Ersatzkunst. Die Wüsten-Jahre 1975-1985

Ersatzkunst. Die Wüsten-Jahre 1975-1985

Ausstellung

Von der Frankfurter Gegenwart in die Vergangenheit und zurück in die Zukunft: Die Ausstellung „Ersatzkunst. Die Wüsten-Jahre 1975-1985“ zeigt in verdichteter Form Höhepunkte der jüngeren Kunstgeschichte Frankfurts. Ursula Grünenwald hat sich die von Isa Bickmann kuratierte Schau in der Ausstellungshalle Schulstraße 1A in Frankfurt angesehen.

Ein Mann tanzt mit einem toten Schwein, ein anderer mumifiziert sein Werk, ein dritter zerschlägt Gartenzwerge. Eine Künstlerin stellt Figuren in Einmachgläsern still, eine andere schafft melancholisch-bedrohliche Bildwerke mit Märchenmotiven. Die ausgestellten Positionen verbindet, dass sie die Alltagsthemen und -materialien ihrer Zeit aufnehmen und damit scharfsinnig das Auseinandertreten von Schein und Wirklichkeit in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre inszenieren.

Ersatzkunst – „Nicht ganz das Richtige“

Der Titel „Ersatzkunst“ geht auf ein Ausstellungsprojekt Frankfurter Künstlerinnen und Künstler, darunter Stephan Keller (* 1937) und Vollrad Kutscher (* 1945), zurück. Die Ausstellung war ursprünglich für die Kommunale Galerie im November 1975 geplant, bis ihr kurzfristig die von städtischer Seite erteilte Zusage mit der Begründung entzogen wurde, die Werke seien „für die Zeit vor Weihnachten nicht ganz das Richtige“. Daraufhin beschloss die Gruppe, die Schau unter dem Titel „1. Ersatzausstellung“ in der Druckwerkstatt von Keller zu realisieren. Sie wurde zum Auftakt einer offenen künstlerischen Bewegung, in der experimentelle und kooperative Arbeitsformen eine zentrale Rolle spielten.

Blick in die Ausstellung ERSATZKUNST in Frankfurt. Die Wüsten-Jahre 1975–1985 | © Foto: Horst Ziegenfusz

Den Ersatz ersetzen

Betrachtet man die Exponate, wird schnell klar, dass sich der Begriff des Ersatzes nicht allein auf die fehlende Unterstützung von Seiten des Kulturamts richtete. Die verwendeten Materialen sind alles andere als fabrikneu. Es sind Werkstoffe und Objekte, die im Zuge des allgemeinen Wohlstands aussortiert und weggeworfen wurden, darunter gebrauchte Möbel, Setzkästen, Einmachgläser, aber auch Kaugummis. Die Künstler, die am Ende Zweiten Weltkriegs oder in der Dekade danach aufgewachsen waren, hatten ein Gespür für den sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umbruch in den frühen 1970er Jahren, in denen das Wirtschaftswunder von der ersten Weltwirtschaftskrise abgelöst wurde. Das belegen die Dokumente, Essays und Interviews in dem sorgfältig recherchierten, facettenreichen Katalog, der die Ausstellung begleitet. Dieser lässt nicht nur das ästhetische Umfeld der Gruppierung lebendig werden, sondern zeichnet zugleich ein Porträt Frankfurts und seines immer schon etwas rauen gesellschaftlichen Klimas. „Wir machen Ersatz und Ersatzhandlungen so, wie unserer Meinung nach z. B. der röhrende Hirsch über dem Sofa (früher) oder das Autokissen vor der Heckscheibe oder das Auto selbst, oder der Ruf nach Ordnung, oder ein faschistischer Aufmarsch, Ersatzprodukte sind“, erläutern Kutscher, Keller und Oskar Schmitz 1977 ihr Programm. „Aber“, fahren sie fort, „wir versuchen an die Stelle des normierten, manipulierten, einfallslosen, vorgegebenen Ersatzes den individuell geschaffenen, widersprüchlichen Ersatz zu setzen […]“. Es ist ein charmanter Nebeneffekt der Ausstellung, auch denjenigen, die erst später nach Frankfurt gekommen sind, die kulturelle und politische Atmosphäre jener Zeit zu vermitteln und damit auch bestimmte Konstellationen der Gegenwart zu erhellen.

