»Ich mach nur noch mein Ding«

»Ich mach nur noch mein Ding«

Gespräch mit Romeo Gitano
	  Romeo Gitano  | © Foto: Alexander Paul Englert

Romeo Gitano ist Sänger und Songwriter. Sein Vater Ewald Hanstein setzte sich als Überlebender des Holocaust in der Bürgerrechtsarbeit von Sinti und Roma in Deutschland ein. Wie sein Vater liebt Gitano die Musik, wie sein Vater kämpft er für Entschädigung und für Bürgerrechte in Sinti-Vereinen. Romeo Franz und Cornelia Wilß haben Romeo Gitano zum Gespräch getroffen.

Cornelia Wilß: Hat Ihr Vater Sie musikalisch stark beeinflusst?

Romeo Gitano: Klar, ich bin mit der Musik groß geworden. Mein Vater war Gitarrist. Er hat mit eigener Band Sinti-Jazz gespielt. Die sind damals durch die Berliner Kneipen gezogen und haben richtig Geld gemacht. Mit 17 ist er verhaftet worden. Aber er hat sein ganzes Leben lang Musik gespielt, auch nach dem Krieg. Er hat den Leuten in Eggersdorf, so heißt das Dorf, in dem er gelebt hat, Stepptanz beigebracht. Musik war sehr wichtig für ihn. Er hatte ein großes Talent.

Romeo Franz: Ich habe eine Akte von Mamis Bruder, Joschi Pohl, gefunden. Die haben auch in Berlin gelebt. Er war damals mit seinem Cousin Rudolf Hanstein oft in den Cafés unterwegs. Dabei haben sie einmal ein junges Mädel kennengelernt und Spaß miteinander gehabt. Sie war keine Sinteza. Dann kam die SS und hat sie angezeigt, weil es für ein arisches Mädchen „unzüchtig“ war, sich mit „Zigeunern“ abzugeben. Sie wurden alle drei wegen Unzucht im Lokal – das muss man sich mal vorstellen – verhört und eingesperrt. Die Hansteins. Das ist mir gerade eingefallen. Berlin war damals ein Schmelztiegel. Die Familie meiner Mutter zählte zu den preußisch-schlesischen Sinti.

Romeo Gitano: Vielleicht sollte ich erklären, dass mein Großvater den Namen Hanstein nur angenommen hatte. Früher war das so: Wenn einer gestorben war und ein anderer gesucht wurde oder so, dann gab die Familie die Papiere des Verstorbenen, die sie ja noch hatte, manchmal weiter. Na ja, dann sind die Kinder halt als Hanstein geboren worden. Eigentlich heißen wir Dewues, und ursprünglich kommt meine Familie väterlicherseits aus dem Elsass. Mein Großvater war Franzose und meine Großmutter eine deutsche Sinteza. Sie stammte von den Schmitts ab.

Romeo Franz: Dewues … Das kommt doch von Veiss. Weißt du, wer so geheißen hat? Jean Veiss, Django Reinhardts Vater.
Cornelia Wilß: Kommen wir auf die Musik zurück. Sie haben eine andere Richtung eingeschlagen als Ihr Vater.

Romeo Gitano: Ja, bei mir ging es musikalisch in eine ganz andere Richtung. Bei uns in Bremen waren die Amis stationiert, dadurch bin ich zum Hip-Hop gekommen.

Cornelia Wilß: Wenn man sich auf Ihrer Facebook-Seite umschaut, ist Ihr Repertoire ziemlich breit: Es reicht vom ordentlichen Rap bis zum deutschen Pop-Soul.

Romeo Gitano: Angefangen habe ich mit englischem Hip-Hop. Meine Vorbilder waren Anfang der Achtzigerjahre aktuell. Grandmaster Flash und Corpus Blow und so … das haben wir dann nachgerappt. Es war einfach cool. Das kam auch gut bei den Mädels an. Hat gepasst. Ich bin richtig in die Hip-Hop-Kultur eingetaucht und habe alles gemacht, was zum Hip-Hop dazugehört: Rap-Musik, Breakdance und Graffiti. Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre gab es in Deutschland noch die sogenannten Hip-Hop-Jams. Das war eine ganz andere Zeit.

Cornelia Wilß: Was hat sich verändert?

