„Aus heutiger Sicht“ heißt eine Ausstellung im Frankfurter Museum Angewandte Kunst, mit der die Hochschule für Gestaltung Offenbach ihr 50-jähriges Bestehen als Kunsthochschule feiert. Co-Kuratorin Ellen Wagner reflektiert das Konzept der Ausstellung und lässt sie Revue passieren.
Kuratorische Perspektive zur Ausstellung "Aus heutiger Sicht"
Wie feiert man einen Fünfzigjährigen? Mit Luftballons und Kuchen? Luftschlangen? Vielen Gästen? Vor allem sicherlich mit guten Gesprächen und stets als Blick nach vorn, statt nur zurück. Für eine Hochschule für Gestaltung bedeutet dies, sich nicht auf dem Erreichten an abgeschlossenen Projekten ihrer Absolvent:innen ‘auszuruhen’, sondern die Gelegenheit einer musealen Jubiläumsausstellung zu nutzen, um ihre kreativen Energien auf das Potential des gegenwärtigen Moments zu lenken. Und so blickt auch die Ausstellung “Aus heutiger Sicht. Diskurse über Zukunft” um sich, statt bloß in eine Richtung. Von einer zehnköpfigen Gruppe kuratiert, wurde eine Auswahl an Beiträgen aus über hundert Einreichungen der Studierenden und Lehrenden.
Die Ausstellung umfasst drei ineinandergreifende Teile – den physischen Museumsraum, das Programm und eine Webseite. Dabei diente das Digitale schon im Vorfeld als Plattform, um in der Podcast-Reihe “Off_Line” Themen rund um die Ausstellung anzusprechen. Die Webseite “aussicht.space” zeigt Projekte aus dem analogen Raum, wie eigens für das Digitale Entstandenes. Ebenso finden sich dort Essays, die weiterführend über gesellschaftliche und kuratorische Herausforderungen nachdenken. Themen wie “Virtual Reality im Mobilitätsdesign” oder die “Mensa von morgen” waren Teil des Veranstaltungsprogramms, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissen, Wissenschaft und Kunst wurde gleich in mehreren Gesprächen interdisziplinär erörtert. Das abschließende Filmsymposium “Zurück zum Film FUTUR. Alte Zukunftsvisionen neu sehen” zeigte Science-Fiction-Beiträge aus einem in der Entwicklung befindlichen Archivs des HfG-Filmbereichs und diskutierte mit den Filmschaffenden über die Zukunft des Films.
Für uns alle hat sich in der Pandemie die Wahrnehmung eines Gegenübers verlagert: Durch Bildschirmfenster sehen wir uns an und technisch aneinander vorbei. Diese Situation reflektieren die assoziativen Textbausteine im Eingangsbereich. Die künstlerischen Arbeiten im ersten Raum variieren das Sehen durch Filter und Benutzeroberflächen hindurch. Svetlana Mijic zeigt Bilder, die sie über online einsehbare Kameras im öffentlichen Raum italienischer Städte gefunden und festgehalten hat. Die Überwachungskamera wird zur Vermittlerin, um Menschen in ihrem alltäglichen Rhythmus zu beobachten – und zu ‘treffen’, wenn Passant:innen in die Kamera winken und damit jemand anders meinen, aber auch uns erreichen. Der “Recording Room” wiederum, ein Projekt der Lehrgebiete “Performance im erweiterten Feld” und “Elektronische Medien”, geht dem Potential des Livestreams nach. Livestreams überfluten die Medienlandschaft: im Sport, beim Tele-Shopping, im Kulturbereich, für Konzerte, Theater, Performances. Solche medialen Formate mögen uns aktuell als Zumutung für unser soziales und kulturelles Leben vorkommen, die Arbeiten der Ausstellung zeigen aber, dass medienkritisch zu sein, nicht bedeutet, pessimistisch zu werden – sondern dass es möglich ist, all die neuen oder auch nicht mehr ganz so neuen Formate als Herausforderung zu sehen, deren spezifische Eigenschaften zu erkunden und zu nutzen.
