Ein Spaziergang ist auch eine Kunst

Ein Spaziergang ist auch eine Kunst

Ausstellung Walk! in der Schirn Kunsthalle
Francis Alÿs, Ghetto Collector, 2003, Blech, Magnete, Kunststoffschnur und Gummiräder, 15,5 × 12 × 24 cm, Edition 39 / 99 , Edition 52 / 99 , Edition 74 / 99 | © the artist and Galerie Peter Kilchmann, Zurich / Privatsammlung, Schweiz

Mit einer dichten Präsentation versucht die Ausstellung WALK! in der Schirn Kunsthalle, Besucher und Besucherinnen zum Flanieren anzuleiten. Zwar werde die historische Basis der künstlerischen Praxis des Gehens nicht vermittelt, bedauert Isa Bickmann, doch die Schau biete beachtenswerte Umsetzungen einer jüngeren Generation Kunstschaffender. Es sind besonders die Künstlerinnen, von denen neue Impulse in die Walking Art eingehen.

Das Spaziergehen ist heutzutage ein wenig in Verruf geraten. Erst wurde es zum Volkssport in den ersten Monaten der pandemiebedingten Isolation, dann kam es mit den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen in Form der sogenannten „Spaziergänge“ zu seiner politischen Instrumentalisierung. Auch wenn es um die negativen Auswüchse hier nicht gehen soll, zeigen diese jüngsten Phänomene, dass das Gehens als alltägliche kulturelle Praxis eng mit der Verfasstheit öffentlicher Raums verbunden ist. Auch in das performative Potenzial der bildenden Kunst ist das Gehen seit den 1950er Jahren eingegangen, als Künstlerinnen und Künstler damit experimentierten, die Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden.2 Für die Schirn Kunsthalle bereiten der Kurator Matthias Ulrich und die Co-Kuratorin Fiona Hesse, die sich in ihrer Dissertation über Hamish Fulton mit einem der wichtigen Protagonisten der Walking Art seit den 1960er Jahren beschäftigt hat, das zeitgenössische Motiv des Gehens in einer sehr dichten Präsentation auf. Bemerkt sei vorab: Erklärt wird hier nicht viel. Der ausgegebene Plan des Ausstellungsparcours ist wie eine Landkarte umständlich zu entfalten. Deren Rückseite hält man leicht falsch herum, und die Beschilderung mit dem eigenwilligen Layout in Form auseinandergerissener Zeilen erleichtert ebenfalls nicht den Zugang. (In der parallel stattfindenden Schau der Schirn “„Kunst für keinen. 1933 bis 1945“”: https://faustkultur.de/kulturtipps-kunst/kunst-fuer-keinen-1933-1945/ ist dagegen hervorragend didaktisch aufbereitet und zeigt damit, dass es auch anders geht.)

WALK!, Bouchra Khalili, The Constellation Series, 2011, Installationsansicht | © Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Marc Krause

Der Parcours entlang der mit Kapitelüberschriften markierten Fußmatten überfordert schon am Eingang angesichts der Fülle der Exponate. Francis Alÿs‘ „Ghetto Collectors“ machen den Anfang. Es handelt sich dabei um aus Blechdosen gefertigte magnetische „Hunde“, in der späteren Edition von 99 Stück, und den Schwarz-Weiß-Film zur Aktion des aus Belgien stammenden Künstlers. Das Blechspielzeug hinter sich herziehend, sammelte er auf mehreren Spaziergängen 1991/92 den metallischen Unrat in den Straßen von Mexiko City. Er verband die Objektkunst mit dem Gehen und ließ den urbanen Raum zum stetigen Anwachsen der Skulptur beitragen. In der Arbeit verbindet Alÿs seine Kritik am White Cube mit einer Revision des Skulpturenbegriffs.3 Wie die flanierenden Vorläufer von Charles Baudelaire bis Franz Hessel hat der Belgier den Stadtraum als sozialen Ort sichtbar gemacht. Diese künstlerische Intention steht, wie auch das Dérive von Guy Debord und der Situationistischen Internationale, unerklärt im Hintergrund des mit Alÿs begonnenen Kapitels des „Umherrschweifens“, das in mehreren Exponaten aufscheint. Die Künstler und Künstlerinnen einer jüngeren Generation wie Yolande Harris und Ellie Berry oder Sohei Nishino binden sowohl das Urbane als auch die Landschaftserkundung in ihre filmischen und fotografischen Werke ein. Harris Werk, eine akustisch-suggestive Reise durch amerikanische Landschaften, in der sich persönliches Schicksal mit der Natur verwebt, hätte unbedingt einen eigenen Raum benötigt, um konzentriert zu hören und zu sehen sein zu können.

