Der Orphismus und der Beginn der Abstraktion

Der Orphismus und der Beginn der Abstraktion

Ausstellung in Ludwigshafen

Der Orphismus ist einer der vielen Ismen, mit denen man der Vielfalt der modernen Kunstströmungen zu begegnen suchte. Sein Name wurde 1912 vom Dichter Guillaume Apollinaire gefunden für jene Richtung des Kubismus, die das Licht als den die Farben in Bewegung bringenden Faktor sieht. Das Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen zeigt erstmals eine Überblicksausstellung dieser Richtung. Isa Bickmann hat die sorgsam kuratierte Schau gesehen.

Ein transeuropäisches Phänomen

„Abstract painting should have rhythm and continuity comparable to harmonies of music.“(1), sagte Hans Hofmann, der 1934 seine Kunstschule in New York gründete und damit zum wichtigen und einflussreichen Lehrer der jungen abstrakten Künstler der New York School – wie Pollock, de Kooning, Newman und Motherwell – werden sollte. Er rühmte sich damit, dass er es war, der in seiner Pariser Zeit (1903-1914) Robert Delaunay auf Georges Seurat und damit auf den Simultankontrast aufmerksam gemacht habe (2). Hofmanns für die Malerei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts so einflussreiche Lehre gründete auf den europäischen Farbtheorien – von Goethes Farbenlehre über die von Seurat rezipierte Theorie der Simultan- und Sukzessivkontraste des französischen Chemikers Michel-Eugène Chevreuls (1839) bis hin zu den Lehren der abstrakten Malerei vor dem ersten Weltkrieg. Die Nachwirkung Letzterer beschränkte sich nicht allein auf die amerikanischen Abstrakten Expressionisten. Auch in Deutschland waren die frühe Abstraktionen folgenreich, wie z.B. die an die „Disques“ Delaunays erinnernden „Scheibenbilder“ Ernst Wilhelm Nays aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts anschaulich belegen können.

Diese beiden eben genannten Nachwirkungen mögen zeigen, wie wichtig die dem sogenannten Orphismus zuzurechnenden Künstler und Künstlerinnen für die zukünftige abstrakte Malerei werden würden. Gleichwohl blieb der Orphismus als Kunstströmung und Bruder des Kubismus weitgehend unbekannt. So ist es das Verdienst der Ausstellung im Wilhelm-Hack-Museum unter der Kuration von Nina Schallenberg, erstmalig in Deutschland eine Präsentation zusammenzustellen, denn bislang waren zumeist monografische Ausstellungen u.a. zum Künstlerpaar Delaunay-Terk zu sehen. Die Konzentration auf die Jahre 1911 bis 1913 – mit wenigen Ausnahmen bis in die frühen zwanziger Jahre hinein – ist eine sinnvolle Beschränkung, die allerdings nicht nur die französischen Künstler wie Robert Delaunay und Albert Gleizes einbezieht, sondern auch nach Italien zu den Anfängen des Futurismus mit Giacomo Balla, Umberto Boccioni und Gino Severini schauen lässt. Die in München und Paris tätigen Künstler russischer Herkunft wie Sonia Delaunay-Terk, Alexandra Exter, Wassily Kandinsky, Marc Chagall, Ljubow Sergeiewna Popowa, Michail Larionow spielten eine große Rolle in der „reinen Malerei“. Die Belgierin Marthe Donas gehörte ebenso dazu wie aus dem deutschen Sprachraum August Macke, Franz Marc, Max Ernst und Paul Klee, die gebürtige Polin Alexandra Exter sowie der Tscheche František Kupka, der übrigens im März 2018 eine Retrospektive im Pariser Grand Palais erhält.

