Antarktis in äußerster Gefahr

Antarktis in äußerster Gefahr

Nachhaltigkeit: Kooperation mit Impakter Magazine
Von Grist
Antarktis | © Maxim Potkin

Die Antarktis gerät aus dem Gleichgewicht: Eine neue Studie warnt vor abrupten Klima-Kipppunkten am kältesten Ort der Erde. Der rapide Verlust des Meereises könnte unumkehrbare Folgen für das globale Ökosystem und den Meeresspiegel haben.

Aus dem All betrachtet wirkt die Antarktis deutlich einfacher als andere Kontinente – eine riesige Eisfläche, umgeben vom dunklen Wasser des Südlichen Ozeans. Doch je näher man kommt, desto deutlicher zeigt sich: Es handelt sich keineswegs nur um eine gefrorene Kappe, sondern um ein äußerst komplexes Zusammenspiel von Ozean, Meereis, Eisschilden und Schelfeis.

Dieses empfindliche Gleichgewicht ist nun massiv bedroht. Eine neue Studie in der Fachzeitschrift Nature dokumentiert mehrere „abrupte Veränderungen“, etwa den dramatischen Rückgang des Meereises in den letzten zehn Jahren. Diese Veränderungen verstärken sich gegenseitig – und könnten die Antarktis über einen Kipppunkt hinausführen, was weltweit zu mehreren Metern Meeresspiegelanstieg und massiven Überschwemmungen in Küstenstädten führen würde.

„Wir beobachten eine Vielzahl abrupter und überraschender Veränderungen überall in der Antarktis – aber sie geschehen nicht isoliert voneinander“, sagt die Klimawissenschaftlerin Nerilie Abram, Hauptautorin der Studie. (Die Forschung entstand an der Australian National University; mittlerweile ist Abram leitende Wissenschaftlerin bei der Australian Antarctic Division.) „Verändert sich ein Teil des Systems, hat das Kettenreaktionen zur Folge, die andere Bereiche destabilisieren. Und diese Veränderungen haben globale Auswirkungen.“

Wissenschaftler:innen definieren abrupte Veränderungen als Umweltveränderungen, die wesentlich schneller ablaufen als erwartet. In der Antarktis reicht die Bandbreite dabei von Tagen oder Wochen bei einem Schelfeis-Kollaps bis zu Jahrhunderten im Fall der Eisschilde. Diese Prozesse können sich selbst verstärken – und unumkehrbar werden, solange der Mensch den Planeten weiter erwärmt. „Die Entscheidungen, die wir jetzt – in diesem und im nächsten Jahrzehnt – bezüglich der Treibhausgasemissionen treffen, bestimmen, ob wir uns langfristig an diese Veränderungen binden“, warnt Abram.

Ein zentraler Auslöser für die sich zuspitzende Krise in der Antarktis ist der Verlust des schwimmenden Meereises, das sich im Winter bildet. Im Jahr 2014 erreichte es – seit Beginn der Satellitenbeobachtung 1978 – eine Rekordausdehnung von 20,11 Millionen Quadratkilometern. Seither ist diese Fläche nicht nur drastisch, sondern fast unvorstellbar stark geschrumpft: Das Meereis zieht sich heute rund 120 Kilometer weiter in Richtung Küste zurück. Während der antarktischen Winter – also zur Zeit der maximalen Ausdehnung – hat sich das Meereis in der letzten Dekade rund 4,4-mal schneller zurückgezogen als in der Arktis.

Anders gesagt: In nur zehn Jahren hat die Antarktis so viel Wintermeereis verloren, wie die Arktis in 46 Jahren. „Früher nahm man an, die Antarktis sei stabiler als die Arktis. Doch inzwischen zeigen sich Zeichen, dass das nicht mehr zutrifft“, erklärt Ryan Fogt, Klimatologe an der Ohio University. Zwar war er nicht an der Studie beteiligt, dennoch beobachtet er die Region intensiv. „Tatsächlich erleben wir derzeit ähnlich rasante – teilweise sogar schnellere – Veränderungen in der Antarktis als in der Arktis.“

Noch lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um einen grundlegenden Kippprozess handelt. Doch die bisherigen Signale sind beunruhigend. „Es zeichnet sich zunehmend ein Bild ab, das darauf hindeutet, dass wir uns in einer neuen Phase dramatischen Meereisverlusts befinden“, so Zachary M. Labe, Klimaforscher bei Climate Central.

Dieser beispiellose Rückgang löst einen gefährlichen Rückkopplungseffekt aus. In der Arktis erwärmt sich die Region rund viermal schneller als der globale Durchschnitt – ein Effekt, der vor allem auf die veränderte Reflexion (Albedo-Effekt) zurückzuführen ist. Weißes Meereis reflektiert Sonnenstrahlung und kühlt so die Region. Wenn es schmilzt, werden dunklere Meeresflächen freigelegt, die das Sonnenlicht absorbieren. Die Folge: weniger Rückstrahlung, mehr Erwärmung – die wiederum mehr Eis schmilzt. So entsteht ein Teufelskreis. „Wir gehen nun davon aus, dass dieser Mechanismus auch auf der Südhalbkugel einsetzt – weil wir dort nun in ähnlichem Ausmaß Meereis verloren haben“, erklärt Abram.

Rund um die Antarktis könnten die Konsequenzen sogar noch weitreichender und komplexer sein – und womöglich unumkehrbar. Klimamodelle zeigen: Selbst wenn sich das globale Klima stabilisieren sollte, würde das antarktische Meereis weiter zurückgehen. „Diese Modelle zeigen, dass die Arktis bei stabilerem Klima ihr Eis zurückgewinnen kann – in der Antarktis hingegen nimmt der Südliche Ozean auch weiterhin überschüssige Wärme aus der Atmosphäre auf“, so Abram.