Zeitgeist und Schwellenangst

Man kann die Entscheidung des Kulturamts von 1975 rückblickend spöttisch kommentieren, doch steht sie ganz offensichtlich für einen Zeitgeist, der eine wohltemperierte, politisch enthaltsame Kunst anstrebte und krisenhafte Zustände nach Möglichkeit ausblendete. Die mangelnde kommunale Unterstützung für die unkonventionelle Kunstszene steht für das kulturpolitische Vakuum, in dem sich die Bundesrepublik noch dreißig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus vielerorts befand. Dass die Kunst von Joseph Beuys bis weit in die 1980er Jahre hinein bürgerliche Gemüter erregen und Skandale hervorrufen konnte, zeigt die gesellschaftliche Sprengkraft einer Ästhetik, die die Grenze zwischen Leben und Kunst einzuebnen wagte. Der Unterschied zu anderen Ländern, vor allem zu den USA, war enorm, wo Künstler wie Allan Kaprow ab 1958 begonnen hatten, das Publikum mit Assemblagen und Installationen aus Alltagsgegenständen zu konfrontieren. Der bei der Lufthansa angestellte Stephan Keller kannte die US-amerikanischen Positionen und hielt seine Kolleginnen und Kollegen über die dortigen Trends auf dem Laufenden. Von ihm ist in der aktuellen Schau neben anderen Werken die großformatige Installation „Tapete auf Tapete (Tapetenhaus)“ zu sehen.

Oskar Schmitz, Schrebergarten, 1974, Keramik, 20 x 17 cm | © Foto: Horst Ziegenfusz

Ordnung, Konsum und künstliche Natur

Bei der Eröffnung am 3. September 2021 erzählte Keller, dass er für sein 1978 entstandenes, innen wie außen mit Klatschmohnblütenmuster verziertes Tapetenhaus ausgelacht worden war. In der Ausstellung ist die Installation nicht nur ihrer Größe wegen eines der Herzstücke der Ausstellung. Der rote Mohn steht für die bundesdeutsche Sehnsucht nach Ordnung und makellosen Oberflächen und verbindet sie mit künstlicher Natürlichkeit und den für die 1970er Jahre charakteristischen psychodelischen Tendenzen. Im Inneren der begehbaren Installation befinden sich Einrichtungsgegenstände, wie ein Fernseher auf einem Beistelltisch und eine nicht näher identifizierbare Büste auf einer Säule, die alle ebenfalls mit Klatschmohntapete überzogen sind. Die gerahmten, an der Außenseite ausgestellten Tapetenstücke hat Keller manuell nachgearbeitet. Ihre exponierte Hängung betont den Scheincharakter des Dekors, das alle Differenzen einebnet. Man wünscht sich das Werk neben Claes Oldenburgs „Bedroom Ensemble“ im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zu sehen oder neben Andy Warhols „Flowers“ im Museum of Modern Art in New York, wo es einen tiefgründigen interkulturellen Dialog in Gang setzen würde.

Auch die anderen ausgestellten Werke entziehen sich auf je eigene Art der gesellschaftlich erwünschten Ordnung. Walter Hanusch (* 1934) zeigt Figuren in gefängnisähnlichen Rastern, die häufig aus ausrangierten Setzkästen bestehen. Die 1974 entstandene Keramik „Schrebergarten“ von Oskar Schmitz (1947–2009) wuchert geradezu aus ihrem schalenförmigen Sockel. Nicole Guiraud (* 1946) pointiert und kommentiert Figuren und Klischees des bürgerlichen Lebens in Deutschland. Die dreidimensionalen Bildwerke der jung verstorbenen Künstlerin Annick Laforgue (1945–1976) sind trotz ihrer klaren Farben mit einer Melancholie unterlegt, die an menschliche Abgründe hinter heiteren Kulissen denken lassen. Die Arbeit „Hase zieht Sonne“ von 1972, in der sich ein Hase damit quält, eine Sonne hinter sich herzuziehen, lässt an Camus‘ Figur des Sisyphos denken, der in seinem Schicksal gefangen ist.

Keller - Kutscher – Schmitz, Sack O Sacks Sacks Theater, Performance 2. Ersatzkunstausstellung 1977 und Kunsthalle Darmstadt, Garuda Festival 1978, Still, Performance, Dauer: ca. 15 Min.

Frankfurter Subkultur und Gesellschaftskritik

Die Liste der Künstlerinnen und Künstler, die mit der Ersatzkunstszene verbunden waren und sind, liest sich wie ein „Who is Who“ der Frankfurt Subkultur, der immer schon ein anarchistischer Unterton eigen war. Zu den Wegbegleiterinnen und -begleitern der Ersatzkunst gehörten und gehören Matthias Beltz (1945–2002), Heinrich Pachl (1943–2012), Heiner Goebbels, Alfred 23 Harth und Ottmar Hörl, aber auch Jürgen Klauke und Kazuo Katase. Frankfurt hatte in den 1970er Jahren nicht nur eine lebendige Jazzszene zu bieten und beherbergte die wichtigsten westdeutschen Verlage. Die Stadt war auch der Sitz der einflussreichen Frankfurter Schule, Gründungsort der Neuen Frankfurter Schule und ein politisches Zentrum der 68er-Bewegung.

