Gefährdete Schönheit
Die Ausstellung „Ewiges Eis“, die noch bis zum 12. Februar 2023 im Bad Homburger Museum Sinclair-Haus zu sehen ist, lädt dazu ein, die Ästhetik des Eises zu bestaunen. Man erhält einen hervorragenden Eindruck davon, welche Zugänge die bildende Kunst zur Debatte um den Klimawandel bietet und welche Ansichten sie bereithält, die sich von naturwissenschaftlichen und medialen Positionen unterscheiden. Wer sich auf den ästhetischen Zugang einlässt, aber eine weitergehende Perspektive erhofft, muss leider feststellen, dass das museale Ambiente die dramatischen Ausmaße der Naturzerstörung nicht angemessen spiegelt, wie Ursula Grünenwald bilanziert.
Uns läuft die Zeit davon. Infolge der Erderwärmung schmilzt das Eis in den Polarregionen ebenso rasant wie die weltweiten Hochgebirgsgletscher. Auf der Klimakonferenz COP 27 im November 2022 sprach UN-Generalsekretär António Guterres von einer drohenden „Klimahölle“, um die Welt zum Handeln zu bewegen. Während die Proteste der Fridays-for-Future-Bewegung ungehört verhallen, versuchen die Klimaaktivist*innen der „Letzten Generation“ derzeit, mit Störaktionen in Museen entschiedenere Maßnahmen zu erzwingen. In dieser zugespitzten Lage macht die Ausstellung „Ewiges Eis“ ein unerwartetes Angebot: Sie lädt dazu ein, innezuhalten und die Ästhetik des Eises zu bestaunen.
Entrückte Welt und Lebensraum vieler
Der Titel der Ausstellung lässt an ferne Welten und romantisch entrückte Naturräume denken, an tragisch gescheiterte Polarexkursionen ebenso wie an Menschen, die in den unwirtlichen Eiswelten seit Jahrhunderten ihr Auskommen finden. Die Schau lebt von der Diversität der Medien und Regionen, wobei Fotografie und Videoinstallation dominieren. Sie konfrontiert und moralisiert nicht, sondern wagt den Balanceakt, die Erhabenheit eisiger Landschaften neben ihrer offensichtlichen Vergänglichkeit zu inszenieren.
Wie aber ist es möglich, über die ästhetische Qualität von Eis nachzusinnen, wenn nicht zu übersehen ist, dass dessen Verschwinden droht und die Lebensgrundlagen vieler Menschen verloren gehen? Kann heute überhaupt noch von „Ewigem Eis“ die Rede sein? Dies gab auch der Vorsitzende der „Stiftung Kunst und Natur“ Börries von Notz in seinem Eröffnungsstatement selbstkritisch zu Bedenken.
Die Ausstellung reagiert auf diese Herausforderung, indem sie eine Vielzahl von Perspektiven anbietet. Kontemplative Arbeiten, wie die Fotografie eines strahlend weißen Eisfjords vor rosafarbenem Himmel, stehen neben der optimistischen Winteridylle des gefrorenen Baikalsees und dokumentarischen Ansichten aus Alaska und Grönland. Auch klimaaktivistische Positionen sind vertreten. Eis tritt als globaler, komplexer, sensibler und umkämpfter Lebensraum in Erscheinung.
Raubbau in südamerikanischer Gletscherlandschaft
In der raumgreifenden Videoinstallation von Ignacio Acosta prägt sich das Tröpfeln von Wasser ein, das sich aus geschmolzenem Gletschereis in den chilenischen Anden zu Bächen und schließlich Flüssen formiert. Der Künstler zeigt in seiner eigens für die Schau entstandenen Arbeit die ökologisch sensible Welt des Gebirgsparks „Andino Juncal“, der mit seinen bis zu 5.000 Metern hohen Gipfeln das südamerikanische Land mit Trinkwasser versorgt.
Dieses Ökosystem wird von Bergbauunternehmen gefährdet, die dort nach Bodenschätzen suchen. Sie profitieren von einem Gesetz, das während des Militärregimes von Augusto Pinochet in den 1970er Jahren erlassen wurde. Es unterscheidet zwischen Eigentumstitel und den darunterliegenden Ressourcen, wodurch der Abbau letzterer auch gegen den Willen der Eigentümer möglich wird. Acosta kombiniert das eigene Filmmaterial mit den Handyaufnahmen regionaler Umweltaktivisten*innen, die den Raubbau und die Belastung der Region durch Straßenbau und Giftmüll dokumentieren. Kurzzeitige Unterbrechungen der filmischen Narration stehen für die Störungen, der die andine Landschaft ausgesetzt ist. Der Künstler ergänzt die Videoprojektion durch ein metergroßes weißlackiertes Objekt, das die Grenzmarkierungen der Bergbauunternehmen nachahmt. Es führt prägnant vor Augen, dass auch Umweltzerstörung eine spezifische plastische Form besitzt.
