Das ESG-Flaggschiff taucht ab: Bergbau für eine nachhaltige Zukunft

Während Europa in den heimischen Bergbau eintaucht, um sich von der Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten zu befreien, besteht die eigentliche Herausforderung darin, das ESG-Schiff über Wasser zu halten und durch die stürmischen Gewässer der Rohstoffunabhängigkeit zu navigieren, ohne dabei die hart erkämpften Nachhaltigkeitsziele zu untergraben.
Beim letzten Mal haben wir darüber gesprochen, wie Europas ESG-Flaggschiff in See sticht und sich den stürmischen Gewässern der Nachhaltigkeit stellt. Und jetzt? Jetzt geht Brüssel noch einen Schritt weiter: Es zieht den Tiefseetauchanzug an und stürzt sich direkt in den mineralischen Abgrund – auf der Suche nach den Rohstoffen, die die europäische Nachhaltigkeit über Wasser halten sollen.
Denn die unbequeme Wahrheit ist: Eine grüne Zukunft lässt sich nicht gestalten, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.
Jahrelang hat Europa seine Container in fremden Häfen beladen und dabei genau jene Materialien importiert, die den grünen Traum am Laufen halten, während die ökologischen und geopolitischen Kosten ausgelagert blieben.
Jetzt dreht sich der Wind.
Die Europäische Kommission hat soeben ihren Zug gemacht: eine Welle von Bergbau- und Raffinerieprojekten in mehreren Mitgliedstaaten wurde vorgestellt. Das Ziel? Den festen Griff ausländischer Lieferanten auf jene kritischen Mineralien, die Europas Industrie antreiben zu lockern. Jahrelang trat Europa als Verfechterin der Nachhaltigkeit auf – jedoch vom Deck eines Schiffs, das sie nicht vollständig selbst steuerte. Nun steht die EU vor der Herausforderung mit vollem Einsatz in die Tiefe zu tauchen: zu schürfen, zu veredeln und die Kontrolle über ihre grüne Zukunft zurückzugewinnen.
Europas ESG-Flaggschiff nimmt Kurs auf 47 Projekte zur Sicherung kritischer Rohstoffe
Trotz ihrer Rolle als Umweltvorreiterin ist Europas Abhängigkeit von Importen bei den entscheidenden Rohstoffen alarmierend. Zwar predigt die EU seit Jahren Energie-Souveränität, doch 98 % der seltenen Erden und 97 % des Lithiums – also genau jener Rohstoffe, die den Motor der sauberen Energiewende antreiben – stammen aus dem Ausland. Das ESG-Schiff war zwar in Bewegung, doch das Steuer lag fest in fremder Hand.
Jahrelang segelte Europas ESG-Flaggschiff unter idealistischer Flagge, doch geankert war in fremden Gewässern. In einer Welt, die sich zunehmend dem Rohstoff-Nationalismus zuwendet und unter Druck geratene Lieferketten neu ordnet, bemüht sich Brüssel nun eilig, die Leinen loszumachen. Die Finanzierung von 47 Rohstoffprojekten im Rahmen des Critical Raw Materials Act ist bislang der kühnste Versuch, Europas Rohstoffschicksal in die eigene Hand zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund räumte Stéphane Séjourné, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, ein: „Rohstoffe waren lange Zeit der blinde Fleck der europäischen Industriepolitik.“ Er zog einen deutlichen Vergleich zur bisherigen Energieabhängigkeit des Kontinents und betonte: „Chinesisches Lithium wird nicht das russische Gas von morgen.“
Die europäische Strategie ist klar: mehr Rohstoffe im eigenen Boden fördern, mehr Aufbereitung innerhalb der EU-Grenzen und zugleich tragfähigere, verlässlichere Partnerschaften im Ausland schmieden. Doch der Einsatz ist hoch. Eine einzige geopolitische Erschütterung, eine Unterbrechung der Lieferketten – und die gesamte ESG-Flotte droht vom Kurs abzukommen.
