Utopie oder die Realität von morgen

Utopie oder die Realität von morgen

Textland Literaturfest 2023 in Frankfurt am Main

Am 8. und 9. Dezember 2023 findet in der Evangelischen Akademie zum sechsten Mal das Textland Literaturfest statt. Veranstaltet von der Faust Kultur Stiftung, wird es in diesem Jahr von der Schriftstellerin Tanja Maljartschuk und dem Dichter Alexandru Bulucz kuratiert. Unter dem Titel „Utopie oder die Realität von morgen" führt Leon Joskowitz durch das Festivalprogramm.

Utopische Weltanschauungen sind in Verruf geraten. Infolge der weltgeschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts sind Dystopien an die Stelle von Utopien getreten. Der Wandel erfasste Literatur, Kunst und Film gleichermaßen, wo oftmals Schreckensbilder zukünftiger Gesellschaften dominieren. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen leuchtet das diesjährige Textland-Festival aus, welche Positionen Literatur, Philosophie und Wissenschaft dabei beziehen. Standen bei den letzten Festivals literarische Erinnerungsnarrative im Mittelpunkt, wird dieses Mal auf die Verbindung zwischen Erinnerung und Zukunft geschaut. In Gesprächen, Lesungen und Performances werden von den Mitwirkenden die Gegenwart und die Realitäten von morgen in den Blick genommen.

Freitag, 8. Dezember 2023, 17 Uhr

Zum Auftakt widmet sich die Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrem Impulsvortrag der „Zukunft des Erinnerns”. In der anschließenden Diskussion lotet sie mit dem Literaturwissenschaftler und Kurator Ibou Coulibaly Diop und dem Historiker und Erziehungswissenschaftler Meron Mendel aus, wie die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus und der NS-Vergangenheit gelingen, eine Praxis der Wiedergutmachung aussehen und gegenwärtiger Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Rechtsextremismus wirksam verhindert werden können. Moderation: Insa Wilke.

Anschließend liest der Schweizer Schriftsteller und Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss aus seinem neuen Roman „Die Krume Brot“ und spricht mit Tanja Maljartschuk über Themen, die unsere Vergangenheit bestimmten und damit auch die Zukunft prägen werden.

Theresia Enzensberger stellt ihren Roman „Auf See“ vor, der von den utopischen Versprechen neuer Gemeinschaften handelt und die Erfahrung von Glück im Angesicht des Untergangs schildert. Über ihre Zukunftsvorstellungen spricht sie mit Miryam Schellbach.

Zum Abschluss des ersten Festivaltags haben die diesjährigen Kurator:innen Tanja Maljartschuk und Alexandru Bulucz unter dem Motto „Parade der Utopien” einen Lesereigen aus dem reichen Fundus literarischer Zukunftsvisionen zusammengestellt, die sich von Christine de Pizans feministischem Werk „Das Buch von der Stadt der Frauen“ über Thomas Morus’ namensgebende Schilderung eines vorbildlichen Staates „Utopia“ und Karin Boyes dystopischen Roman „Kallocain“ bis Kurt Vonneguts satirischer Science-Fiction „Katzenwiege“ erstrecken. Gedichte von Ingeborg Bachmann, Erich Fried und Wisława Szymborska ergänzen die Prosatexte. Nach Einführungen in die ausgewählten Texte folgen die Lesungen der Sprecherin Birgitta Assheuer und der Schauspielerin Barbara Englert.

Samstag, 9. Dezember 2023, 11 Uhr

Die Samstagmatinee zur „Zukunft der Kritik” eröffnet den zweiten Festivaltag mit einem Gespräch über den Status quo der Gegenwartsliteraturkritik. Mit Maryam Aras, Insa Wilke, Klaus Kastberger und Miryam Schellbach (Moderatorin) diskutieren vier prominente Literaturvermittler:innen die Relevanz professioneller Kritik. Wie behauptet sich Literaturkritik in einer Zeit, in der Feuilletons der Rezension immer weniger Platz einräumen und gleichzeitig massiv Leser:innen verlieren und Dauerreformen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks häufig Kürzungen in der Kulturvermittlung zur Folge haben? Welche Strategien verfolgt sie, um der überbordenden Literaturproduktion einer postmigrantischen Gesellschaft gerecht zu werden, die herkömmliche Literaturtraditionen in Frage stellt?