Romeo Gitano: Damals gab es noch Zusammenhalt. Leute aus ganz Deutschland und Europa kamen zusammen, interessante Leute, und man hat gemeinsam Musik gemacht. Zum Freundeskreis gehörten Sinti und Nicht-Sinti. Die Herkunft spielte keine Rolle. In diesen Jahren war ich richtig in der Szene. Mit 18, das war 1993, nannte ich mich Da Romeo. Ich habe mit ein paar Jungs zusammen die Band Saprize gegründet. Nach einem Spontanauftritt in Bremen wurden wir unter Vertrag genommen und haben eine Langspielplatte – auf Vinyl – gemacht: Alwaysacutahead, so hieß der Titel; und wir sind auf Deutschland-Tournee gegangen, ganz professionell mit einem Tour-Bus. Ich stand auf der Bühne, vor mir total fremde Leute im Publikum, die meine Texte kannten. Das waren „meine“ Fans, das war ein phänomenal gutes Gefühl.

Cornelia Wilß: Es gibt verschiedene Richtungen im Hip-Hop und klare Regeln …

Romeo Gitano: An diese Regeln habe ich mich nicht so genau gehalten. Ich war immer ich. Damals habe ich englische Texte gemacht, und die Inhalte waren politisch. Es gab es nur zwei Arten von Rap- Musikern: die politischen, die eine Message hatten, und die Party-Hip-Hopper so wie vielleicht Will Smith. Die haben wir belächelt. 1997 hat sich die Band getrennt. Mit Saprize habe ich richtige Höhenflüge erlebt. Heute noch hat die Band in der Szene einen Namen, der bis nach Japan reicht.

Romeo Franz: Warum hat sich die Band getrennt?

Romeo Gitano: Da trafen zwei Stilrichtungen aufeinander. Mein DJ und ich kamen vom Hip-Hop, und die anderen machten hard core, fast Punk. Das nannte sich Crossover Hip-Hop und war zu der Zeit etwas ganz Besonderes. Im Hip-Hop waren Wörter wie mother fucker und bitch ganz normal, damit kamen die anderen nicht klar. Sie fanden das sexistisch, frauenfeindlich … Ich hätte mich auf der Bühne verstellen müssen, das ging nicht mehr zusammen.

Cornelia Wilß: Wie ging es weiter mit Ihrer musikalischen Karriere?

Romeo Gitano: Eine ganze Weile habe ich herumexperimentiert, aber so richtig erfolgreich war ich nicht mehr. Ich habe mein erstes Tonstudio mit Unterstützung des Bremer Sinti-Vereins aufgebaut. Wir haben viel Zeit im Studio verbracht und eigene Sachen produziert. Mein Produzent ist Marten T-Moore. Um Geld zu verdienen, nahmen wir Auftragsproduktionen für andere Künstler an. Aber das war nicht mein Ding. Ich war viel zu ungeduldig. Irgendwann habe ich aus Spaß Ain’t no sunshine auf Reggae-Art eingesungen, auf meine Art, und andere Titel, die souliger waren.
2006 habe ich dann meine erste Single veröffentlicht: Beckz City. Ich lebte damals in Bremen-Nord, und der Titel spielt auf die Brauerei Beck an. Radio Bremen fand den Titel gut; der Song wurde jeden Tag in der Rotation gespielt. Seitdem ist Romeo Gitano mein Künstlername. Als Newcomer habe ich damals gleich 8.000 Singles verkauft. Ich bin mit Radio Bremen auf einer Breakdance-Hip-Hop-R’n’B-Tour durch viele kleine Dörfer und Städte in Deutschland gezogen. Wir wollten ein bisschen Show machen. Deshalb haben wir die Breakdance-Gruppe Unique North Style – die waren Weltmeister in Breakdance – und zwei Rapper engagiert. Das war ein großes Ding: Ich hatte einen DJ dabei, zwei Turntables, die Rapper und die Breakdancer. Der Hauptact aber war ich. (lacht) Damals habe ich aufgehört, im Sinti-Verein in Bremen zu arbeiten, und von der Musik gelebt.
Dann habe ich noch die Single Move gemacht und Ende 2008/09 mein Album Liebe und Hass aufgenommen und veröffentlicht. Ich sollte als Support eines bekannten US-amerikanischen Künstlers auf Promo-Tour gehen. Aber dann (lange nachdenkliche Pause) ist mein Vater gestorben. Ich musste die Tour abbrechen. Es ging einfach nicht. Ich konnte doch nicht von Disco zu Disco ziehen und so tun, als sei nichts passiert. Ich wollte erst mal eine Pause machen, aber (lange Pause) seitdem habe ich keine Musik mehr gemacht … Zum Glück war die Plattenfirma sehr verständnisvoll und hat den Vertrag auslaufen lassen. Dann habe ich gewartet, aus drei, vier Monaten wurden Jahre … bis heute.