Zwischen grünen Idealen und der Realität der Rohstoffe
Europa hat sich seit geraumer Zeit an die Spitze der Umweltregulierung und -standards gestellt. Doch nun zeichnet sich eine Kehrtwende ab: Der Blick richtet sich zunehmend auf Projekte, die die eigenen ESG-Ideale ins Wanken bringen könnten – nämlich auf neue Bergbauvorhaben in den Mitgliedstaaten.
Lithiumförderung, die Raffinierung seltener Erden und die Verarbeitung von Kobalt sind alles andere als ein ruhiges Gewässer. Solche Eingriffe wirbeln ganze Ökosysteme auf, zehren an den Wasserreserven und verursachen immense CO₂-Emissionen. Plötzlich sieht sich derselbe Kontinent, der einst an der Spitze ökologischer Verantwortung stand, gezwungen, Kurs durch jene Gewässer zu setzen, vor denen er andere stets gewarnt hatte.
Bevor die Kreislaufwirtschaft Kurs setzen kann, muss Europa zunächst die nötigen Rohstoffe an die Oberfläche holen – und das bedeutet, sich mit der ressourcenhungrigen Realität des Abbaus auseinanderzusetzen.
Alles gleicht einem Sturm der Widersprüche. Die Europäische Kommission – einst eine Vorkämpferin für Naturschutz – unterschreibt heute Genehmigungen für Bergbauprojekte. Umweltschützer:innen, die sich jahrelang gegen den Raubbau gestellt haben, stehen nun vor einer entscheidenden Wahl: den heimischen Bergbau akzeptieren oder riskieren, dass Europas Nachhaltigkeitsschiff in die Unsicherheiten globaler Lieferketten abdriftet. Die einst klare Trennlinie zwischen grünem Ideal und industrieller Notwendigkeit ist zu einer beweglichen Strömung geworden – und Brüssel balanciert waghalsig auf dem Rumpf des Schiffes.
Die Frage ist längst nicht mehr, ob der Kontinent abbauen wird, sondern wie und wie dabei die eigenen ESG-Verpflichtungen nicht zerschellen. Diese Reise wird alles andere als ruhig verlaufen. Ob Europa es schafft, das Schiff auf Kurs zu halten oder vom Strom abgetrieben wird, bleibt offen.
Am Horizont: Unabhängigkeit oder neue Abhängigkeiten?
Die Realität ist: Europas Drang nach Rohstoffen zielt nicht auf die Illusion völliger Selbstversorgung ab, sondern darauf, die Spielregeln neu zu schreiben. Selbst wenn auf dem ganzen Kontinent neue Minen erschlossen werden, bleiben ausländische Partnerschaften das Rückgrat der europäischen Rohstoffstrategie. Die eigentliche Revolution in diesem Kurs? Eine Verschiebung der Machtverhältnisse auf den hohen Wellen der globalen Lieferketten.
Einmal mehr befindet sich die EU in einem heiklen Balanceakt.
Europas ESG-Flaggschiff ist schon durch raue Gewässer gesegelt, aber dieses Mal stürzt es direkt in den mineralischen Abgrund. Nachdem sich Brüssel jahrelang auf ausländische Häfen verlassen hat, um seine Container zu beladen, gibt es sich nicht länger damit zufrieden, mit den Gezeiten der globalen Lieferketten zu schwimmen. Die EU wirft den Anker aus, kurbelt heimische Bergbau- und Raffinerieprojekte an und ergreift die Kontrolle über die Rohstoffe, die ihre grünen Ambitionen befeuern. Aber wird ihr Vorstoß zur Kontrolle und Verwaltung dieser Ressourcen diese Ambitionen letztlich unterstützen – oder untergraben?
Der Originalartikel ist in englischer Sprache im Impakter Magazin erschienen.
Aus dem Englischen von Liam Grunsky
Letzte Änderung: 17.04.2025 | Erstellt am: 17.04.2025
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