Formen und Farben
Imrich Tomáš hat zunächst in großen Formaten gemalt, betrieb also Tafelmalerei im Gegensatz zur Färbung dreidimensionaler Objekte aus Hanf oder Kunstharz, die seine späteren Schaffensphasen kennzeichnen. Was für einen Einfluss hatte die Tatsache, dass er ein Rom war, auf seine künstlerische Tätigkeit? Cornelia Wilß und Romeo Franz haben vor ein paar Jahren mit dem Berliner Künstler gesprochen, der jetzt gestorben ist.
_„Als Maler ist man Komponist, Dirigent und Interpret zugleich,
auf gewisse Weise ist man freier“_
Imrich Tomáš
Bei Recherchen zu dem Buch „Mare Manuscha* bin ich dem Maler Imrich Tomáš mehrmals in Berlin begegnet. Anlass waren die Gespräche mit dem Künstler, die Romeo Franz und ich gemeinsam führten, und ein Besuch, gemeinsam mit dem Fotografen Alexander Englert, der den Maler in seiner Wohnung portraitierte.
Imrich Tomáš sprach gerne über den künstlerischen Aufbruch im Berlin der frühen siebziger Jahre, über seinen Stadtteil Kreuzberg und das Finden von Form und Freiheit im künstlerischen Schaffensprozess. Er verglich den Jazz, besonders die musikalischen Strukturen des Free Jazz, mit der Hinwendung zur abstrakten Malerei. Die zeitgenössische bildende Kunst bot Tomáš den Raum, neue Formen zu erobern, und in der Abstraktion zeigte sich ihm ein Weg auf, unsichtbare, in der Erfahrung des eigenen Lebens wurzelnde Grenzen zu überwinden.
Angesprochen auf seine familiäre Herkunft, bezeichnet sich Tomáš als Freigeist. Er ließ sich nicht in Kategorien pressen; sein Streben galt der Vollkommenheit in seinen Werken. Im Gespräch erzählte er gerne, dass es Monate, ja Jahre dauerte, bis er mit einem Werk zufrieden sei. Tomáš, der als Meisterschüler an der Berliner Universität der Künste studiert hatte, arbeitete bevorzugt mit Materialien wie Hanffasern, Pigment und Kunstharzen und kreiert „Bildkörper“, wie es seine Galerie beschreibt.
Mit „Kai Dikhas“ arbeitete Imrich Tomáš seit 2011 zusammen. Seine Werke waren in Spanien, Frankreich und Tschechien zu sehen. Moritz Pankok, sein Galerist, widmete dem Künstler drei umfangreiche Ausstellungen: „Fernweh. Fragmente“ (2012), arakhelpes (Begegnung, 2018), gemeinsam mit dem Freund Alfred Ullrich, und zuletzt die aktuelle Ausstellung „Retrospektive. Mein Leben im West Berlin“.
Im Februar starb Imrich Tomáš jetzt nach langer Krankheit in Berlin. Sein Widerspruchsgeist, seine Ironie, seine Feinsinnigkeit und sein unbedingter Drang danach, ein freier Mensch zu sein, werden in Erinnerung bleiben.
Mit Auszügen aus dem 2018 geführten Gespräch möchten wir des Künstlers Imrich Tomáš gedenken.
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Cornelia Wilß: Herr Tomáš, wo sind Sie aufgewachsen?
Imrich Tomáš: Ich bin 1948 in Dobrá in der Ostslowakei geboren worden. Der Ort existiert heute nicht mehr. Er wurde geflutet, als dort ein Stausee entstand. Aufgewachsen bin ich aber in der Tschechei. Meine Eltern sind dorthin ausgewandert, um Arbeit zu finden. Sie waren einfache Leute. Aber ich wollte als Jugendlicher immer nur weg von dort, nur weg!
Cornelia Wilß: Warum?
