Das Waisen-Karussell
Erstaunlich, dass es überhaupt gelang. Zwischen den Pogromen im November 1938 und Kriegsbeginn 1939 konnten etwa 20.000 Kinder vor der antisemitischen Gewalt ins Ausland gerettet werden, die Hälfte davon nach England. Wie Doris Stickler berichtet, erinnert jetzt in Frankfurt ein Denkmal daran und eine Ausstellung in der Deutschen Nationalbibliothek.
„Auf Wiedersehen, Mutter“, Auf Wiedersehen, Vater“, „Auf bald, mein Kind“. Diese hoffnungsvollen Abschiedsworte sind auf einem Denkmal zu lesen, das in Frankfurt seit Anfang September an die Kindertransporte erinnert. Erfüllt haben sie sich in den wenigsten Fällen. Die meisten der vor den Nazis in Sicherheit gebrachten Kinder sollten ihre Eltern nie wieder sehen. Sie wurden in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.
„Waisen-Karussell“ nennt Yael Bartana denn auch ihr Werk, das ein kaum beachtetes Kapitel der NS-Zeit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt. Das gelingt der israelischen Künstlerin mit der Replik eines Kinderkarussells aus den 1930er Jahren. An der Kreuzung Gallusanlage/Kaiserstraße fällt das Spielgerät unweigerlich ins Auge. Zumal es funktionsfähig ist und zum Benutzen verlockt.
Wenn man das Karussell dreht, leistet es allerdings Widerstand. Mit der Barriere verweist Yael Bartana auf die grausame Zwangslage der Familien. Es muss die Eltern unsägliche Überwindung gekostet haben, ihre Töchter und Söhne einem ungewissen Schicksal anzuvertrauen. Ein paar Schritte entfernt sind auf einer Bodenplatte die Dimensionen der Kindertransporte festgehalten.
Die international renommierte Künstlerin dachte bei der Konzeption aber auch an die Gegenwart. Unzählige Kinder und Erwachsene müssten heute aus ihren Heimatländern fliehen, um zu überleben. Kulturdezernentin Ina Hartwig begrüßt diese Mehrschichtigkeit. Gerade in einer multiethnischen Stadt wie Frankfurt „eröffnet das Denkmal einen Einstieg in die komplexe historische Thematik und regt zur weiteren Auseinandersetzung an“.
Die Politikerin ist überzeugt, dass das Waisen-Karussell „im Sinne einer modernen Erinnerungskultur seine Wirkung entfalten“ wird. Dazu trage auch der „ideale Standort“ bei. Dass sich die Familien bereits rund 500 Meter vor dem Bahnhof trennen mussten, mache das „zynische Kalkül der Nazis“ deutlich. Um emotionale Szenen am Bahnsteig zu verhindern hätten die Kinder das letzte Stück alleine gehen müssen.
Dies sei wie bei den Deportationen aus der Großmarkthalle, dem KZ Adlerwerke oder den Zerstörungen der Synagogen „unter den Augen der Bevölkerung geschehen, die hinterher von nichts gewusst haben wollte“. „In Zeiten, in denen sich wieder zunehmend Stimmen dieses Narrativs bedienen – inzwischen auch im Bundestag – mahnt das Denkmal die gemeinsame Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen an“, steht für Ina Hartwig fest.
Dass nach London, Berlin, Wien, Danzig, Rotterdam und Hamburg nun auch Frankfurt der beispiellosen Hilfsaktion ein Denkmal setzte, war im Grunde überfällig. Am hiesigen Hauptbahnhof startete schließlich die Reise für Kinder aus dem gesamten südwestdeutschen Raum – mindestens 600 haben in Frankfurt gewohnt. Insgesamt waren es etwa 20.000 Kinder und Jugendliche, die zwischen den Novemberpogromen 1938 und dem Kriegsbeginn im September 1939 von Deutschland, Österreich, der damaligen Tschechoslowakei und Polen ins sichere Ausland gebracht worden sind.
Die meisten nahm Großbritannien auf, wo auch Renata Harris Zuflucht fand. Mit gerade mal zehn Jahren ihrer Kindheit, Familie und Freunde beraubt, kam sie im August 1939 nach London. Anfangs glaubte sie noch an die Worte ihrer Mutter, die beim Abschied in Frankfurt versicherte: „Wir sehen uns in ein paar Wochen wieder.“ Adelheid Adler schaffte es aber nicht mehr, aus Deutschland zu fliehen. Sie wurde ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und ermordet.