Cornelia Wilß: Soll es das gewesen sein – mit der Musik?

Romeo Gitano: Nein. Ich mache das doch von Herzen gern. Jetzt ist meine Zeit gekommen. Die Musik, die gerade aktuell ist, ist genau mein Ding. Jetzt mache ich etwas Neues, vielleicht auch ein Musikvideo, aber erst einmal nur für mich, versteht ihr? Vorher hatte ich immer Druck. Die Plattenfirmen haben ziemlich klare Vorstellungen, was sie wollen. Ich will nichts Kommerzielles mehr machen: Ich mach einfach, weißt du. Ich mach nur noch mein Ding – es muss mir gefallen.

Cornelia Wilß: Sie leihen Ihre Stimme auch Ihrem Vater, wenn Sie öffentlich aus seinen Erinnerungen lesen.

Romeo Gitano: Das habe ich immer gern gemacht.

Cornelia Wilß: Waren Sie und die anderen Familienmitglieder am Schreibprozess beteiligt?

Romeo Gitano: Ja klar, das war meinem Vater wichtig. Er hat das Buch Meine hundert Leben 2006 geschrieben. Mein Vater dachte, das wird ein großer Erfolg. Um das zu erreichen, hätten wir jedoch einen anderen Verlag wählen müssen. Aber wir machen heute noch manchmal Lesungen. In den Jahren nach seinem Tod konnte ich allerdings auch das nicht: Ich konnte nichts von ihm lesen, auch seine Stimme auf Band nicht hören. Ich brauchte Zeit.

Cornelia Wilß: Hat er viel über seine Zeit in den Konzentrationslagern erzählt?

Romeo Gitano: Er hat schon viel erzählt; er war als Überlebender ja einer der wenigen Menschen, die über diese Zeit sprechen konnten. Vielleicht hat er ein paar Sachen für sich behalten, aber es war ihm wichtig, dass dieses Martyrium nicht in Vergessenheit gerät. Viele Geschichten, die ins Buch aufgenommen wurden, kannte ich vorher schon. Er ging gern an Schulen. Das war Teil seines Weges, das Entsetzliche zu verarbeiten. Ganz verarbeiten kann das, glaube ich, niemand.

Cornelia Wilß: Er war ein Kämpfer …

Durch und durch. Romeo, du kanntest ihn auch …

Romeo Franz: Er war eine Persönlichkeit. Ich habe ihn 1996 kennengelernt, als meine Arbeit im Landesverband Rheinland-Pfalz begonnen hatte. Ewald Hanstein war kein großer Mann, eher zart, aber er hinterließ einen starken Eindruck. Wenn er einen Raum betrat, strahlte er etwas ganz Besonderes aus, und alle standen auf, um ihn zu begrüßen. Für seine Zeit war er ein Mann mit modernen Auffassungen. Ich habe ihn mit „Onkel“ angeredet, aber er war für seinen Jahrgang – 1924 – kein altmodischer Mensch.

Romeo Gitano: Das kann ich bestätigen. Im Vergleich zu anderen Männern seiner Generation hatte er moderne Ansichten. Auch in der Art, wie er uns erzogen hat. Er war dahinter her, dass wir in die Schule gingen. Er wollte, dass ich studiere. Er wollte, dass wir etwas erreichen in der Gesellschaft. „Ihr müsst eure Potentiale nutzen!“ Meine Mama war fast dreißig Jahre jünger, aber in manchen Dingen war mein Vater jünger und moderner eingestellt als sie. Zum Beispiel hatte er nichts dagegen, wenn meine Freundinnen keine Sintezas waren.

Cornelia Wilß: Mochte er die Menschen trotz alldem, was er erlebt und durchlitten hatte?

Romeo Gitano: Ja, er war tolerant.

Romeo Franz: Ich glaube, dass er aufgrund seiner verlorenen Kindheit und Jugend dachte, dass du für ihn weiterlebst.

Romeo Gitano: Ich habe noch fünf Halbbrüder, die anders drauf waren. Es lebt nur noch einer. Ich war ganz anders. Ich kam total nach meinem Vater: Musik, Autos, Bürgerrechtsarbeit … Er hat sich in mir gesehen, in allem, Romeo, da hast du recht. Er war stolz darauf, dass ich Musik gemacht habe.

Cornelia Wilß: Welche Rolle spielt dabei die Arbeit im Bremer Sinti-Verein?