Wütende Schwestern
Ein Gegenpol zu der dokumentarischen Form Acostas bildet die melancholisch-wütende Anklage der beiden Künstlerinnen Kathy Jetnil-Kijner und Aka Niviana. In dem Gedicht „Rise“, dessen Text von einem parallel projizierten Video begleitet wird, beschreiben die beiden jungen Frauen den Verlust ihrer Lebenswelten in Grönland und den Marshallinseln. Während das Eis auf der nördlichen Halbkugel schmilzt, drohen die Inseln im Westpazifik im Meer zu versinken. Die über eintausend Inseln ragen im Durchschnitt nur zwei Meter über den Meeresspiegel hinaus, weshalb sie anfällig für den drohenden Anstieg des Meeresspiegels sind. Jetnil-Kijner und Niviana erinnern in ihrem Wechselgesang an die koloniale Besitznahme ihrer Welten und die andauernden fatalen Folgen für Mensch und Natur.
Die beiden Künstlerinnen fordern Respekt für ihre Lebensweise und appellieren an die Menschen der Industrienationen, gemeinsam mit ihnen Veränderungen herbeizuführen: „[…] we ask | we demand that the world see beyond | SUV’s, ac’s, their prepacked convenience | […] everyone of us has o decide | if we | will | rise“.
Ironische Inszenierung westlicher Naturzerstörung
Seinen Protest gegen die Naturzerstörung formuliert der in Berlin lebende Künstler Julien Charrière in der Fotografie „The Blue Fossil Entropic Stories I“ von 2013. Zu sehen ist eine einsame Figur auf einem kleinen Eisberg, die die schon angegriffene Oberfläche mit einem Gasbrenner bearbeitet. Charrière ironisiert mit der männlichen Figur in der Landschaft ein Motiv der Romantik, um den Betrachter*innen die selbstzerstörerische Dynamik der eigenen Kultur vor Augen zu führen. Der Künstler inszenierte den Eisberg als Ruine und Relikt einer ehemals erhabenen Natur, die zum Spielball einer Zivilisation geworden ist, die „mit dem Fuß auf dem Gaspedal“ – um Guterres ein weiteres Mal zu zitieren – in ihr Verderben rast und dabei weltweit Menschen ins Unglück stößt. Charrière ruft das nach der Aufklärung auf sich selbst gestellte Westliche Subjekt auf, das seine engen Bezüge zu der umgebenden Natur nicht wahrzunehmen vermag. Man möchte der einsamen Figur zurufen, sie soll mit der idiotischen Handlung aufhören, doch ist sie ebenso wenig erreichbar wie Caspar David Friedrichs entrückte Subjekte, die ihre Umgebung als Projektionsfläche ihrer selbst begreifen.
Eis als vielgestaltiger Lebensraum
Ein Teil der Schau wird von Ansichten eines Lebens in und mit dem Eis bestimmt. Die Fotografien der Serie „I am an Inuit“ von Brian Adams zeigen die Bewohner*innen von Alaska, die ruhig den Betrachter*innen entgegenblicken. Viele von ihnen haben Gegenstände bei sich, die für ihren Alltag bedeutsam sind. Man wird an August Sanders Fotoprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ erinnert, das Adam frei interpretiert und im Eis realisiert. Seine Serie vermittelt – jenseits eines ethnografischen Blicks – einen Eindruck vom zeitgenössischen Leben im Eis.
Wie unsere Mitmenschen in der nördlichen Hemisphäre wohnen, bildet die Serie „Home“ von Tiina Itkonen ab. Der Fokus ihrer Farbfotografien, die zwischen 2016 und 2019 entstanden sind, liegt auf bunt gestrichenen Holzhäusern, wie sie den Einwohnern Grönlands als Zuhause dienen.
Die Wandinstallation des in Frankfurt lebenden sibirischen Künstlers Ivan Murzin setzt das Leben auf dem Baikalsee in Szene, der über sechs Monate im Jahr mit einer tragfähigen Eisdecke überzogen ist. Bars, Kinderspiele und eistaugliche Transportmittel zeigen das generationenübergreifende Leben auf dem Eis.
