Disziplin des menschengemachten Erdzeitalters

Disziplin des menschengemachten Erdzeitalters

Ausstellung im Netz: »Geoästhetik«
„Earthrise“, Bill Anders (Apollo 8), 1968  | © Fotografie | NASA

Nicht erst die Astronauten der Apollo 8 haben die Erde als ästhetisches Objekt entdeckt. Poetisches Denken und nüchterne Befunde sieht der Schriftsteller Rolf Schönlau in den Objekten seiner imaginären Ausstellung verschränkt, die Karten, Fotos, Grafiken, Gemälden, Zeichnungen, Romanauszügen, Parolen und Soundtracks zum Thema Geoästhetik vereint und von Axel Kahr vorgestellt wird.

»Weltwahrnehmung«, so überschreibt Rolf Schönlau den Einführungsessay im Katalog seiner imaginären Ausstellung Geoästhetik, seit Ende 2020 online. Auch in der fiktiven Eröffnungsrede greift der Kurator nach den Sternen, wenn er sie, in Anspielung auf Uwe Johnsons Testament, »Für wenn mal eröffnet wird« nennt. Aus der Literatur kommen auch seine Gewährsleute: Für das Vorwort hat er Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo eingespannt, für das Nachwort einen seiner eigenen Protagonisten, Simon Reese aus dem dystopischen Hörspiel Das Hibernat. Der eine schaut zwei Jahrhunderte nach seiner Ballonfahrt auf einen Flugzeugfriedhof, der andere auf die Karte der Landverluste, die infolge der Erderwärmung zu erwarten sind.

Flugzeugfriedhof, Tucson, Arizona | © Foto: 32 08’59.96″ N, 110 50’09.03″W | Google Earth
Taschenglobus, Ende 18. Jh.

Es geht also ums Ganze. Und das nicht erst seit 1968, als die Crew der Apollo 8 den Fotoapparat nicht auf den Mond als Ziel der Mission richtete, sondern auf deren Ausgangspunkt und so das ikonische Bild von der aufgehenden Erde schoss. Dass das Nachdenken über die Gestalt unseres Planeten schon immer im Fokus stand, will die Ausstellung mit 30 Exponaten quer durch die Geschichte des Abendlandes belegen – Karten, Fotos, Grafiken, Gemälden, Zeichnungen, Romanauszügen, Parolen und Soundtracks.

Viele Exponate sind mit Schlagworten versehen, in der Art von Werbeslogans. Das überzeugt in vielen Fällen, wie etwa »Logo der Erde« für eine Weltkarte von 1472 oder »Blick in den Maschinenraum« für den Stich von 1888 mit dem Wanderer am Weltenrand. Auch der gedachte Mondbewohner, der Europa und Afrika an der Meerenge von Gibraltar als »Kuss der Kontinente« liest, ist eine hübsche Umkehrung der Vorstellung vom »Mann im Mond«. Nicht immer aber sind die Headlines so erhellend: »Die andere Apokalypse« für Caspar David Friedrichs »Gescheiterte Hoffnung« bringt ebenso wenig Erkenntnisgewinn, wie »Der blaue Planet« für das Foto von der aufgehenden Erde, auch wenn der dazugehörige Katalogtext über die Korrespondenz von Farben und Planeten sehr aufschlussreich ist.

Die Autoren für die Begleittexte wurden im Hinblick auf einen möglichst fachfremden Zugang zu den Exponaten ausgewählt: Ein Dermatologe beschreibt Verletzungen der Erdhaut durch den Abbau von Bodenschätzen, ein Landvermesser nimmt sich Dantes Hölle vor, ein Psychologe entwirft eine Typenlehre anhand der Vorlieben für bestimmte Kartenprojektionen, ein Landschaftsarchitekt kritisiert die Kammlagen der Mittelgebirge.Der exzentrische Blick von hoch oben, tief unten oder weit draußen ist originell, manchmal durchaus witzig, manchmal aber auch bemüht. Walter de Marias »Vertikalen Erdkilometer« in Kassel abzuhören und mit einer geologischen Bodenanalyse zu kombinieren, ist eine gute Idee, nur hapert es bei der Ausführung.

„Blutregen“, Unbekannter Künstler, um 1552 (Ausschnitt), Gouache | © Foto: Augsburger Wunderzeichenbuch, Tafel 81 | Wikimedia Commons

Die Ausstellung zeigt auch Modelle, die man sich gemacht hat, um die »wahrnehmungsästhetischen Zumutungen« der Kopernikanischen Wende fassbar zu machen – von Globen für die Westentasche des weltbeherrschenden Londoner Gentleman über Karussells, die den spielerischen Nachvollzug der Erdbewegung ermöglichen, bis hin zur Allmachtsphantasie von Karten im Maßstab 1:1. Für Landschaftsbau in geologischen Dimensionen stehen die Zürcher Punks, die sich 1980 »Nieder mit den Alpen« auf die Fahnen schrieben. Die kulturhistorischen Wurzeln solcher utopischen Parolen werden in der Ausstellung genauso fundiert freigelegt, wie Phänomene der Hochkultur, etwa der »Blutregen« im Augsburger Wunderzeichenbuch des 16. Jahrhunderts.

„Pantheon Rom“ (Ausschnitt), um 1734, Giovanni Paolo Pannini | Öl auf Leinwand | National Gallery of Art, Washington D.C. | © Foto: Wikimedia Commons

Eine »Verschränkung von Kunst und Wissenschaft, von poetischem Denken und nüchternen Befunden« nennt Schönlau die virtuelle Schau. Das sind große Worte, um die beiden Enden der Weltwahrnehmung zu vereinigen. Der ganz große Wurf ist es aber nicht, was der Schriftsteller und Ausstellungsmacher in seiner Geoästhetik vorlegt. Doch überraschende Bezüge spürt er immer wieder auf, die Verknüpfung von Disparatem ist seine Stärke, Denkanstöße liefert er an unerwartetem Stellen. Und das ist wiederum nicht ganz wenig.

Ob die Geoästhetik in einem realen Ausstellungsraum gut aufgehoben wäre? Nicht an der Wand, meint der Rezensent, aber vielleicht in einer geodätischen Kuppel nach Buckminster Fuller, der übrigens immer wieder zitiert wird. Im Netz jedenfalls überzeugt www.geoaesthetik.de mit einer einladenden Ausstellungsästhetik.

Letzte Änderung: 16.08.2021

Rolf Schönlau  | © Foto: Rolf Schönlau

Imaginäre Ausstellung
Geoästhetik

Online-Katalog der imaginären Ausstellung
Herausgeber und Kurator: Rolf Schönlau

seit Ende 2020

www.geoaesthetik.de

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