Minouk Lim, Portable Keeper, 2009, Video (Farbe, Ton), 12:53 min, Filmstill | © Foto: the artist and Tina Kim Gallery, New York

Wer sich im städtischen Raum bewegt, gerät unter Beobachtung. Auch das wird immer wieder von Künstlern und Künstlerinnen thematisiert. James Bridle fotografiert CCTV Cameras in London. 1981 hatte sich Sophie Calle von einem Detektiv observieren lassen. In der Schirn klingt ihre Idee in der in New York von dem Frankfurter Künstlerpaar Özlem Günyol/Mustafa Kunt durchgeführten Aktion „Male Subject & Female Subject“ an, wobei die beauftragte Detektei die Künstler nicht wissen ließ, wann die Beobachtung stattfand. Die fotografische Dokumentation und der Bericht lassen in harmlosen Vorgängen verdächtige Aktionen vermuten. Mit „Security Barriers A–Z“ weitet sich das Thema der Überwachung auf Motive der Abgrenzung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit aus: Auf einer langen Bilderleiste in 26 Digitaldrucken präsentiert Bani Abidi alle möglichen Formen von Sicherheitsbarrieren, die sie vor Gebäuden und Plätzen im Straßenraum von Karachi im heimischen Pakistan vorfand.

Özlem Günyol & Mustafa Kunt, Male Subject & Female Subject, 2011, Video (Farbe, Ton), 1:25:00 h, Filmstill | © Foto: Özlem Günyol & Mustafa Kunt

Die Straße ist von jeher ein männlich dominierter Raum. Jede Frau kennt das unangenehme Gefühl, sich schutzlos und bedrängt zu fühlen, besonders bei Dunkelheit oder an menschenleeren Orten. Die afghanische Künstlerin Kubra Khademi hat sich in einem Selbstversuch eine nach üppigen weiblichen Körperformen gestaltete „Rüstung“ angelegt, die sie über der Kleidung durch das Zentrum von Kabul trug. Massiv angegriffen und belästigt musste sie sich schließlich in das Auto eines Freundes flüchten. Fast körperlich ist der Situation in ihrem Film nachzuspüren. Die Rüstung mit ihrer Schutzfunktion des Körpers verkehrt sich hier ins Gegenteil. Auch Signe Pierce hat sich einer höchst unangenehmen Situation ausgesetzt: Gefilmt von Alli Coates läuft sie im Minikleid mit High Heels und einer spiegelnden Maske eine Partymeile in Myrtle Beach, South Carolina, entlang. Ihr laszives Gebaren erweckt Zweifel an einer eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit, was zu Beleidigungen und Pöbeleien führt, bis sie von einer Frau geschubst und zu Fall gebracht wird. „American Reflexxx“ greift die Mobbing-Mentalität ihrer Landsleute auf, ein Experiment, dessen aggressives Ende alle Erwartungen übertroffen hat. Hier sind die Grenzen zur Body Art fließend, wie auch in Mona Hatoums „Roadworks“, einer Straßenperformance im Londoner Stadtteil Brixton aus dem Jahre 1985, in der diese barfuß Dr.-Martens-Stiefel hinter sich herzog, eine damals beliebte Ausstattung von Skinheads und Polizei. Ihre Performance macht ebenso auf soziale Konflikte aufmerksam wie Regina José Galindo, die Fußspuren von menschlichem Blut auf der Straße hinterließ, um auf die Gewalt hinzuweisen, der insbesondere Frauen ihres Heimatlands Guatemala im Bürgerkrieg ausgesetzt waren.

