"Blaue Wirtschaft" – eine Lösung für den Jemen? (1/2)

"Blaue Wirtschaft" – eine Lösung für den Jemen? (1/2)

Nachhaltigkeit: Kooperation mit Impakter Magazine
 | © unsplash Shaquille Campbell

Jahrzehntelanger Krieg hat den Jemen verwüstet – und doch birgt das Land entlang seiner 2.500 Kilometer langen Küstenlinie ein kaum genutztes Potenzial. Die Idee der „Blauen Wirtschaft“ eröffnet eine Perspektive jenseits von Zerstörung: die nachhaltige Nutzung von Meeresressourcen für wirtschaftliche Erholung, Ernährungssicherheit und langfristigen Frieden. Unser Beitrag zeigt, wie das Meer, das den Jemen einst ernährte, heute zum Schlüssel seiner Erneuerung werden könnte – wenn Vision und Realität sich begegnen.

Entlang der sonnenverbrannten Küsten der Arabischen Halbinsel, wo einst Dhau-Schiffe auf den Gewürzrouten segelten und ganze Zivilisationen erblühten, liegt der Jemen – ein Land, das heute untrennbar mit Leid verbunden ist. Seine über 2.500 Kilometer lange Küstenlinie, stummer Zeuge jahrhundertelanger Geschichte, beherbergt heute ein Volk, das inmitten einer der schlimmsten humanitären Krisen der Welt ums Überleben kämpft.

Doch unter der Oberfläche dieses tiefen Leids regt sich eine andere Erzählung – ein leises Flüstern von unermesslichem, ungenutztem Potenzial. Während die Welt darüber nachdenkt, wie ein zerstörtes Land wiederaufgebaut werden kann, tritt das Konzept der Blauen Wirtschaft – die nachhaltige Nutzung von Meeresressourcen für wirtschaftliches Wachstum, bessere Lebensgrundlagen und neue Arbeitsplätze bei gleichzeitiger Bewahrung der marinen Ökosysteme – nicht nur als wirtschaftliche Theorie auf, sondern als kraftvolle, transformierende Vision für die Zukunft des Jemen.

Diese Artikelreihe lädt die Lesenden zu einer analytischen Reise ein, die eine Frage stellt, in der sich Dringlichkeit und Hoffnung vereinen:

Kann die Blaue Wirtschaft wirklich eine tragfähige Lösung für den Jemen sein?

Unsere Reise beginnt mit einem schonungslosen, unverklärten Blick auf die gegenwärtige Realität des Jemen – eine Landschaft, die von wirtschaftlicher Verwüstung und politischer Zersplitterung geprägt ist. Anschließend navigieren wir durch die geistigen Strömungen der Blauen Wirtschaft, um ihre zentralen Prinzipien im Licht globaler Erfolge zu verstehen – als konzeptionellen Kompass für unsere weitere Erkundung.

Im Herzen unserer Erzählung steht ein tiefer Tauchgang in die maritimen Schätze des Jemen – von dem wimmelnden Leben in seinen Fischgründen bis hin zu den strategischen Handelsadern der Weltwirtschaft, die seine Küsten berühren. Dieses Potenzial jedoch betrachten wir nicht isoliert; es steht in einem Spannungsverhältnis zu den gewaltigen Herausforderungen, die eine umfassende Umsetzung derzeit noch zu einer fernen Vision machen: dem unerbittlichen Griff des Konflikts, dem Labyrinth politischer Instabilität, den skelettartigen Überresten der Infrastruktur und dem allgegenwärtigen Schatten der Unsicherheit.

Letztlich vertritt dieser Artikel die Auffassung, dass die Blaue Wirtschaft keine flüchtige Hoffnung auf schnelle Lösungen ist, sondern eine tiefgreifende, langfristige strategische Notwendigkeit für den Jemen. Er schlägt einen gestuften Ansatz vor – eine sorgfältig komponierte Symphonie des Wiederaufbaus, abgestimmt auf die empfindlichen Rhythmen eines Übergangs nach dem Konflikt.

Diese Reise führt von den unmittelbaren, lebensrettenden Maßnahmen der Stabilisierung und humanitären Hilfe über die mittelfristigen Anstrengungen des Wiederaufbaus und des Kapazitätsaufbaus bis hin zum lebendigen Crescendo eines langfristig nachhaltigen Wachstums. Mit dieser Wegskizze wollen wir einen realistischen, handlungsorientierten und zugleich hoffnungsvollen Pfad aufzeigen, auf dem der Jemen seinen maritimen Reichtum nutzen und in eine kraftvolle Triebfeder für Frieden, Wohlstand und dauerhafte Widerstandsfähigkeit für kommende Generationen verwandeln kann.