Renatas Vater hatte sich zwar bereits im April nach England retten können, gesehen hat ihn die Tochter jedoch selten. Durch die Haft im KZ Buchenwald, dem Verlust der Heimat, der sozialen Deklassierung und den vergeblichen Bemühungen, seine Frau nachzuholen, war Alfred Adler traumatisiert und ein gebrochener Mann. Mit Kriegsbeginn wurde er zudem als „Enemy Alien“ – als feindlicher Ausländer – auf der Isle of Man interniert.
Dank der Kindertransporte ist Renata Harris den Fängen der Nazis entkommen, doch lasten die Erfahrungen jener Zeit noch immer auf ihr. Nach langen Jahren des Schweigens und Verdrängens kehrte sie 2012 erstmals nach Frankfurt zurück. Danach ist sie im Rahmen der städtischen Besuchsprogramme für gerettete Kinder wiederholt in ihre Geburtsstadt gereist und hat in Schulklassen von ihrem Schicksal erzählt.
Bei einem der Aufenthalte stieß Renata Harris die bleibende Erinnerung an die „Kindertransport-Kinder“ und ihren Familien an. Mit dem Appell „Stellt doch wie in anderen Städten, auch in Frankfurt endlich ein Denkmal auf“ rannte sie bei Angelika Rieber offene Türen ein. Die Vorsitzende des Vereins „Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt“ brachte dann das Denkmalprojekt auf den Weg, das unter Federführung des Kulturamts realisiert worden ist.
Hatte Renata Harris bei ihrem letzten Besuch in Frankfurt 2018 ausdrücklich angemahnt „Ich möchte die Einweihung noch miterleben“, ist ihr Herzenswunsch nun in Erfüllung gegangen. Aufgrund eingeschränkter Mobilität konnte die 92-Jährige zwar nicht persönlich zugegen sein. Sie sei aber überglücklich, dass ihr Aufruf sichtbare Früchte getragen hat, versichert ihr Sohn Oliver Neth, der an ihrer statt bei der Einweihung zugegen war.
Letzte Änderung: 02.02.2022 | Erstellt am: 18.09.2021
Einen Tag vor der Einweihung des Waisen-Karussells wurde im „Deutschen Exilarchiv 1933-1945“ der Deutschen Nationalbibliothek die Ausstellung „Kinderemigration aus Frankfurt“ eröffnet. Anhand sechs exemplarischer Biografien wird das Thema Kindertransporte in seinen ganzen Dimensionen vor Augen geführt. Die Ausstellung richtet unter anderem den Blick auf Traumatisierungen und Schuldgefühle bei Kindern und Eltern, die Situation der Kinder in den Aufnahmeländern, die lokalen Frankfurter Gegebenheiten, die bürokratischen Aspekte sowie die Helferinnen und Helfer.
Im Rahmen der bis zum 15. Mai 2022 zu sehenden Ausstellung wird ein vielfältiges Begleitprogramm angeboten. Detaillierte Informationen
Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt, Adickesallee 1, Tel.: 069 1525-1900, Montag bis Freitag 9–21.30 Uhr, Samstag 10–17.30 Uhr, Eintritt frei
Voraussichtlich Ende Oktober erscheint der von Sylvia Asmus und Jessica Beebone herausgegebene Katalog „Kinderemigration aus Frankfurt am Main. Geschichten der Rettung, des Verlusts und der Erinnerung“. Das Buch geht auch auf das Denkmal ein.
Wallstein Verlag, 264 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 9783835339842
Mitglieder des Verein „Projekt Jüdisches Leben in Frankfurt“, die seit Beginn der Besuchsprogramme in den 1980er Jahren mit mehr als einhundert „Kindertransport-Kindern Interviews führten, veröffentlichten 2018 die Lebensgeschichten von 20 Personen in dem Buch: „Rettet wenigstens die Kinder. Kindertransporte aus Frankfurt am Main – Lebenswege von geretteten Kindern“. Herausgegeben von Angelika Rieber und Till Lieberz-Groß, 304 Seiten, Fachhochschulverlag Frankfurt, 25 Euro, ISBN 978-3‐947273‐11‐9
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