Das hat potenziell dramatische Folgen für den riesigen antarktischen Eisschild, der aus zwei Hauptkomponenten besteht: den auf dem Land ruhenden Eisschilden und den ins Meer hinausragenden Schelfeisen. Das Problem ist nicht primär die Sonneneinstrahlung, sondern das immer wärmer werdende Wasser, das von unten gegen die Schelfeise schlägt. Je mehr das umgebende Meereis schwindet, desto stärker erwärmen sich diese Gewässer. Hinzu kommt: Meereis wirkt wie ein Schutzschild – es absorbiert die Wellenenergie, die sonst ungebremst auf die Schelfeiskanten treffen und sie aufbrechen würde.

Meereis stützt also die Schelfeise, und diese wiederum stabilisieren die Eisschilde an Land. „Wenn Schelfeise schmelzen, verlieren sie ihre stützende Funktion für die dahinterliegenden Eisschilde – das beschleunigt den Eisfluss ins Meer“, erklärt der Ozeanograf Matthew England von der University of New South Wales, Mitautor der Studie. Besonders bedrohlich: Der westantarktische Eisschild könnte kollabieren, wenn die globale Erwärmung 2 °C über das vorindustrielle Niveau hinausgeht – was einen Anstieg des Meeresspiegels um mehr als drei Meter zur Folge hätte. Und: Der Kollaps könnte bereits vorher teilweise einsetzen.

Auch die ozeanischen Strömungssysteme rund um die Antarktis werden durch die Eisschmelze massiv gestört – insbesondere die sogenannte „Antarctic Overturning Circulation“. Dieses Zirkulationssystem entsteht, wenn sich Meereis bildet: Dabei wird Salz aus dem Eis ausgeschlossen und das verbleibende Wasser wird salziger, kälter und damit dichter – es sinkt auf den Meeresboden und treibt die Strömung an. Wenn nun aber die Schelfeise schmelzen, gelangt Süßwasser in den Ozean. Das verdünnt das salzhaltige Tiefenwasser, verlangsamt die Strömung – und bringt gleichzeitig wärmeres Wasser in Kontakt mit Schelfeis und Meereis. „Diese Rückkopplung findet auf Systemebene statt“, so England. „Vom Ozean zum Eis – und dann wieder zurück in den Ozean. Das kann eine Kettenreaktion auslösen, bei der das gesamte Zirkulationssystem zusammenzubrechen droht.“

Wenn diese Tiefenströmungen warmes Wasser an die Oberfläche transportieren, bringen sie auch lebenswichtige Nährstoffe für Phytoplankton mit sich – mikroskopisch kleine, photosynthetisch aktive Organismen, die Kohlendioxid binden und Sauerstoff produzieren. Phytoplankton spielt eine zentrale Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf: Es bindet etwa die Hälfte des weltweit durch Photosynthese fixierten CO₂ und bildet die Basis der marinen Nahrungskette. Zooplankton ernährt sich von ihnen, Fische und Krustentiere wiederum vom Zooplankton. Meereis dient diesen Organismen zudem als Lebensraum. Durch den Verlust des Eises verlieren sie nicht nur ihr Habitat, sondern auch ihre Nahrungsgrundlage.

Kaiser­pinguine wiederum ziehen ihre Jungtiere auf stabilem Meereis auf – dort wachsen die Küken heran und entwickeln ihr wasserdichtes Gefieder. „Wenn dieses Eis vorzeitig schmilzt, bevor die Küken flügge werden, kommt es zu einem völligen Brutausfall in der jeweiligen Kolonie“, warnt Abram. „Solche katastrophalen Brutausfälle treten mittlerweile rund um den gesamten antarktischen Kontinent auf.“ Die kontinuierliche Erwärmung der Antarktis und ihrer Meere ist ein langfristiger Trend – eine Art chronischer Krankheitsverlauf des südlichsten Kontinents. Doch dieser wird durch akute Extreme weiter verschärft. Ein Beispiel: die Hitzewelle in Ostantarktika im März 2022, bei der die Temperaturen um 40 °C über dem langjährigen Mittel lagen. Sie stellte sämtliche bisherigen Rekorde in den Schatten und erschütterte die Fachwelt. „Die Intensität dieses Extremereignisses“, sagt Fogt, „kann bereits leicht geschwächte Systeme über den Kipppunkt hinausstoßen – und eine Erholung für lange Zeit unmöglich machen.“

Eine gute Nachricht gibt es dennoch: Mit jedem Jahr sammeln Wissenschaftler:innen mehr Daten darüber, wie die Antarktis auf den menschengemachten Klimawandel reagiert – und können so immer präzisere Modelle für die Zukunft entwickeln. Und sie wissen auch, was jetzt zu tun ist: Eine drastische und sofortige Reduktion der Treibhausgasemissionen – oder wir müssen mit den Konsequenzen leben. „Jede vermiedene Zehntelgrad-Erwärmung erhöht die Chancen, katastrophale Veränderungen zu vermeiden“, betont England. „Ein Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter würde zu weltweiter politischer Instabilität führen – weit gravierender als alles, was wir derzeit erleben.“

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Aus dem Englischen von Liam Grunsky

Titelbildrechte: Maxim Potkin

Letzte Änderung: 01.09.2025  |  Erstellt am: 21.07.2025

Den Originalartikel von IMPAKTER Magazine finden Sie hier

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