Während Künstler wie Beuys und Anselm Kiefer ihre Werke mit neuen Mythologien anreicherten, blieben die Frankfurter Künstlerinnen und Künstler unmittelbar an ihren Objekten aus ‚armen‘ Materialien, als wäre ihnen jegliche Überhöhung zuwider und deren Kunststatus nur zu ertragen, wenn er mit ironischer Distanz unterfüttert würde. So findet man in Kutschers Werkgruppe zum Thema Kaugummi auch keine auratische ‚Mundplastik‘ im Sinne Beuys, vielmehr entdeckt man ein in einem dunklen Holzrahmen präsentiertes Bild, das an eine Ansammlung kleiner Laubblätter erinnert. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Arbeit als eine Collage zerkauter Kaugummis in unterschiedlichen Gelb- und Beigeschattierungen. Die Arbeit von 1976 trägt den ebenso schlichten wie humorvollen Titel „Stillleben mit Blume“.

Zeit, Zeitlichkeit, Jetztzeit

Implizites Thema der Ausstellung ist die Zeit. Es treffen unterschiedliche Dimensionen von Zeitlichkeit aufeinander: historische Zeit, Lebenszeit, materielle Vergänglichkeit und die unwägbare, sprunghafte Krisenzeit der Gegenwart. Man spürt beim Betrachten der ausgestellten Werke ein feines Gefecht von Zeitströmen, die sich verbinden, mitunter eine gemeinsame Richtung einschlagen und im nächsten Moment wieder auseinanderdriften. Die Ausstellung richtet den Blick zurück und zugleich voraus. In der Zusammenschau der präsentierten Werke entsteht eine Konstellation, für die sich Walter Benjamins Formulierung des dialektischen Bildes geradezu aufdrängt: Gewesenes und Jetzt treten „blitzhaft“ zusammen und lassen dadurch Zukünftiges erkennbar werden. Die Werke der „Ersatzkunst“ rufen gesellschaftliche und ästhetische Fragen auf, die nicht nur die Künstlerinnen und Künstler in ihrer Zeit beschäftigten, sondern die bis heute relevant sind und weit über die Gegenwart hinausweisen. Der Klatschmohnfröhlichkeit des Tapetenhauses war immer schon ihre Scheinhaftigkeit und Vergänglichkeit eingeschrieben. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit erhielt nicht nur mit der Ölkrise 1973 einen ersten entscheidenden Dämpfer, auch der wegweisende Bericht des Club of Rome-Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ wies bereits 1972 darauf hin, dass die Westliche Art des Wirtschaftens und Konsumierens nicht von Dauer sein würde. Die Frankfurter Künstlerinnen und Künstler haben das vorweggenommen und für die Krisenhaftigkeit ihrer Zeit und unserer Zeit originelle Bilder gefunden.

Blick in die Ausstellung ERSATZKUNST in Frankfurt. Die Wüsten-Jahre 1975–1985 | © Foto: Horst Ziegenfusz

Wind einer kommenden Frühe

Vor dem Hintergrund dieser unverbrauchten Gesellschaftskritik wird deutlich, wie essentiell wichtig kulturelle Räume sind, in denen Außenseiter und Etablierte in unterschiedlichen ästhetischen Sprachen über Werte und Perspektiven streiten können. Benjamin schreibt, dass es in jedem wahren Kunstwerk eine Stelle gäbe, bei deren Betrachtung es die, die sich dort hineinversetzten, „kühl wie der Wind einer kommenden Frühe“ anwehe. In der „Ersatzkunst“-Retrospektive kann man viele dieser kühlen Momente des Verstehens genießen. Man wünscht all jenen, die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben, dass es ihnen noch häufig gelingt, solch erfrischenden Momente zu erzeugen.
Wer die Ausstellung besuchen möchte, hat bis zum 26. September 2021 Gelegenheit dazu. Am 15. September 2021, um 19:00 Uhr, führt die Kuratorin Isa Bickmann durch die Ausstellung. Am 26. September, dem Tag der Bundestagswahl, findet die Finissage statt.

Letzte Änderung: 18.09.2021  |  Erstellt am: 17.09.2021

Ausstellungsdauer: 3.–26. September 2021

www.ausstellungshalle.info

ERSATZKUNST. Die Wüsten-Jahre 1975 bis 1985

mit Textbeiträgen von / essays by
Isa Bickmann (Hg./Ed.), Rolf Dittmar, Heiner Goebbels, Nicole Guriaud, Alfred 23 Harth, Stephan Keller, Vollrad Kutscher, Eckhard Nordhofen, Margarete Christine Schmitz, Horst Ziegenfusz und einem Gespräch mit Ottmar Hörl.

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