Im öffentlichen Raum Spuren zu legen, kennt man seit den Situationisten. Das amerikanisch-kubanische Duo Allora & Calzadilla protestierte in Puerto Rico gegen Übungen des US-amerikanischen Militärs mit Botschaften, die sie als Fußspuren im Sand hinterließen. In den Innenraum verlegt Michael Dean seine Spuren: Er befragt die Sprache durch Setzung von Fußspuren in eine verklebte Sandmasse in Matratzenform und umhüllt sie mit einem Spannbetttuch.

Jan Hostettler, Füsse, 2016, über 3000 km zu Fuß, Winter, Frühling und Sommer, Blei, gegossen, 30 × 13 × 10 cm | © Foto: Jan Hostettler

Zum performativen Gehen gehört, dass Dinge mit sich herumgetragen werden, wie ein „Erinnerungsträger“ in einem Film der Koreanerin Minouk Lim oder eine Stange, an der allerlei Rückspiegel angebracht sind, die Hiwa K auf der Stirn durch Landschaften zwischen Türkei, Athen und Rom balanciert, um die eigene Flucht als Kind vom irakischen Kurdistan nach Europa nachfühlen zu lassen. Während das Gehen in der Kunst immer auch ein Ausdruck von Unabhängigkeit und Freiheit war, ist das Gehen-Müssen ein Thema, das die Kunst spät aufnahm. Es wird im westlichen Kunstbetrieb erst rezipiert, als Künstler und Künstlerinnen sich mit Rassismus, Migration und deren Ursachen beschäftigen. Pope.L entwickelt für die Ausgrenzung ein überzeugendes Bild. In „The Great White Way“ bewegt er sich kriechend oder mittels eines auf den Rücken geschnallten Skateboards rollend durch Manhattan.

„Mapping“ ist ein beliebtes Werkzeug der jüngeren Kunst. Bouchra Khalili lässt die Karten illegaler Migration zu Sternenkarten werden, nachdem sie den Schreckensberichten, die die Wandernden zu erzählen haben, zugehört hat. Sascha Pohle überträgt Gehwege der Städte, in denen er gelebt hat, in gewebte Stoffe und bringt diese performativ durch Falten und Aufhängen in Bewegung. Hamish Fulton, der seit einem halben Jahrhundert ausschließlich „Walk Works“ mit politischem und ökologischem Anliegen macht, ist sowohl als etablierter Künstler als auch mit aktuellen Werken in der Ausstellung präsent. Die Tätigkeit des Sammelns im Zuge von Spaziergängen wird in der Ausstellung in aller Breite als Motiv aufbereitet, und man könnte vielleicht auch den mit dem Ausrufezeichen versehenen Titel der Schau so verstehen: als Aufforderung, den künstlerischen Wirkungsbereich zu erweitern und sich Material anzueignen. Konzeptuelle Handlungen, wie die der Künstlerin Helen Mirra, denen eine poetische Schönheit innewohnt, erklären sich allerdings erst mit Hintergrundinformation. Sie transferiert mit Abdrucken von Gefundenem ihre Spaziergänge. Das Sammeln von Dingen, die am Wegesrand liegen, wie im Fall von Yuji Agematsu, der in den Straßen New Yorks Gefundenes systematisch dokumentiert, weitet das Thema des Gehens motivisch ins Unendliche.

Signe Pierce & Alli Coates, American Reflexxx, 2013, Video (Farbe, Ton), 14:02 Min., Filmstill | © Foto: the artists and Annka Kultys Gallery, London

Gehen belastet die Fußsohlen, das weiß jeder, der schon mal mehrere Stunden durch Museen und vergleichbare Orte flaniert ist, wenn auch nicht so weit wie Jan Hostettler, der sein in Blei gegossenen Füße mit „3000 km zu Fuß, Winter, Frühling und Sommer“ untertitelt. Die im Vorfeld der Schau als Einladung verschickten weißen Socken mit der Aufschrift „Walk!“, eine ziemlich geniale Marketingmaßnahme, zeigten plastisch auf, dass sich auch die Ausstellungsbesucher die Kunst erlaufen. Dies macht sich Carlos Bunga zu eigen, der in der Rotunde der Schirn, jederzeit auch ohne Ticket zugänglich – quasi als Ableger der Ausstellung, aber als Soloshow beworben – Türme aus Möbeln und Karton aufgebaut hat. Die an der Architektur der Schirn angelehnte Installation sieht er erst durch das Gehen aktiviert, während den Türmen bereits das Bewegliche, das Mobile und Nomadische innewohnt. Farbe liegt auf den Objekten und erinnert an vielen Stellen an aufgeplatzte Haut. Die Arbeit mit dem Titel „I always tried to imagine my home“ fragt nach eigener Verortung, Heimat und deren Verlust. Zum Ende der Ausstellung wird Bunga das Werk in einer Performance dekonstruieren.

Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass die Ausstellung zu viel will, was mitsamt der dichten Präsentation mit über 40 Künstlern zu einer physischen Beengung führt, die konträr zur künstlerischen Praxis des Gehens steht. Denn bei der Walking Art geht es doch eigentlich darum, den künstlerischen Aktionsradius performativ zu erweitern, indem der Atelier- bzw. Ausstellungsraum verlassen wird, um die städtische oder landschaftliche Umgebung wahrzunehmen. Da bedauert man die fehlende Verortung der zeitgenössischen Walk-Art-Künstler und -Künstlerinnen in die Traditionen des künstlerischen Gehens. Zu denken wäre hier an Richard Long oder Vito Acconci, der nur sechs Jahre älter als Fulton ist, wie auch die oben erwähnte Sophie Calle oder die Spaziergangswissenschaft/Promenadologie, begründet von Lucius Burckhardt, mindestens aber dessen Nachfolge wie z. B. Gerhard Lang und seine Wolkenspaziergänge. Trotz der nicht immer konsequenten Beschränkung auf gegenwärtige Positionen ist wenig zu spüren von dem zeitverschwendenden Flanieren eines Baudelaire oder der wahrnehmungsintensiven promenadologisch erfahrenen Umwelt und Architektur, und doch verbringt man ziemlich viel Zeit in dieser Ausstellung, deren Konzept und Werkauswahl die Besucher zu wenig an die Hand nimmt. So erschließt sich auch nicht die Bedeutung eines Kabinetts, das sich dem Frankfurter Häuserkampf der frühen 1970er Jahre widmet. Man könnte es als Antwort der Kuratoren auf die zu Spaziergängen missbrauchten aktuellen Demonstrationen verstehen.

WALK!, Ausstellungsansicht | © Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Marc Krause

1
) Der Titel dieses Beitrags „Ein Spaziergang ist auch eine Kunst” wurde zit. n.: David Le Breton, Die Kunst des Gehens, im Begleitkatalog „Walk“, hrsg. v. Matthias Ulrich und Fiona Hesse, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Wien 2022, S. 60.

2) 
Es gibt zahlreiche kunstwissenschaftliche Publikationen zum Thema. Vgl. u.a. Ralph Fischer, Walking Artists. Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten, Bielefeld 2011.

3
) Das Gehen ist zentrales Motiv im OEuvre des Künstlers. Vgl. dazu: Ursula Grünenwald, Francis Alÿs. Die Stadt als Handlungsraum, München 2017.

Zur Ausstellung ist ein durchaus lesenswerter Katalog erschienen, der alle Werke bildlich dokumentiert: WALK! herausgegeben von Matthias Ulrich und Fiona Hesse mit Marie Oucherif, mit Beiträgen von David Le Breton; Dee Heddon, Morag Rose, Maggie O’Neill, Clare Qualmann, Harry Wilson, Matthew Law; Fiona Hesse; Marie Oucherif; Noora Pyyry mit Ilari Leino sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt Philipp Demandt. Dt./Engl. Ausgabe, 240 Seiten, 225 Abb., 16,5 × 24 cm, Softcover, Verlag für moderne Kunst, ISBN 978-3-903572-59- 1, 29 € (SCHIRN), 35 € (Buchhandel)

Letzte Änderung: 20.04.2022  |  Erstellt am: 20.04.2022

WALK!
Schirn Kunsthalle Frankfurt

Dauer der Ausstellung:
18. Februar bis 22. Mai 2022

www.schirn.de

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