Romeo Gitano: Ich wollte etwas bewegen und für meine Menschen tun. Dafür hatte ich, anders als viele meiner Leute, gute Voraussetzungen. Der Bremer Verein war einer der ersten Vereine, wenn nicht sogar der erste 1978, bevor es den Zentralrat gab. In den ersten Jahren ging es um Wiedergutmachung, zu meiner Zeit – 1993 bis 2006 und 2010 bis 2013 – dann unter anderem um den Staatsvertrag zwischen Bremen und den Sinti und Roma.
Die Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit an Schulen, im Sozialamt, im Jobcenter ist für mich immer das Interessanteste gewesen. Bis zum heutigen Tage herrscht ein unglaubliches Unwissen, das fängt schon mit dem Unterschied zwischen Sinti und Roma an.

Cornelia Wilß: Macht es Sie nicht müde, immer auf die gleichen Vorurteile reagieren zu müssen?

Romeo Gitano: Nein, das macht mir nichts aus. Ich war froh über jeden Menschen, den ich aufklären konnte. Ich arbeite heute selbständig in der Fahrzeugaufbereitung für verschiedene Autohäuser. Da werde ich ziemlich oft, mindestens dreimal in der Woche, von Leuten gefragt: „Was sind Sie denn für ein Landsmann? Bestimmt Marokkaner …“ So geht das immer los.

Cornelia Wilß: Die Leute fragen Sie einfach so …? Stört Sie das nicht?

Romeo Gitano: Manchmal. Wenn es mich nervt, sage ich, dass ich Italiener bin. Dann ist Ruhe. Manchmal antworte ich, dass ich Deutscher bin oder Sinto. Manchmal! (alle lachen) Und wenn es ernst ist, antworte ich: Ich bin deutscher Sinto. Viele haben noch nie davon gehört, die jungen Leute schon gar nicht. Manchmal sage ich: Früher nannte man uns Zigeuner. Ich hasse das Wort und würde mich niemals als Zigeuner betiteln. Aber es hilft dabei, geduldig zu erklären, wer unsere Menschen sind.

Romeo Franz: Ich kenne das auch, und manchmal hat meine Erklärung einen Duktus, den viele nicht verstehen. Das fängt schon an, wenn ich Sinti als deutsche nationale Minderheit bezeichne. Dann muss ich erklären, was nationale autochthone Volksgruppen sind.

Romeo Gitano: Die Friesen zum Beispiel.

Romeo Franz: Der biodeutsche Mensch ist damit aber überfordert, weil er es einfach nicht weiß. Da gibt es eine große Bildungslücke: Was ist eine autochthone Minderheit? Was ist eine allochthone Minderheit? Die Leute kennen den Unterschied nicht zwischen alt eingesessenen und zugewanderten Minderheiten. Es ist immer spannend, wenn ich in diese etwas akademische Diskussion gehe.
Cornelia Wilß: Viele haben immer noch das Bild vom fahrenden Volk oder von bettelnden Kindern und Frauen in Fußgängerzonen im Kopf. Kunst und Kultur der Roma und Sinti sind bis auf wenige Ausnahmen unbekannt. Positiv verbinden die Menschen Musik mit Roma und Sinti. Django Reinhardt, Swing … vielleicht kennen die jungen Leute Sido oder …

Romeo Gitano: … Menuwin Fröhlich vielleicht noch. Aber ansonsten spukt dieses Bild vom Straßenbettler am Frankfurter Hauptbahnhof im Kopf herum: „Was du gebe …“

Romeo Franz: Ich bin 1996 zur Arbeit gekommen, du 1993. Dein Vater war Überlebender, meine Mama auch. Wir haben eine ähnliche Sozialisation. Unsere Biografien sind ähnlich. Kennst du auch das Gefühl – und davon will ich jetzt wegkommen –, immer in der Rechtfertigungsrolle zu sein? Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mich rechtfertigen muss …

Romeo Gitano: Wofür?

Romeo Franz: Ich bin in der Pflicht, mich zu erklären. Du forderst doch sonst auch niemandem ab, zu erklären, woher er kommt. „Was sind Sie denn?“ Was würde passieren, wenn wir nicht mehr erklären, wer wir sind? Ich denke, wir brauchen einen neuen Begriff. Ich habe diesen Doppelbegriff „Sinti und Roma“ immer kritisch gesehen. Das ist eine Ethnisierung, die falsch ist.
Wir sind als Sinti eigenständig, auch Roma sind nicht homogen. Du kannst die spanischen Calé nicht mit den rumänischen Roma oder die französischen Manouche nicht mit den in Finnland oder Schweden lebenden Roma oder den Ex-Jugos vergleichen. Darum habe ich lange nach einem Begriff gesucht, mit dem ich umgehen und das Ganze auf eine andere Stufe stellen kann. Als ich im Mai auf meinen Reisen in Europa mit unseren Menschen gesprochen habe, habe ich bewusst gefragt: „Hal du Romno?“ Jeder hat das verstanden. Darin erkenne ich mich. Das heißt, du fühlst dich deiner Kultur zugehörig, identifizierst dich mit ihr. Es bedeutet, dass jemand nach unseren Regeln und Traditionen lebt. Du kannst Sinto oder Sinteza sein, aber du musst nicht nach der Romno-Kultur leben. Du kannst leben wie ein Gadjo, wenn du willst.

