Fiction is the place where certain things emerge
Walid Raad ist über den Werkkomplex der „Atlas Group“ (1989-2004) und als Teilnehmer der documenta 11 und 13 bekannt geworden. In der Kunsthalle Mainz zeigt der in New York lebende und arbeitende Künstler jüngere Arbeiten, in denen Fiktion und Realität auf raffinierte Art vermengt werden. Isa Bickmann hat sich auf seine Geschichten eingelassen.
Ein begnadeter Geschichtenerzähler ist der libanesisch-amerikanische Künstler Walid Raad. Wie in den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht geschehen in seinem Werkkosmos Zeichen und Wunder. Kulturen verknüpfen sich und locken auf übersinnliche Fährten durch den arabisch-europäischen Raum. „Historical fiction“, nennt Raad dies, denn „die Fiktion ist der Ort, an dem bestimmte Dinge entstehen, wo Dinge passieren, die nicht in der Geschichte hätten passieren können.“ Dass es in der deutschen Sprache ein Wort dafür gibt, nämlich „eine/die Geschichte“, das sowohl Fiktion als auch Historie bedeutet, trifft Raads Ansatz recht gut.
Bei dem 1967 in Chbanieh, Libanon, geborenen Walid Raad erhalten die Dinge ein Eigenleben, reisen, tauchen auf und verschwinden wieder. Sie hinterlassen dabei Spuren, die Zeiten und Räume überwinden. Die Objekte werden von Krieg und Weltgeschehen zur Flucht angetrieben. So verlassen Iznik-Motive, jene Keramiken aus osmanischen Zeiten, ihre Transportkisten und verstecken sich in einem westlichen Museum (Louvre), in einem kirchlichen Raum, der für Ausstellungen zeitgenössischer Kunst genutzt wird (St. Peter in Köln), und machen Insekten zu Künstlern, die in Laubblätter Iznik-Motive hineinnagen (National Museum of Sudan in Khartum). Der aufgezeigte Weg der Kulturobjekte ist auch eine Flucht vor den menschengemachten Zerstörungen, vor Krieg und Leid. Was auch wieder einmal zeigt, dass sich Kunst am Weltgeschehen aktualisieren kann, befinden sich doch gerade in der Ukraine nicht nur die Menschen, sondern auch das kulturelle Erbe des Landes in höchster Gefahr. Der Libanesische Bürgerkrieg begann 1975, als Raad acht Jahre alt war, als 16-Jähriger hat er den Libanon gen USA verlassen. Die Mutter, eine geborene Palästinenserin, und der aus dem Libanon stammende Vater geben mit ihrer Herkunft die Basis vor, aus der Raad seine Themen entwickelt. Markante Punkte sind der Zerfall des Osmanischen Reichs, was die seit Ende des französischen Völkerbundmandats bis heute konfliktreiche Region des Nahen Osten entstehen ließ, und der Libanesische Bürgerkrieg.
Auf ein anderes Werk, das die Transportkisten-Idee aufnimmt, trifft man gleich zu Beginn der Ausstellung. Raad erzählt von Denkmälern im Libanon, die vor dem Krieg zu schützen waren und die in Stücke geschnitten, in Kisten verpackt, aus Sicherheitsgründen im Libanon verstreut wurden. Man habe sie, nachdem der Krieg länger und länger dauerte, sogar nach Mainz verbracht. Eine Regierungsangestellte versuchte, sie wieder zusammenzusetzen, da aber die Aufbauanleitung fehlte, kam es zu neuen Formen. Die aus Crates geformten Plastiken stehen monumental im Raum. Ein geflügeltes Wesen lässt an eine Siegesgöttin, die Nike von Samothrake, denken, das zweite scheint ein Reiterstandbild zu ironisieren.
Im nächsten Schritt erinnert der Künstler an die 3641 im Libanon zwischen 1975 und 1990 gezündeten Autobomben. Bei der Explosion fliege der Motor oft hunderte Meter, bleibe aber intakt. Die Fotojournalisten betrieben einen Wettbewerb untereinander, wer nach einer Explosion den Motor als erster findet. Auch Politiker haben mit den Relikten des Terrors posiert. Im Kontext dieser „Fetischisierung“ seien die Motoren oft wie eine Black Box betrachtet worden, anhand derer man den Attentäter feststellen könne. Doch die Autos waren in der Regel gestohlen, so half die Motornummer nicht weiter. Da es sich zumeist um Autos aus deutscher Produktion handelte, schickte man die Motoren zur forensischen Untersuchung nach Stuttgart. 2012 hat der libanesische Staat sie versteigert, Raad bekam 23 Benzmotoren und will daraus eine Installation machen. In Mainz zeigt er einen dramatisch beleuchteten Motor wie eine Skulptur, dazu eine Fotografie von Politikern, die in einer beschädigten Straße um einen Motor stehen.