Ich verspürte schon als junger Mensch einen gewissen Druck im Rücken, nach vorn gehen zu müssen. In meinem Fall bedeutete das: weg vom Sozialismus, weg vom Regime! Ich war nicht bei den Pionieren, wurde von Gleichaltrigen oft ausgegrenzt, stand allein herum. In der Schule wurde man verprügelt, weil man ein „Zigeuner“ war. Ein romantisches Zigeunerleben war das nicht. Immer hatte ich das Bild vor Augen, dass ich irgendwann einmal als „Zigeuner“ mit der Schaufel in der Hand würde arbeiten müssen. Eine solche Zukunft wollte ich nicht für mich. Ich wollte etwas Künstlerisches machen. Leider bin ich nicht so musikalisch wie meine Mutter und meine Geschwister. Manchmal habe ich Neid empfunden, weil ich die Musikalität, die sie hatten, nicht mit auf die Welt gebracht hatte. Dabei liebe ich Musik. Aber schon als Jugendlicher begann ich, mich für die Malerei zu interessieren. Farben und Formen waren die Noten, die ich gestalten konnte.
Cornelia Wilß: Sie sind 1969, in einer Aufbruchszeit, als zwanzigjähriger junger Mann nach Westdeutschland gekommen. Haben sich Ihnen dort neue Horizonte eröffnet?
Zuerst war ich zusammen mit meiner Schwester und meinem Schwager über ein Jahr im Allgäu. Im schönen Allgäu war allerdings nicht viel von der Aufbruchsstimmung zu spüren. In Berlin habe ich neu angefangen. In der ersten Zeit war ich als Hilfsarbeiter in einer Maschinenfabrik in Tempelhof angestellt und wohnte in einem Wohnheim für Ausländer.
Um der Alltagstristesse zu entkommen, besuchte ich abends die Volkshochschule. Ein Maler dort gab mir Zeichenpapier und Kohle, und ich zeichnete, einfach von der Hand. Die Zeichnungen waren ziemlich gut, und ich konnte sie in der legendären Kreuzberger Kneipe „Nulpe“ ausstellen. Dadurch bekam ich Kontakt zur Kunstszene.
Zwischen Tempelhof und Kreuzberg zu pendeln war schon eine Kunst für sich. Die Stadtteile unterschieden sich vollkommen. Kreuzberg stand damals für Bohème-Leben. Die Szene traf sich regelmäßig in der „Nulpe“ zu Konzerten und Ausstellungen. Endlich fühlte ich mich in Berlin angekommen und lernte viele Musiker, Maler, Philosophen, Schauspieler und Lebenskünstler kennen. Dort haben sich tatsächlich neue Horizonte eröffnet. Doch irgendwann begriff ich, dass ich als Autodidakt nicht das erreichen würde, was ich wollte. Deshalb bewarb ich mich 1974 an der Universität der Künste in Berlin und wurde angenommen. 1980 schloss ich mein Studium im Fachbereich Bildende Künste mit der Meisterschüler-Auszeichnung bei Professor Horst Hirsig ab. Ja, ich war auf eine gewisse Art stolz, dass ich es geschafft hatte.
Cornelia Wilß: Halten Sie es für richtig, von Roma-Künsten zu sprechen?
Ich distanziere mich nicht von meiner Herkunft. Ich bin gern unter Roma und Sinti. Aber wir dürfen gerade als Künstler nicht dabei stehen bleiben und uns in eine ethnische Schublade stecken lassen. Wichtig allein sind die Besonderheit, vielmehr die Eigentümlichkeit des Künstlers und die künstlerische Qualität. Ich habe einen hohen Anspruch an die Professionalität in der Kunst. Ob ein Mensch ein guter Maler ist, hängt doch nicht von seiner ethnischen Herkunft ab. Die zeitgenössische bildende Kunst hat mit Folklore nichts zu tun, sondern macht dich zum Eroberer neuer Formen.
Cornelia Wilß: Herr Tomáš, kommen wir konkret auf die Ausstellung hier in der Galerie zu sprechen. Ihr Galerist Moritz Pankow hat uns erklärt, dass Ihre Werke hier eigentlich gar keine Gemälde sind. Er sprach von Objekten und davon, dass Sie ein eigenes Medium gefunden habe. Wenn man sich die Exponate genauer anschaut, erkennt man, dass sie Tiefe haben und eher Reliefen ähneln. In einer früheren Schaffensphase lag Ihr Fokus mehr auf großer, flächiger Malerei, der sogenannten Tafelmalerei. Was hat sich verändert?