Kein indigenes Othering
In dieser räumlichen Nachbarschaft kommen die feinen Stickereien von Britta Marakatt-Labba besonders gut zur Geltung. Die Künstlerin verbindet Szenen aus dem Alltag der schwedischen Volksgruppe der Samen mit der Formensprache aus ihrer Mythologie. Anders als auf der Documenta 14, die indigene, dem Kunsthandwerk nahestehende Positionen in einer Halle versammelte und dabei eine Aura der Authentizität zu erzeugen versuchte, entgeht die Bad Homburger Schau der Gefahr des „Othering“.
Da unterschiedliche Zugänge zum Eis gleichberechtigt nebeneinander gezeigt werden, finden sich Marakatt-Labbas Arbeiten gleich neben den Schneekristallen des US-amerikanischen Künstlerduos Doug und Mike Starn und den Nachtaufnahmen einer arktischen Messtation von Nathalie Grenzhäuser wieder. Durch die geschützte Hängung in einer Eckkonstellation können die zarten Stickereien ihr Narrativ angemessen entfalten.
Anthropozän in barockem Gewand
Nicht bei allen Arbeiten erschließt sich, warum sie Eingang in die Schau gefunden haben. Mitunter entsteht der Eindruck, als habe man das allzu gegenwärtige Thema der globalen Eisschmelze relativieren wollen. So mag zum Beispiel die Visualisierung der Rhein-Main-Ebene während der letzten Eiszeit für Schulklassen von didaktischer Bedeutung sein, es bleibt aber offen, wohin dieser Zeitsprung führen soll.
Zudem stellt das gepflegte barocke Setting des Sinclair-Hauses eine Herausforderung für diejenigen Positionen dar, die den Verlust natürlicher Ressourcen, globale Unsicherheiten und postkoloniale Machtverhältnisse thematisieren. Das hochwertige barocke Ensemble repräsentiert eine gut situierte und in sich ruhende Welt, die die Irritationen der Gegenwart unweigerlich herausfiltert. Wie würde manches Exponat, so fragt man sich, in der rauen Atmosphäre einer stillgelegten Fabrikanlage wirken? Welche Aspekte würden verstärkt, welche abgeschwächt? Vielleicht träten Erkenntnisse wie jene zutage, die der belgische Künstler Pierre Huyghe mit seiner Installation in einer ehemaligen Eissporthalle ermöglichte. Seine 2017 für die „Skulptur Projekte Münster“ geschaffene dystopische Erdwelt mit ihren Apparaturen ließ erahnen, welches Eigenleben die Natur nach dem Anthropozän zu entfalten vermag. Huyghes Arbeit war deshalb so überzeugend, weil sie nicht nur grundlegende Fragen zur Zukunft von Mensch und Natur aufrief, sondern weil sie mögliche Perspektiven sinnlich und mit den Mitteln der Kunst vermittelte.
Will we rise?
Die Stärken der Ausstellung liegen in jenen Konstellationen, in denen die Ästhetik des Eises auf seine realweltliche Gefährdung trifft. Dieses Nebeneinander schafft einen Resonanzraum jenseits medialer Narrative und wissenschaftlicher Daten. Es wird möglich, widerstreitende Gefühle zuzulassen und die Schönheit bedrohter Lebenswelten kennenzulernen. Doch bleibt angesichts des existentiellen Themas offen, was die Kunst und ihre Institutionen ihrerseits zu leisten vermögen, um den Klimawandel aufzuhalten. Motiviert der Appell der sisters of ice and ocean, die Besucher*innen dazu, ihr Alltagsverhalten zu ändern und die Lebensräume anderer zu schützen? Wie kommt man von der Kontemplation zur Aktion? Leider bleibt der Mitmachimpuls dem liebevoll konzipierten kunstpädagogischen Atelier vorbehalten, in dem Kinder und Jugendliche etwa phantastische Apparaturen des Klimaschutzes ersinnen können. Dabei wären gerade auch für Erwachsene vielfältige kleine partizipative Formate vorstellbar: eine Mitfahrbörse zum Museum zum Beispiel oder eine Baumpflanzinitiative im Taunus. Auch der Aufdruck auf dem Ticket „Das nächste Mal komme ich mit dem ÖPNV“ wäre ein kleines mutmachendes Signal.
Ausstellungsdauer: 25. September 2022 bis 12. Februar 2023
Museum Sinclair Haus
Letzte Änderung: 14.12.2022 | Erstellt am: 14.12.2022
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