Der Orphismus war ein transeuropäisches Phänomen, wenngleich sein Zentrum in Paris lag, damals Kunsthauptstadt Europas. Die Kontakte unter den Künstlern waren eng, aber sie existierten nie als Gruppe, zu verschieden waren die Stile, zu wenig konnten sich manche, wie z.B. Kupka, mit dem Begriff Orphismus anfreunden. Delaunay stellte 1911 beim Blauen Reiter in München aus, Marc und Macke waren im Oktober 1912 zu Besuch bei Delaunay in Paris. Im Januar 1913 reiste Delaunay mit dem Dichter Guillaume Apollinaire, der den Begriff Orphismus fand, nach Berlin, um in der Galerie des Sturm auszustellen. Apollinaires dort gehaltener Vortrag „La peinture moderne“ wurde übersetzt und in der Zeitschrift des Sturm veröffentlicht.

Robert Delaunay, Formes circulaires – Soleil No. 1, 1913, Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm | © Foto: Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen

Orpheus

„Wagemutig“ nannte Apollinaire den Kubismus und differenzierte die unübersichtlich werdende Strömung im Herbst 1912 in wissenschaftlichen, physischen, instinktiven und orphischen Kubismus. Was meinte er mit „orphisch“? Orpheus ist ein bekannter Sagenheld, der Stoff für Dichtung und unzählige Bild- und Musikwerke bot mit seiner tragischen Liebe zu Eurydike und seinem selbst Tiere und Felsen bezaubernden Gesang. Er endete von den Mänaden zerrissen, und sein abgetrennter, noch immer singender Kopf wurde auf einer Leier an die Küste der Insel Lesbos geschwemmt.

Nun könnte man meinen, der Begriff Orphismus ist ein Rückgriff auf die große Popularität jener mythologischen Musiker-Figur im Fin de siècle. Denn nicht nur wurde sein auf der Leier liegender abgetrennter Kopf von diversen Künstlern der Jahrhundertwende dargestellt (Gustave Moreau, Alexandre Séon, Jean Delville, Odilon Redon bis William Waterhouse), auch ging der Stoff in die Musikgeschichte ein, wie in Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ – vielgespielt in der Berlioz-Überarbeitung von 1856. Guillaume Apollinaire schrieb 1911 „Bestiarium oder Das Gefolge des Orpheus”, in das er mit folgender Strophe einsteigt.

Orpheus
Bewundert die besond‘re Gabe,
Der Linie vornehmes Gehabe:
Die Stimme ist es, die angehörte dem Licht,
Und mit der Hermes Trismegistos
In seinem Poimander spricht.

Bei Trismegistos‘ Entstehung der Welt erhebt sich „ein unartikulirter [sic] Schall, gleich der Stimme des Lichts“ aus der Finsternis. Der Hermetismus war am Ende des 19. Jahrhundert Teil okkulter Strömungen, auf deren Geläufigkeit Apollinaire hier wohl setzte. Der Dichter ergriff folglich im 1912 veröffentlichen kunstkritischen Text Partei für die unter Kritik stehenden jungen Kubisten, in dem er einen akzeptierten Begriffskosmos über sie stülpte. Wenn man die junge Malerei mit Orpheus, jener Lieblingsgestalt des Jahrhundertendes, verbindet, kann sie ja so falsch nicht sein! Der Kubismus, der aufgrund seiner Fokussierung auf die Linie, noch als mit dem Impressionismus verbunden schien, erhielt nun mit der Erweiterung zum Licht und zur Farbe mit musikalischen Qualitäten einen eigenen Namen. Heute würde man dies eine PR-Maßnahme nennen und zur Verbreitung mit einem Hashtag versehen.

August Macke, Farbige Formenkomposition, 1914, Öl auf Leinwand, 53,5 × 44 cm, Albertina, Wien. Sammlung Forberg | © Foto: Foto: Fotoatelier Peter Schälchli, Zürich