Ich habe mich weiterentwickelt. Die großen Formate, die Sie ansprechen, sind in der Tschechei entstanden. Nach der Maueröffnung war ich noch einmal dort und habe an einer Art von Netzbildern gearbeitet. Aber das hat mir irgendwie nicht mehr genügt, weil ich ein dreidimensionales Volumen schaffen wollte. Da bin ich auf Hanf gekommen. Hanf ist etwas, was organisch wächst, etwas Energetisches. Ich kann damit einen unmittelbaren Bezug zur Natur herstellen.
Cornelia Wilß: Wie arbeiten Sie mit dem Material Hanf?
Den Hanf ordne ich an zu einem organischen Netz beziehungsweise zu einer abstrakten Form, die ich Schicht für Schicht bearbeite. Das Material wird befeuchtet, in Form gebracht und dann wieder getrocknet. Hanf bietet mir die Möglichkeit, Ebenen und Strukturen herauszubilden und ihn so zu gestalten, dass eine dritte Dimension entsteht. Die Bilder haben ihre eigene Gesetzmäßigkeit. Ihr Zustand verändert sich, weil das Material organisch ist. Das sind künstlerische Prozesse, die manchmal Jahre dauern können, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden bin.
Romeo Franz: Du hast die Diskriminierung, die dich als Kind gequält hat, erwähnt. Glaubst du, dass deine Kunst heute genau so aussehen würde, wenn du als Rom keine Ausgrenzung erlebt hättest?
Wahrscheinlich nicht, denn ich habe jede Ungerechtigkeit und jede Arroganz, die ich nicht einfach hinnehmen wollte, körperlich gespürt. In mir hat immer eine besondere Form von Energie geschlummert, die auf Befreiung zielt. Ich wusste sehr früh schon, dass ich meinen eigenen Weg finden musste und dass in mir mehr steckte als ein Sonderschüler, zu dem ich deklariert wurde.
Leider bekam ich von meiner Familie als Kind nicht viel Unterstützung, was die schulische Bildung betraf – dafür aber wurden meine Sensibilität und meine visuelle Begabung nie unterdrückt. Das ist etwas Individuelles, das nicht jeder Mensch in sich trägt. Ich habe diese Kraft von Geburt an. Ich habe immer alles vom Beobachten her erzählt. Wenn ich jemandem etwas erklären wollte, habe ich es gezeichnet. Namen vergesse ich sofort, aber Gesichter und Mimiken vergesse ich nie, das ist meine Stärke. Ich habe immer nach dem Besonderen gesucht.
Romeo Franz: Ich habe Musik auf zweierlei Art gelernt: auf die klassische und auf die traditionelle. Aber ich hatte immer ein Problem, wenn ich etwas vom Blatt spielen sollte. Ich konnte das zwar, habe aber anders interpretiert als von mir erwartet. Das hat den Dirigenten wahnsinnig gemacht. Bin ich ein Interpret? Oder bin ich völlig frei? Wenn ich etwas anders interpretiere, mache ich dann keine hochwertige Kunst? Wie siehst du das?
Gerade die eigene Interpretation macht die Kunst hochwertig. Wenn immer alles gleich interpretiert wird, ist es nach dem x-ten Mal langweilig und gewöhnlich. Als Maler ist man Komponist, Dirigent und Interpret zugleich, auf gewisse Weise ist man freier. Für mich geht es darum, Perfektion in meinen Werken zu erreichen. Es muss harmonieren und zu einer Ganzheit verschmelzen.
Das Gespräch führten Romeo Franz und Cornelia Wilß.
Gesprächsauzug aus: Romeo Franz, Cornelia Wilß (Hg.): „Mare Manuscha – Innenansichten aus Leben und Kultur der Sinti & Roma*
Mit freundlicher Genehmigung © Edition Faust, Frankfurt am Main 2018
Letzte Änderung: 30.08.2021
Cornelia Wilß Mare Manuscha. Innenansichten aus Leben und Kultur der Sinti & Roma
Broschur, 248 Seiten. Vierfarbig
Mit Fotografien von Alexander Paul Englert
ISBN 978-3-945400-57-9
Edition Faust, Frankfurt am Main, 2018