Die Verzögerung und Beschleunigung dessen, was wirklich wird, was wir wünschen oder fürchten, ist etwas, woran wir aktiv teilhaben, dass wir gemeinsam gestalten können. Mehrere Designprojekte in der Ausstellung zeigen, wie soziale und politische Herausforderungen manchmal schneller, schlichter und wirkungsvoller angegangen werden können, als man angesichts der Lage zunächst gedacht haben mag. So schützt Hannah Weirichs Kapuzenjacke aus mehrlagigem Stoff davor, zum quantifizierbaren Datenbündel im Auge der Überwachungskameras zu werden. Johannes Bietz und Jonas Theisinger wiederum haben zu Beginn der Corona-Pandemie in beeindruckender Schnelligkeit hunderte Schutzvisiere für medizinisches Personal im 3D-Druck produziert und eine Open Source-Vorlage zur Verfügung gestellt.
Im „Heute“, dem Ausgangspunkt der Schau und ersten von sechs Raumabschnitten, stehen mediale Rahmungen im Zentrum, über die wir Wirklichkeit miteinander teilen, während der zweite Abschnitt „Mittel und Wege“ vorstellt, über welche Künstler:innen und Designer:innen ihre Umwelt adressieren. Zwischen Mensch und Maschine, individuellen, kollektiv und inklusiv gedachten Vorgehensweisen. Drittens thematisiert der Raum „Manifestationen“, wie wir uns inmitten all dieser Ansätze, Zukunft zu gestalten, behaupten – wie wir an Vergangenes anknüpfen, uns abgrenzen, zusammenschließen. Anschließend fordern die Abschnitte „Irritationen“ und „Risiken“ heraus, unser Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Perfektion oder das Verdrängen der Auswirkungen der Menschen auf die Umwelt mit Humor und dabei doch sehr ernst zu nehmen. Dies bereitet den Raum der „Utopien“ vor: Zwischen Sci-Fi und post-digitalen Wohnkonzepten zeichnen sich Ansätze für ein künftiges Zusammenleben ab.
Auf dem Weg wurden einige extrem ergebnisoffene Projekte entwickelt. Vielsagend ist, dass diese Unvorhersehbarkeit besonders im Abschnitt „Manifestationen“ relevant wurde – also dort, wo es darum geht, sich zu positionieren, sich in ein Verhältnis zu anderen zu setzen, anzudocken und zugleich zu etwas Neuem aufzubrechen. Die Installation der “Future Failures” (Lehrgebiet Bildhauerei) ist einem improvisierten Nachrichtenstudio und einer Sportsbar nachempfunden. Thema ist die Inszenierung – und ihr Scheitern. Richtig gut sitzen nur die Bildschirme, von denen Vorschläge verlesen werden, wie die HfG Offenbach in 50 Jahren aussehen könnte. Impuls ist die Faszination für das Abarbeiten daran, eine perfekte Bühne für den perfekten Auftritt zu schaffen – bzw. für die Zwischenräume, in denen sich der reale Raum und die eigenen „Mittel und Wege“ dieser Illusion sperren und ein Umdenken erfordern.
Während die “Future Failures” beherzt eine Wand hochziehen, macht man sich daneben daran, eine abzureißen: Die in den Raum tretende Wandzeichnung “Das Wichtigste ist Licht. Licht ist alles” (Lehrgebiet Bühnenbild und Szenischer Raum) zitiert im Titel Richard Meyer, den Architekten des Museums, und treibt dessen Grundsatz genauso auf die Spitze, wie sie ihn untergräbt: Wenn doch alles Licht und luftig sein soll, warum dann nicht die Wand sprengen und den Blick auf den Metzlerpark freigeben? Natürlich geht es in der Installation, die auf mit einem Sprengmeister vorgenommenen Markierungen basiert, nicht um reine Zerstörung, sondern um das Gedankenspiel, was möglich wird, wenn man bestehende Konstrukte in ihrer Bauweise hinterfragt. Die Installationen im Bereich „Manifestationen“ sind also – absichtlich – alles andere als trittsicher. Vielmehr beschäftigen sie sich mit Bühnen und Baustellen, in denen sich ideelle Gebäuden und Haltungen reflektieren.