Licht

Für Herwarth Waldens Sturm schrieb Apollinaire: „Eine andere Richtung des Impressionismus steigert sich dem Erhabenen, dem Lichte zu. Die Bemühungen der Impressionisten hatten diese dahin gebracht, das Ebenbild (le simulacre) des Lichtes zu malen. Dann kam Seurat; er entdeckte den Kontrast der Komplementärfarben, konnte sich vom Bilde aber nicht losmachen, weil ein Kontrast nur durch sich selbst bestehen kann, trotzdem war diese Bemühung beträchtlich, wenigstens in der Hinsicht, daß sie vielen neuen Suchern den Weg ebnete. Delaunay glaubte, daß, wenn tatsächlich eine einfache Farbe ihr [sic] Komplementärfarbe bedingt, sie diese nicht bedingt, indem sie das Licht zerbricht, sondern indem sie gleichzeitig alle Farben des Prisma erregt. Diese Tendenz kann man Orphismus nennen. […]“(3)

Franz Marc, Kleine Komposition IV, 1914, Öl auf Leinwand, 39 × 49 cm | © Foto: Franz Marc Museum, Kochel a. See

Die Farbe steht im Zentrum dieser „reinen Malerei“, wie Apollinaire die gegenstandslose Bildkunst übertitelte. Und das lässt sich in den offenen Ausstellungsräumen des Wilhelm-Hack-Museums sehr gut nachvollziehen, da Durchblicke zwischen den in fünf Kapiteln verteilten, aus insgesamt 60 Werken, darunter 50 Leihgaben, bestehenden Schau möglich werden. Groß aufgezogene historische Fotografien bringen jene Zeit in Schwarz-Weiß näher, z.B. ein Blick in den Salon d’Automne 1912 oder in die Privaträume von Robert Delaunay und seiner Frau Sonia Terk 1914. Leseinseln inmitten der Ausstellungsräume bieten die Möglichkeit zur Vertiefung: Da liegen z.B. Delaunay Text „Zur Malerei der reinen Farbe“ in der dt. Version herausgegeben von Hajo Düchting oder Fernand Légers Schriften zur Kunst „Mensch. Maschine. Malerei“. Hier könnte man mehrere Stunden verbringen.

Die unter den Kapiteln gereihten Bilder lassen sich untereinander austauschen, so klar kann die Trennung zwischen „Orphismus, reine Malerei“, „Stimme des Lichts“, „Malerei der reinen Farbe“, „Idee der Form“ und „Rhythmische Simultaneität“ nicht gesetzt werden. Wenn Chevreuls Simultankontrast die den Orphismus bestimmte Methode war, und somit Sehen und Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt wurden, so führt die Ludwigshafener Ausstellung genau dieses vor Augen, in dem sie kreisende Formen von Sonia und Robert Delaunay mit Kupkas Gemälde „Vase de fleurs“ paart, wo die lichthaltige Farbe geradezu explodiert. Oder August Mackes „Farbige Karos“ mit Ljubow Popowas „Suprematistischer Komposition“ dem vergleichenden Blick anbietet und genügend Freiraum bereitstellt, um sich zum Beispiel auf die rasende Geschwindigkeit in den Bildern des italienischen Futuristen Giacomo Balla oder auf die Prismenformen bei Franz Marc einzulassen. Der Katalog folgt der fünfteiligen Gliederung der Ausstellung und wartet mit einer Chronologie und einer Sammlung textlicher Originalquellen mit ihren jeweiligen Übersetzungen ins Deutsche auf. Das ist wunderbar und erleichtert die theoretische Vertiefung des Gesehenen.

(1) Hofmann, 1956, zit. von Frank Crotty, in: Expert in Abstract, Worcester Sunday Telegram, 18.11.1956, S. 29.
(2) William C. Seitz, Ausst.Kat. Hans Hofmann, MoMA, New York 1963, S. 7.
(3) Guillaume Apollinaire, Die moderne Malerei, in: Der Sturm 3, Nr. 148–149, Feb. 1913, S. 272, abgedruckt im Katalog auf S. 241.

Letzte Änderung: 07.08.2021

Nina Schallenberg, Wilhelm-Hack-Museum (Hg.) Stimme des Lichts – Delaunay, Apollinaire und der Orphismus, Beiträge von E. Franz, S. Goetzmann, J. Nebenführ, P. Rousseau, N. Schallenberg, J. K. Thiemann, M. E. Versari, R. Zechlin Gebunden, 224 Seiten, 135
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