Romeo Gitano: Aber es kann doch unterschiedlich sein, was Romno für uns bedeutet oder für jemanden, der auf dem Balkan beheimatet ist.

Romeo Franz: Das war genau der Punkt, den ich untersuchen wollte. Ich war in Rumänien, in Bulgarien, in Serbien, im Kosovo, in Spanien, in Portugal. Jeder hat diese Worte benutzt: „Me sum Romno.“ Das hat etwas mit der Kultur zu tun – deshalb kam ich drauf: Wir sind Menschen mit Romno-Hintergrund. Die Frage der Nationalität ist dann nebensächlich. Ich habe einen Begriff gefunden, der alle eint.
Cornelia Wilß: Ist das Wort „Romno“ in allen Roma-Sprachen das gleiche?
Romeo Franz: Seltsamerweise ist es so. Das Wort „Romno“ gibt es in allen Roma-Sprachen. Auch Rom und Romni, also die Bezeichnung für Mann und Frau, ist in allen Roma-Sprachen gleich.

Romeo Gitano: Mit der Sprache ist das so eine Sache. Wir haben zu Hause Deutsch gesprochen. Wenn ich Romanes spreche, was ganz selten vorkommt, klingt es für mich selber manchmal fremd. Deshalb spreche ich Deutsch. Als ich im Verein gearbeitet habe, haben die Leute auf Romanes mit mir geredet, und ich habe auf Deutsch geantwortet. Warum antwortest du immer auf Deutsch? Ich weiß es nicht. Bei meiner Schwester ist es ganz anders. Sie spricht überwiegend Romanes. Ich habe mich mit unserer Sprache erst richtig auseinandergesetzt, als ich zwölf, 13 Jahre alt war. Damals habe ich begonnen, mich überhaupt mit unseren Sitten und Gebräuchen zu beschäftigen. Das war in der Zeit, als wir wieder auf Reise fuhren.
Als Kinder sind wir mit anderen Sinti gar nicht in Berührung gekommen. Meine Freunde waren alle Deutsche. Ich weiß noch, wie mein Vater sich über mein schlechtes Romanes lustig gemacht hat. „Romano, was heißt denn schuka Jaka?“ Ich habe geantwortet: „Zieh die Jacke aus!“ „Das heißt aber schöne Augen.“ Darüber lachen die in meiner Familie noch heute.

Cornelia Wilß: In welcher Sprache unterhalten Sie sich untereinander in Ihrer Familie?

Romeo Gitano: Das erste Mal war ich mit 25 verheiratet, mit einer Sinteza, und ihre Leute haben zu Hause nur Romanes gesprochen. Da hast du keine Chance … (lacht), da musst du durch. Das Problem ist: Meine Mutter ist keine Sinteza. Deshalb haben wir zu Hause Deutsch gesprochen. Mein Vater war auch in dieser Sache sehr modern eingestellt. Wenn er mit anderen Sinti zusammen war, hat er natürlich Romanes gesprochen. Uns hat er Romanes nicht wirklich beigebracht. Bei meiner jetzigen Frau ist es auch so. Ihr Vater ist Sinto, ihre Mutter ist keine Sinteza. Sie versteht auch alles, kann auch Romanes sprechen, aber sie hat Angst, es zu tun, weil sie keine Fehler machen will. Wie verfahren wir jetzt mit den drei Kindern zu Hause? Wir möchten, dass sie nicht die gleichen Erfahrungen machen wie wir, und würden ihnen gern Romanes beibringen. Aber wenn wir es versuchen, dauert es keine zwei Minuten, bis wir wieder Deutsch sprechen. Das ist ein Problem, Romeo, das beobachte ich bei vielen Sinti in Deutschland. Es ist so schade, dass das alles verloren geht. Im schlimmsten Fall werden unsere Kinder Romanes noch nicht einmal mehr verstehen und ihre Kinder schon gar nicht.

Romeo Franz: In Mannheim gibt es eine Schule, die auf Romanes unterrichtet, nur für Sinti. Die Lehrer dort haben auch Lernmaterial entwickelt.