Das Meer, das den Jemen seit jeher ernährt hat, könnte noch immer den Schlüssel zu seiner Wiedergeburt bergen.

Detwah Lagune in der Küste von Socotra, Jemen, 2011 | © Foto: Wikimedia Commons

Ein Land im Chaos – die Narben des Krieges an den Küsten des Jemen

Wer heute über den Jemen spricht, spricht über ein Land in tiefer Not – zerrissen vom jahrelangen Konflikt, der das soziale und wirtschaftliche Gefüge zerfetzt hat. Was einst ein bescheidenes, aber lebendiges Geflecht aus Handel, Landwirtschaft und Fischerei war, ist heute ein Bild des Niedergangs.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Laut Weltbank wird das Bruttoinlandsprodukt des Landes 2024 um 1 % schrumpfen, nach einem Rückgang von 2 % im Jahr 2023. Die gesamte Wirtschaftsleistung – nur 19,1 Milliarden US-Dollar – verdeutlicht, wie sehr die einst hoffnungsvolle Ökonomie des Landes geschrumpft ist.

Über Generationen hinweg war der bescheidene Wohlstand des Jemen an wenige Sektoren gebunden: Das „schwarze Gold“ Öl machte 30–40 % des BIP und bis zu 90 % der Exporte aus; die Landwirtschaft, Lebensader der ländlichen Regionen, trug weitere 10–15 % bei. Doch die reichen Fischgründe – ein Schatz, der das Land ernähren und seine Wirtschaft stärken könnte – blieben weitgehend ungenutzt und trugen nur etwa 3 % zur Wirtschaftsleistung bei.

Dieses ohnehin fragile Fundament wurde durch den Krieg vollständig zerstört. Die Infrastruktur liegt in Trümmern, die Ölproduktion ist eingebrochen, die Wirtschaft fragmentiert. Arbeitslosigkeit, Armut, Hunger und Korruption greifen um sich.

Politisch ist der Jemen ein Land ohne funktionierende zentrale Führung. Seit Ausbruch des Konflikts 2014 ist das Staatsgebiet in Einflusszonen zersplittert – ohne stabile Regierung, die das gesamte Land kontrolliert. Diese Instabilität lähmt jeden Versuch langfristiger Planung, vertreibt Investoren und verwandelt selbst die strategisch wichtigen Gewässer des Roten Meeres in geopolitische Spannungsfelder, die Handel und Schifffahrt gefährden.

In diesem zerbrechlichen, zersplitterten Kontext wagt der Gedanke einer Blauen Wirtschaft kaum mehr als ein fernes Hoffnungsbild zu sein – ein ferner Horizont in einem sturmgepeitschten Meer.

Sanaa, die Hauptstadt von Jemen, nach Luftangriff | © Foto: Wikimedia Commons, Almigdad Mojalli

Das Versprechen des Ozeans – die Idee der Blauen Wirtschaft

Stellen wir uns eine Welt vor, in der das Meer nicht nur Quelle der Nahrung, sondern Ursprung nachhaltigen Wohlstands ist – in der wirtschaftliches Wachstum im Einklang mit ökologischer Bewahrung steht. Das ist die Essenz der Blauen Wirtschaft: ein Paradigmenwechsel, der die verantwortungsvolle, integrierte Nutzung mariner und küstennaher Ressourcen fordert, damit die Meere auch künftige Generationen tragen können.

Im Kern ruht die Blaue Wirtschaft auf fünf zentralen Prinzipien – Leitsterne auf der Reise zu einer neuen Wirtschaftsordnung:

Nachhaltigkeit als Verpflichtung:

Es geht nicht nur darum, Ressourcen zu nutzen, sondern sie mit Bedacht und Respekt vor ihren Grenzen zu nutzen. Es ist ein Versprechen an kommende Generationen, dass ihre Ozeane ebenso lebendig bleiben wie unsere.

Inklusivität – jede Stimme an Bord:

Der Reichtum der Ozeane darf nicht wenigen gehören. Küstengemeinden, indigene Gruppen und alle, die vom Meer leben, sollen in Entscheidungen und Nutzen einbezogen werden. Es geht um geteilten Wohlstand, nicht um reinen Profit.

Bewahrung und Regeneration:

Die Blaue Wirtschaft schützt nicht nur – sie heilt. Sie fordert den Kampf gegen Umweltverschmutzung, gegen illegale Fischerei und für die Wiederherstellung von Korallenriffen und Mangroven – den „Lungen“ unserer Küstenökosysteme.

Innovation und Wissen:

Wissenschaft, Forschung und Technologie sind die Werkzeuge, um das Meer intelligenter zu bewirtschaften und neue, nachhaltige Wege der Nutzung zu finden – auch als Antwort auf den Klimawandel.

