Miroslav Tichy
Miroslav Tichy fotografierte Frauen. Nichts anderes. Seine Modelle wählte er spontan und ohne deren Einwilligung. Er fotografierte Mädchen und Frauen von der Straße, vom Strand, aus der Nachbarschaft. Keine Stars, keine Berühmtheiten, nicht einmal Freunde und Bekannte. Die Bilder des tschechischen Fotografen und Malers faszinieren durch ihre Unvollkommenheit: entrücke, unscharfe Fotos von Frauen, die aus einer anderen Zeit und Welt zu sein scheinen. Miroslav Tichy war ein Outsider Künstler, ein Sonderling, der ein unwahrscheinliches, bis dahin fast gänzlich unbekanntes Werk hinterlassen hat.
Miroslav Tichy wurde am 20. November 1926 in Nětčice in Mähren, heute Tschechien, geboren. Seine früh zum Ausdruck gebrachten künstlerischen Neigungen, die sich in beachtlichen Mal- und Zeichen-Versuchen niederschlugen und zu einer Ausbildung an der Prager Kunstakademie führten, wurden nahezu völlig verschüttet, als sein Leben durch die Machtergreifung der Kommunisten aus den Fugen geriet. Mehrfach musste sich Miroslav Tichy stationär einer psychiatrischen Behandlung unterziehen, zu Beginn der 1970er-Jahre wurde er gar zu einer halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der hoffnungsfrohe Künstler verfiel zu einem Außenseiter der Gesellschaft, der sein Äußeres nicht pflegte und als lokaler Sonderling galt – nicht zuletzt seines eigentümlichen Mantels wegen, den er über Jahre hinweg mit Nadel, Faden und vor allem Draht flickte. Der Verlust seines Ateliers veranlasste Miroslav Tichy, mit der Malerei aufzuhören und sich ganz aufs Zeichnen und Fotografieren zu verlegen. Seine Kameras stellten ein ähnliches Flickwerk dar wie sein Mantel: Er konstruierte sie selbst aus Konservendosen, Klorollen, alten Brillengläsern und Pappkarton und machte sich auf die Suche – nach Frauen.
Miroslav Tichy war zeitlebens weit entfernt von den glamourösen Frauenporträts seiner berühmten Künstlerkollegen. Er streifte umher, mit seinen selbstgebauten, absurden technischen Improvisationen, zusammengehalten von Teer und Kaugummi, und drückte immer dann auf den Auslöser, ein altes Gummiband, wenn er eine Frau fand, die ihn interessierte: Das waren alte Frauen auf dem Markt und junge Mädchen im Schwimmbad. Die Fotografierten fragte er nicht um Erlaubnis, sondern nahm sie einfach auf, meistens von hinten. Die Kamera verbarg er so lange unter seinem Mantel, bis er ein geeignetes Motiv entdeckt hatte. Überwiegend sorgte er dafür nur für belustigtes Kopfschütteln und bei der einen oder anderen jungen Frau auch für etwas Unbehagen. Den Bildern haftet etwas Voyeuristisches an, das durch die technischen Unzulänglichkeiten in Teilen kompensiert wird. Flecken und Kratzer, Unschärfe und Verschwommenheit charakterisieren das fotografische Werk von Miroslav Tichy, der sich dieser Imperfektion bewusst war und sie als Teil seiner Kunst bezeichnete.
Miroslav Tichy absolvierte täglich ein genau festgelegtes Pensum: 100-mal betätigte er pro Tag den Auslöser, dann betrachtete er seine Arbeit als getan und ging nach Hause. In Kyjov lebte er völlig zurückgezogen in einem immer weiter verfallenden Haus. Dort bearbeitete er manchmal seine Bilder, indem er einzelne Partien, die ihm besonders wichtig waren, nachzeichnete. Der Schweizer Psychiater Roman Buxbaum vermittelte einen Teil der Bilder an den Kurator Harald Szeemann, der das Werk von Miroslav Tichy einem großen internationalen Publikum vorstellte. Zahlreiche Einzelausstellungen in Berlin, London, New York, Paris, Tokyo, Madrid, Wien und Peking brachten dem Künstler Ruhm und Wohlstand – doch Tichy interessierte beides nicht. Allen Veranstaltungen blieb er fern, und selbst als seine Bilder bereits fünfstellige Preise auf dem Kunstmarkt erzielten, warf er sie mitunter weg oder nutzte sie als Brennstoff. Auf seinen Förderer Buxbaum reagierte der Künstler später unwillig: Der habe ihm seine Bilder weggenommen, beklagte er sich.
Miroslav Tichy starb am 12. April 2011 in Kyjov.
Letzte Änderung: 08.06.2022 | Erstellt am: 03.06.2022
Miroslav Tichy
69 works
Galerie Nicola von Senger
Limmatstrasse 275
8005 Zürich
Schweiz
Dauer der Ausstellung: 20. Mai – 16. Juli 2022
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