Millais, jener im Wasser liegenden schönen, jungen Toten.
Das seit Frida Kahlos Tod über 50 Jahre lang unberührt gebliebene Badezimmer im legendären Casa Azul, Ort dieser Selbstbespiegelung, durfte Graciela Iturbide als eine der ersten betreten. Sie dokumentiert in einer Color-Serie, was sie dort vorfindet. Zudem entsteht 2006 eine Schwarz-Weiß-Folge mit einem sehr persönlichen Blick auf diesen privaten Raum der Frida Kahlo. Die Fotografien sind von atemberaubender Intimität. So nah möchte man einem Menschen, der zeitlebens mit seiner Gesundheit kämpfte, eigentlich gar nicht kommen, aber man schaut doch hin. In einem Reenactment des oben beschriebenen Gemäldes legt sich Iturbide in die Wanne Kahlos und fotografiert ihre Füße. Die Aufnahme ist Ausdruck ihrer Verbeugung vor der künstlerischen Kraft Kahlos, mit der diese ihren Leiden trotzte, und verdeutlicht ihre persönliche Identifikation mit der berühmten Landsmännin. Das Fotografie Forum Frankfurt platziert diese Serie in einen kleinen Eckraum seiner Ausstellungsfläche und gewährt so dem Ganzen die gebührende Intimität. Es ist, als betrete man tatsächlich Fridas Badezimmer mit den Korsetts, Prothesen, mit Blut beflecktem OP-Hemd, der Packung Demerol und einem Stalin-Porträt.
Das fotografische Werk Graciela Iturbides gibt sich zugleich poetisch als auch dokumentierend. Doch in erster Linie ist es düster und bewegend. Die Fotografin stammt aus einer traditionellen katholischen Familie, heiratet sehr früh und beginnt erst im Alter von 27 Jahren ein Filmstudium am Centro Universitario de Estudios Cinematográficos der Universidad Nacional Autónoma de México. Dort lehrt der angesehene mexikanische Fotograf Manuel Alvárez Bravo (1902-2002), der ihr Mentor wird und sie zu seiner Assistentin macht. Es ist dieser Glücksfall, der sie zur Fotografie bringt. Eine Einzelausstellung 1982 im Centre Pompidou in Paris macht sie auch in Europa bekannt.
Das Fotografie Forum Frankfurt zeigt in der von der Fundación MAPFRE, Madrid, organisierten Schau 115 Arbeiten aus allen Schaffensphasen der 2008 mit dem Hasselblad Award ausgezeichneten Künstlerin: Zu sehen sind das Projekt mit den indigenen Seri in der Sonora-Wüste, Porträts der Straßengang „White Fence“ im Los Angeles der 1980er Jahre, die beeindruckenden Bildfolgen der Frauen von Juchitán, der botanische Garten von Oaxaca, Landschaften und Vögel, die Iturbide in ihrem Heimatland und auch auf ihren Reisen nach Indien, Italien, Korea oder Madagaskar schoss. Die Ausstellung zeigt die surreal-kahloesken Selbstportraits, eines mit Schlange im Mund, eines mit einem lebenden und einem toten Vogel, die sie vor ihre Augen hält, und eines mit wandernden Schnecken auf Gesicht und Körper. Alle diese Bilder leben von einer verborgenen, das Unbewusste visualisierenden Geschichte und sind ausschließlich in Schwarz-Weiß aufgenommen.
In Juchitán, wo die Hochkultur der Zapoteken beheimatet war und noch heute matriachale Strukturen herrschen, findet sie eine Händlerin, die mehrere Leguane zum Verkauf auf dem Kopf trägt. Das aus Untersicht aufgenommene Porträt mit der „Leguan-Krone“ lässt die „Nostra Señora des las Iguanas“ stolz und würdevoll aussehen: Das Bild wurde zu einer Ikone der Fotografierkunst und machte Iturbide berühmt.
Der Tod, der in der mexikanischen Volkskultur ohnehin von starker Präsenz ist, spielt in Iturbides Bildern eine gewichtige Rolle: Tote Menschen und tote Tiere sind allgegenwärtig. Den Verlust ihrer erst sechsjährigen Tochter Claudia 1970 versucht sie fast manisch mit dem Fotografieren des Todes zu bewältigen. Sie fotografiert tote Kinder, auf spanisch „Angelitos“, also Engelchen genannt, bis sie beginnt, sich den Vögeln zuzuwenden.
Im Gedächtnis bleiben die Begegnungen Iturbides mit den Indigenen auf Augenhöhe, die von der ehrlich empfundenen Sympathie für ihr Gegenüber sprechen, wie auch die Fotografien von Vögeln, Symbole der Seele, des Todes und des Lebens. In ihren feinfühligen, aber kraftvollen Bildern vermittelt sich Iturbides innerlicher Blick auf die Welt, der um die Vergänglichkeit weiß.
Letzte Änderung: 02.02.2022
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