Gute Regierungsführung und globale Solidarität:

Kein Staat besitzt das Meer allein. Es braucht klare Gesetze, starke Institutionen und internationale Zusammenarbeit, um das gemeinsame maritime Erbe verantwortungsvoll zu verwalten.

Weltweit zeigen Regionen wie die Ostkaribik, dass diese Prinzipien funktionieren. Dort wurden Marine Spatial Plans – Meeresraumpläne – entwickelt, die verschiedene Wirtschaftsbereiche koordinieren und Investitionen wie „Blue Bonds“ anziehen. Diese Beispiele beweisen: Eine blühende Blaue Wirtschaft ist keine Utopie, sondern Ergebnis integrierter Planung, gemeinsamer Verantwortung und kollektiver Entschlossenheit.

Das azurblaue Erbe des Jemen – ein Schatz, der gehoben werden will

Stellen wir uns eine Küstenlinie vor, die sich über mehr als 2.500 Kilometer erstreckt – auf der einen Seite flüstert das Rote Meer Geschichten uralten Handels, auf der anderen brüllt das Arabische Meer mit ungezähmter Kraft. Dies ist das azurblaue Erbe des Jemen: ein weites und vielfältiges maritimes Ökosystem, das einen Schatz ungenutzter Möglichkeiten birgt.

Seit Jahrhunderten sind diese Gewässer eine Quelle des Lebens – doch ihr wahres wirtschaftliches Potenzial liegt heute weitgehend verborgen unter den Wellen von Konflikt und Vernachlässigung. Und doch, in dieser maritimen Weite, liegt der Bauplan für einen künftigen Jemen – einen Jemen, in dem das Meer erneut zu einer Quelle des Wohlstands wird.

Fischer in Aden, Jemen, 2021
Die reichen Fischgründe

In den Gewässern des Jemen tummeln sich über 350 Fischarten und unzählige weitere Meeresbewohner. Fachleute schätzen das jährliche Ertragspotenzial auf 840.000 Tonnen – ein Vielfaches der derzeitigen, durch den Krieg stark eingeschränkten Fangmengen.

Der Fischereisektor trägt heute nur etwa 3 % zum BIP bei und beschäftigt rund 2 % der Arbeitskräfte. Mit gezielten Reformen, nachhaltigem Management und Investitionen könnte er nicht nur die Ernährungssicherheit verbessern, sondern auch dringend benötigte Devisen bringen und Küstengemeinden neues Leben einhauchen.

Das Versprechen der Aquakultur

Neben der Wildfischerei bietet die lange, vielfältige Küste ideale Bedingungen für nachhaltige Aquakultur: Garnelen, Edelfische und andere hochwertige Arten könnten gezüchtet werden – in geschützten Buchten des Roten Meeres ebenso wie an den weiten Ufern des Arabischen Meeres.

Eine solche Entwicklung würde nicht nur Produktion und Beschäftigung steigern, sondern auch Ernährungssicherheit und wirtschaftliche Stabilität fördern – und das mit geringem ökologischen Fußabdruck.

Ein Knotenpunkt des Welthandels

Die Häfen des Jemen – darunter Aden und Hodeidah – liegen an einer der wichtigsten Seehandelsrouten der Welt. Vor dem Krieg waren sie pulsierende Drehkreuze des internationalen Handels. Mit Investitionen und politischer Stabilität könnte der Jemen wieder zu einem bedeutenden Akteur in der regionalen und globalen Logistik werden – ein wirtschaftliches Rückgrat, das Arbeitsplätze schafft und die Abhängigkeit von Öl verringert.

Der ungenutzte Reiz des Küstentourismus

Makellose Strände, leuchtende Korallenriffe, uralte Städte – der Jemen birgt enormes touristisches Potenzial. Von der einzigartigen Artenvielfalt des Socotra-Archipels, einem UNESCO-Welterbe, bis zu historischen Hafenstädten – die Küste des Jemen könnte eines Tages Reisende aus aller Welt anziehen.

Drachenbaum in Socotra im Jemen, 2013 | © Foto: Wikimedia Commons, Rod Waddington

Auch wenn die aktuelle Sicherheitslage diesen Traum in weite Ferne rückt, bleibt das Potenzial für einen florierenden, nachhaltigen Tourismussektor bestehen. Durch den Schutz seines natürlichen und kulturellen Erbes könnte der Jemen eines Tages Besucherinnen und Besucher aus aller Welt willkommen heißen – und so eine neue, nachhaltige Einkommensquelle schaffen, die seine einzigartige Identität bewahrt und zugleich feiert.

Letzte Änderung: 20.10.2025  |  Erstellt am: 21.07.2025

Den Originalartikel von IMPAKTER Magazine finden Sie hier.

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