Sechs Wasserfälle rauschen im nächsten Raum, wandhoch in Schwarz-Weiß projiziert. Erst auf dem zweiten Blick sind auf den Fußleisten Abbilder von internationalen Staatschefs zu entdecken. Im Libanonkrieg honorierten Milizen die internationale Unterstützung durch Waffen und Bargeld mit der Benennung von Wasserfällen nach ihren Förderern. Die Namen wechselten häufig, so kommt es zum Werktitel „Fickle Falls“ (2021), wankelmütige Wasserfälle. Man blickt auf Diktatoren- und Demokraten-Reihungen herab: Assad, Saddam Hussein, François Mitterand und Margaret Thatcher. Wenn auch die Namensgeber wechseln, die Natur in ihrer erhabenen Monumentalität bleibt, vermittelt diese gelungene Inszenierung, die einen belustigt staunen lässt.
Mit „A Proposal for a site museum“, (2017-2022) nahm Raad mit Bernard Khoury an einem Architektenwettbewerb zur Gestaltung des Museum of Art in Beirut teil. Vorgeschlagen wurde ein in die Erde eingelassenes Museum mit Tunneln, die über die ganze Welt führen sollen z.B. zu einer „Residenz für das Recht auf Rückkehr“. Es stellt die kritische Hinterfragung eines solchen Baus dar, an dessen Finanzierung, Unterhaltung und Ausstattung und damit an den politischen Kräften, die maßgeblich dahinterstehen. Er hoffe, scherzt der Künstler, dies tatsächlich bauen zu können, nachdem der Wettbewerbssieger aufgeben musste und vom Zweitplatzierten nur ein Loch in der Erde existiere. Um Tunnel ging es auch 2016 in Stommeln, der ehemaligen Synagoge, die heute als Kunstraum genutzt wird. Auch an dieses Projekt erinnert Raad mit einer installativen Abbildung der Synagoge. An die Idee von Untergrund und Tunneln schließt sich ein Film an, der im Beiprogramm Ende Februar im Frankfurter Mousonturm zu sehen war, in dem Raad uns in die Keller des Louvre führt, als dieser die neue Abteilung für islamische Kunst einrichtete. Wie Spiralen bewegen sich die Verknüpfungen innerhalb dieses Œuvres. Bilderrückseiten von „bedeutenden Gemälden aus Palästina, Syrien und dem Libanon“, die mit Heuschrecken bemalt sind, verlinkt er mit jener Heuschreckenplage, die 1915 in Palästina eine Hungersnot auslöste und den Niedergang des Osmanischen Reichs beschleunigte. Im Raum sehen wir auch Fotografien von edlen Schmuckobjekten, Kleinskulpturen aus Schnecken, Muscheln, Gold- und Silberzierat, die jeweils mit einer Art Insekt bedeckt sind. Raad erklärt, sie stammten aus einer jordanischen Privatsammlung, und es habe noch kein Wissenschaftler herausfinden können, warum jeweils eine Gliederfüßlerart, Bienen, Spinnen, Kakerlaken, Ameisen usw., sich von einem bestimmten Objekt magisch angezogen fühle und immer dann auftauche, wenn die Gefäße nach Saudi-Arabien gebracht werden.
Eine Raumtapete, die im obersten Turmraum der Kunsthalle mit seinem weiten Ausblick Boden und Wände bedeckt, basiere auf Collagen, die eine Geheimagentin der libanesischen Armee angefertigt habe. Die Agentin, eine studierte Botanikerin, hatte sich als Codenamen für internationale Politiker die Namen von Blumen ausgedacht. So steht der Violette Hornmohn für Angela Merkel und der Indische Sesam für Helmut Kohl. „You don’t need drugs“, witzelte Raad, der eine Professur an der Cooper Union in New York hält, beim Presserundgang angesichts der wimmelbildartigen Visualisierung der Codenamen. Der kaleidoskopartige Teppich aus von Blüten hinterfangenden Politikerköpfen berauscht wie die Wasserfälle und kommentiert mit subtilem Witz den Geschichtsverlauf mit seinen wechselnden Protagonisten der Politik und deren fortlaufende Verstrickungen in die Konflikte des postkolonialen Nahen Ostens.
Empfohlen die Teilnahme an einem „Walkthrough“ des Künstlers durch seine Ausstellung, weitere sind für den 7., 8., 11.-15. Mai 2022 angekündigt.
Letzte Änderung: 23.03.2022 | Erstellt am: 23.03.2022
Walid Raad
We Lived So Well Together
11. Februar -15. Mai 2022
Kunsthalle Mainz
www.kunsthalle-mainz.de
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