Romeo Gitano: Das wäre eine Möglichkeit für uns. War es bei dir anders, Romeo?

Romeo Franz: Nein. Meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sind zwar alle Sinti – ohne Gadje dazwischen –, dennoch haben wir zu Hause nur Deutsch gesprochen. Wir sind auch dazu angehalten worden, Deutsch zu sprechen, wenn wir rausgingen, um nicht aufzufallen. Wenn Besuch kam, haben wir natürlich Romanes gesprochen. Kaum war der wieder weg, haben wir auf Deutsch umgeswitcht. Als Kinder haben wir die Sprache nur durchs Hören aufgenommen.

Romeo Gitano: Also, beigebracht hat’s dir keiner.

Romeo Franz: Wenn wir dann Romanes gesprochen und einen Fehler gemacht haben, dann haben sie uns ausgelacht. Wir sind ja auch auf die Reise gefahren, das heißt, im Sommer, wenn Ferien waren, wurde der Wohnwagen angehängt, und dann sind wir weggefahren und mit anderen zusammengestanden.
Cornelia Wilß: Das ist es also, was ihr als „auf Reise fahren“ bezeichnet.

Romeo Gitano: Das ist unsere Tradition. Leider ist sie heute fast ausgestorben.

Romeo Franz: In diesen sechs bis acht Wochen im Sommer stand man nicht immer an einem festen Platz, man ist auch zusammen herumgefahren in Österreich, Frankreich, Italien. Viele Sinti, mit denen wir unterwegs waren, haben Romanes gesprochen. Denen wolltest du als Kind ja in nichts nachstehen. Später konnten wir dann irgendwann ganz gut Romanes. Meine Großeltern haben penibel darauf geachtet, dass wir die Sprache richtig sprechen, und Wert darauf gelegt, möglichst keine deutschen Wörter zu verwenden, also kein umgangssprachliches Romanes zu sprechen, keine „Faulwörter“ zu benutzen wie Stuhlo oder Glaso. Sie haben so perfekt wie möglich echtes Romanes gesprochen.
Cornelia Wilß: Sie haben die Hochsprache gesprochen … In der Alltagssprache hingegen bildet man Analogien zwischen deutschem Wortstamm und Romanes, indem man eine Endung aus dem Romanes anhängt.
Romeo Franz: Ja, so ungefähr. Nehmen wir ein Beispiel: „Pass auf, es brennt an.“ Manchmal hört man dann auf Romanes dafür „brendela“. Doch das Wort „brendela“ gibt es gar nicht; das ist eine Anlehnung an die deutsche Formulierung „es brennt“, an die einfach die Endung „la“ angehängt wird. Aber es gibt ein Wort in Romanes dafür; richtig heißt es „chatschela“.
Als ich dann mit 17, 18 Musik gemacht habe, bin ich mit Sinti zusammengekommen, die alle Romanes gesprochen haben. Gezwungenermaßen hast du dich dann angestrengt. Seitdem versuche ich, Romanes bewusster und so rein wie möglich zu sprechen. Auch in der Erziehung meiner drei Kinder achte ich auf eine gute Ausdrucksweise in unserer Sprache.
Cornelia Wilß: Sie sind beide Sänger. Bringen Sie Musik und Romanes zusammen? Haben Sie darüber schon mal nachgedacht? Die Sprache klingt so angenehm und melodisch.

Romeo Gitano: Für mich hat sich dafür noch keine Gelegenheit ergeben, doch ich würde es nicht ausschließen. Es gibt sehr gute Musiker, die auf Romanes rappen.

Romeo Franz: Ich singe Lieder auf Romanes, alte Lieder von Schnuckenack Reinhardt und eigene Kompositionen. Romanes ist sehr gut singbar. Es bietet sich dafür eher an als Deutsch.

Romeo Gitano: Ja, Deutsch ist eine harte Sprache. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wenn du zum Beispiel Soul machst, wie schwer es ist, die richtigen Wörter zu finden, damit es nicht nach Schlager klingt.

Romeo Franz: Romeo, wenn du jetzt zurückdenkst, bist du sehr mit Antiziganismus konfrontiert worden?

Romeo Gitano: Nein, eigentlich nicht.

Romeo Franz: Hat dein Vater dich davor geschützt?

Romeo Gitano: Nein, ich habe nichts Schlechtes erlebt.

Romeo Franz: Hast du einen sicheren Raum?

Romeo Gitano: Wie meinst du das?

Romeo Franz: Diese Worte höre ich oft von Menschen, die zum Beispiel in einem Viertel leben, in dem nur Sinti wohnen.