Um das Bauen im übertragenen Sinne geht es auch in Nina Woods “Erzählform, Unerkennbarkeit, Seele”. Das Heft, das selbst ein kleines Gebäude ist, beschreibt metaphernreich Räume, Landschaften und Konstellationen zwischen Menschen und Generationen, die für Umbrüche im individuellen Denken stehen können. Ein paar Schritte weiter widmet sich “1970. Vision und Verantwortung”, angestoßen von Marc Ries und Kai Vöckler, in Bild-, Text- und Tondokumenten dem kollektiven Zeitgeist um 1970, als sich die Werkkunstschule zur Hochschule für Gestaltung Offenbach umbenannte. Viele heutige Fragen der Institution und der Gesellschaft wurden 1970 schon gestellt – wir hinken unseren Erwartungen an die Zukunft von damals, die heute unser Jetzt ist, hinterher. Schlagzeilen und Cover von Platten und Zeitschriften spielen die Hauptrolle in diesem Korridor. Es geht plakativ zu, was unter dem Aspekt des Manifestgedankens vielsagend ist: Welche Rolle spielt das attraktive Deckblatt, das Gesicht eines Projekts, einer Institution, einer Kampagne?
Auf der Stirnwand des Ausstellungssaales gibt es buchstäblich ein Manifest zu lesen – das von einer KI generiert wurde. Der Text zeigt Widersprüche, und man könnte daraus die Absurdität der Idee ableiten, man könne mit KI jegliche Kommunikation und Kulturproduktion automatisieren. Doch ist eine sogenannte Künstliche Intelligenz immer nur so intelligent wie die Muster, die ihr von Menschen antrainiert wurden, um diese zu wiederholen und zu variieren. Was sich manifestiert, tritt aus Strukturen, die wir bereits verinnerlicht haben, an die Oberfläche. Insofern sind Manifeste keine Ansage für den ‘Marsch voraus’, befreit von allen Konventionen. Auch wenn sie teils rhetorisch brachial daherkommen, sind sie vor allem: Anlässe für Diskussionen, Revisionen, Selbstbefragung.
Dass es bei einem konstruktiven Umgang mit Gegenwart und Zukunft nicht nur ums Nach-außen-Treten geht, sondern ebenso darum, sich aufnahmefähig zu machen für verschiedene Umwelten und Perspektiven – die die eigene Position nicht schwächen, sondern bereichern –, vermittelt sich im letzten Raum der Ausstellung. Ein Ausblick erfordert Bereitschaft zur Konfrontation, aber auch Anerkennung unserer Eingebettetheit und Verletzlichkeit. Der Utopienraum ist geprägt von Grenzverwischungen zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, der Natur und der Technologie, dem Digitalen und dem Analogen. Dabei ist Utopie nicht bloß „Schlaraffenland“, sondern droht immer dialektisch ins Dystopische umzuschlagen: Teils deutet sich das schon kritisch an, viele scheinbare Ideale von früher sind heute verwirklicht, aber auf ambivalente Weise: Technologische Errungenschaften kippen in Überwachungsphantasien, immer mehr Optionen werden zu Verpflichtungen, mobil, verfügbar, flexibel zu sein. Weil es geht. Ziel der Ausstellung ist es, aufzufordern, sich nicht passiv einem Fortschritt zu ergeben, sondern konventionelle Grenzen zu überdenken, die unser Verhalten prägen; gedanklich weg von dem, was machbar ist, und hin zur ganz zentralen Diskussion: Was wollen wir eigentlich – und was nicht?
Letzte Änderung: 21.03.2022 | Erstellt am: 26.08.2021
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