Nach der Mittagspause folgen ab 14 Uhr drei Panels, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Zukunft und ihre Verwurzelung in der Vergangenheit auseinandersetzen:

Gespräche und Lesungen unter dem Titel „Spiritualität der Zukunft” mit Arnold Stadler, Milena Michiko Flašar, Nora Gomringer
Moderation: Carsten Otte und Leon Joskowitz
Ignatius von Loyola bezog Spiritualität auf geistliche Übungen (Exerzitien), die den Gläubigen bei der Gottsuche helfen, ihr Leben auf Gott auszurichten. Die fortgeschrittene Emanzipation des Menschen von Gott, religiösem Glauben und Kirche hat inzwischen zu einer Entkoppelung des Begriffs der Spiritualität geführt. Sie kann auch säkular sein und sich im Profanen universaler Themen zeigen – wie in der Glückssuche „Irgendwo. Aber am Meer“, in der Konfrontation mit dem japanischen „Kodokushi“, dem einsamen Sterben, oder an der inzwischen als gefährdet erklärten Gottesanbeterin, einer Schrecke, die durch die Haltung des vorderen Beinpaars zu einer „Gottesanbieterin“ wird. Arnold Stadler und Milena Michiko Flašar lesen aus ihren neusten Romanen. Die Lyrikerin und Filmemacherin Nora Gomringer gestaltet ihre Lesung als Performance.

Gespräche und Lesungen mit Fiston Mwanza Mujila, Nino Haratischwili, Ralph Tharayil
Moderation: Hadija Haruna Oelker
„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber / wo ich bin, will ich nicht bleiben“. Mit diesen Zeilen beginnt eines der bekanntesten Gedichte von Thomas Brasch. „Kargo“, den Band, in dem es erschien, veröffentlichte Brasch 1977. Es war das Jahr, als er aus politischen Gründen die DDR verließ. Der Wunsch, Verlusterfahrungen abzuwenden, wird durch das „aber“ dementiert. Ein dauerhaftes Bleiben wäre nur in der Utopie möglich. Aber dorthin aufzubrechen, bedeutet, sein Hab und Gut am Ausgangsort stehenzulassen. Mit ihren Romanen haben Fiston Mwanza Mujila, Nino Haratischwili und Ralph Tharayil diesem Paradox vielfältigen, biografisch motivierten Ausdruck verliehen.

Gespräche und Lesungen unter dem Titel „Zukunft braucht Herkunft” mit Deniz Utlu, Ann Cotten, Martin Piekar
Moderation: Alexandru Bulucz und Miryam Schellbach
„Wo wir anfangen, ist niemals der Anfang“, antwortete der Philosoph Odo Marquard, als man ihn nach dem leicht missverständlichen Titel seines Essaybandes „Zukunft braucht Herkunft“ fragte. „Das uns prägende Vergangene ist doch immer schon da – Familie, Sprache, Institutionen, Religion, Staat, Feste, Geburt, Todeserwartung – wir entkommen ihm nicht.“ Mit anderen Worten: Unser Jetztzustand ist maßgeblich von unserer Herkunft bestimmt, erst recht, wenn wir das tradierte Wissen und die „Anleitungen der Vorfahren“ berücksichtigen, und selbst dann, wenn uns soziale Aufstiege weit von ihnen distanzieren. Welche Form muss ein Diskurs annehmen, damit die Kritik und das „Lob des Herkommens“, so eine Wendung von Gottfried Keller, koexistieren können? Eine Veranstaltung, in der sich Herkunfts-, Erinnerungs-, Kolonialismus- und Zukunftsdiskurs überblenden.

Letzte Änderung: 06.12.2023  |  Erstellt am: 28.10.2023

Tickets über AD-Ticket oder an der Tageskasse der Evangelischen Akademie Frankfurt.

Während des Festivals können Publikationen am Büchertisch der Autorenbuchhandlung Marx & Co erworben werden.

Das Textland Literaturfest findet in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Frankfurt statt und wird gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, Kulturfonds Frankfurt RheinMain, Crespo Foundation, Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main, Naspa Stiftung, Sparkassenstiftung Hessen-Thüringen, GMVV Strategic Think Tank.

www.faustkulturstiftung.de

Streaminglinks der Evangelischen Akademie Frankfurt:

Freitag: https://www.youtube.com/watch?v=ka11TMYaddw

Samstag: https://www.youtube.com/watch?v=ZkIcKHbdqdQ

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