Romeo Gitano: Nein, überhaupt nicht. Ich bin in Bassum, einer kleinen Bremer Vorstadt, aufgewachsen. Zu der Zeit lebten dort nur eine türkische Familie, eine griechische Familie – die hatten ein Restaurant wie immer – und wir.

Cornelia Wilß: Sind Sie auch nicht in der Schule mit Antiziganismus in Berührung gekommen?

Romeo Gitano: Bei der Einschulung gab es so eine Situation. Der Schulleiter, ein Alt-Nazi, hat meine Mutter gefragt, ob wir Deutsch können. Da hat meine Mutter ihm Kontra gegeben, und dann war die Sache erledigt.

Cornelia Wilß: Liegt es an Bremen? Diese Stadt ist ja schon lange multikulturell, um dieses Wort zu gebrauchen.

Romeo Gitano: Ja, das glaube ich auch. Ich habe die Bremer immer als aufgeschlossen erlebt. Ich bin mein ganzes Leben lang noch nie angegriffen worden.

Romeo Franz: Ist die Geschichte deines Vaters ein Teil von dir?

Romeo Gitano: Auf jeden Fall.

Romeo Franz: Hat dich das in deinen Entscheidungen, in der Art, wie du lebst, in deiner Musik, in deinem Beruf, in deinem Verhalten beeinflusst?

Romeo Gitano: (zögert) Bestimmt hat es mich beeinflusst, auch wenn es mir nicht immer bewusst ist. Bestimmte Sichtweisen habe ich übernommen. Bestimmte Dinge kommen immer wieder durch. Ich bin davon überzeugt, dass das Trauma, das unsere Menschen durchlitten haben, in uns Kindern weiterlebt. Es war mein Vater, der das alles erlebt hat.

Romeo Franz: Ja, posttraumatisch. Hast du auch Angst vor Uniformen?

Romeo Gitano: Immer noch. Ja.

Romeo Franz: Das ist doch Wahnsinn. Sobald wir welche gesehen habe, wenn wir auf Reise waren oder selbst wenn der Postbote kam, war alles in Aufruhr. Wenn jemand eine Uniform trug, waren alle angespannt.
Cornelia Wilß: Man kann in Deutschland im Moment wieder Dinge sagen, die in meiner um 1960 geborenen Generation undenkbar waren. Im kollektiven Bewusstsein meiner Generation spielte die Frage unserer Schuld und Verantwortung gegenüber den Verbrechen der Nationalsozialisten eine entscheidende Rolle. Es gab eine gewisse Hoffnung, dass Deutschland sich wandeln und das Deutschnationale sich nicht mehr unter uns breitmachen würde. Ich habe den Eindruck, dass sich das gerade verändert. Das ist ein zutiefst beunruhigendes Gefühl. Wie nehmen Sie das wahr?

Romeo Gitano: Ja, das beunruhigt mich auch. Es ist ja wirklich so, dass sie sich wieder trauen …

Cornelia Wilß: Vieles scheint nur geschlummert zu haben, um jetzt umso lauter loszuschreien. Viele, die lange still waren, scheinen jetzt ein Ventil für sich zu finden, um mit der alten Bundesrepublik abzurechnen.

Romeo Gitano: Mein Vater hat immer gesagt: „Nehmt euch in Acht!“ Ich habe meinen Vater auch danach gefragt, wie das passieren konnte. Ich finde den folgenden Spruch so toll, deshalb habe ich ihn heute auf Facebook gepostet: „Jahrzehntelang haben sie die Kriegsgeneration gefragt, wie das alles passieren konnte. Jetzt glauben sie jeden Mist aus dem Internet, schimpfen auf die Lügenpresse, verachten das Politiker-Pack, pöbeln gegen Flüchtlinge und wählen AfD. So passiert das.“

Romeo Franz: Genau so! Das Schlimme ist, dass man sich an diese rechtsnationale Ideologie, die vor einigen Jahren Überraschung und Scham ausgelöst hat, inzwischen gewöhnt hat. Die AfD-Sprüche sind im Mainstream angekommen.

Das Gespräch führten Romeo Franz und Cornelia Wilß

Gespräch aus: Romeo Franz, Cornelia Wilß (Hg.): „Mare Manuscha – Innenansichten aus Leben und Kultur der Sinti & Roma“, Mit freundlicher Genehmigung © Edition Faust, Frankfurt am Main 2018

Letzte Änderung: 30.08.2021

Ewald Hanstein | © Foto: Foto: privat

Wir treffen den Sänger und Songwriter Romeo Gitano an einem kalten Februartag 2018 in einem Vorort von Darmstadt. Er hat uns in eine türkisch geführte Pizzeria gebeten. Das Angebot reicht von Pizza bis Döner Kebap und Fritten. Das Lokal war früher einmal ein kleines deutsches Café und ist am frühen Abend in dieses spezielle grelle Neonlicht getaucht, das ein wenig an die Stimmung in einem Stehimbiss an einem beliebigen Bahnhof an einem beliebigen Ort in Deutschland erinnert. Die Bedienung ist zuvorkommend. Man kennt den durchtrainierten selbstbewussten Mann, der um die Ecke wohnt und ab und an vorbeikommt. Sprüche gehen hin und her; Romeo Gitano hat Humor und Charme. Er kann über sich selbst lachen, wenn er türkischen Chai bestellt und zur Antwort bekommt, Chai sei Selbstservice, und er ein bisschen kokett nachschiebt, dass der Inhaber doch bei ihm eine Ausnahme machen könne, schließlich sei er ein VIP.

Mit bürgerlichem Namen heißt der Künstler Romeo Hanstein. Sein Vater ist Ewald Hanstein, der sich als Überlebender des Holocaust zeit seines Lebens in der Bürgerrechtsarbeit von Sinti und Roma in Deutschland einsetzte. Der 1924 geborene Sinto Ewald wuchs behütet bei seinen Großeltern in Breslau auf. Als es dort nach der Machtergreifung Hitlers 1933 für die kleine Sinti-Gemeinde unsicher wurde, wanderte die Familie nach Berlin aus. Sie ahnte nicht, dass die Reichshauptstadt wegen der bevorstehenden Olympischen Spiele 1936 systematisch „zigeunerfrei“ gemacht werden sollte. Die Familie kam ins Sammellager Marzahn. Von dort konnte der junge Ewald vor Beginn der reichsweiten Deportationen im März 1943 noch kurze Zeit im Berliner Untergrund untertauchen. Nach seiner Ergreifung wurde er ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht. Aus dem „Zigeunerfamilienlager“ schaffte es der Zwanzigjährige Anfang August auf den letzten Transport nach Buchenwald.

„Die im Lager zurückgebliebenen Frauen, Kinder, Alten und Schwachen sahen uns und liefen zum Zaun. Es waren fast 2.900 Menschen. Unter ihnen meine Mutter und meine noch lebenden Geschwister. Der Zug setzte sich in Bewegung, die Schreie wurden mit jedem Meter leiser. Verstummt sind sie bis heute nicht.“ Nachzulesen ist die Lebensgeschichte des Bremer Sinto in der von Ralf Lorenzen behutsam aufgezeichneten Biografie Meine hundert Leben. Der Titel spielt darauf an, dass Hanstein die übermenschliche Kraft hatte, drei Konzentrationslager – Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Mittelbau-Dora –, den Todesmarsch und den Verlust seiner Freunde und seiner Familie zu überleben. Wegbegleiter und Menschen, die ihn trafen, beschreiben ihn als einen Mann mit leiser Stimme, der alle in seinen Bann zog, wenn er zu sprechen begann.

Romeo Gitano, sein Sohn aus zweiter Ehe, ist ihm nahe gewesen, erzählt der Sänger, Rapper und Entertainer in unserem Gespräch. Wie sein Vater – Ewald Hanstein hat zeitlebens Gitarre gespielt – liebt er die Musik, wie sein Vater kämpft er für Entschädigung und für Bürgerrechte in den Sinti-Vereinen in Bremen und Bremerhaven. Romeo Gitano, dessen Künstlername eine Reminiszenz an die spanischen Gitanos ist, wuchs in der kleinen Stadt Bassum in der Nähe von Bremen auf. Nach dem Tod des Vaters 2009 brach er seine erfolgreiche Karriere als Musiker ab. Zehn Jahre danach, sagt er uns, der noch in seiner Wahlheimat Bremen gemeldet ist, aber seit fünf Jahren mit seiner Frau und seinen Kindern in Darmstadt lebt, möchte er wieder Musik machen. Für sich – einfach sein Ding machen.

Mare Manuscha. Innenansichten aus Leben und Kultur der Sinti & Roma | © Foto: Alexander Paul Englert

Cornelia Wilß Mare Manuscha. Innenansichten aus Leben und Kultur der Sinti & Roma

Broschur, 248 Seiten. Vierfarbig
Mit Fotografien von Alexander Paul Englert
ISBN 978-3-945400-57-9
Edition Faust, Frankfurt am Main, 2018

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